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Vom Osmanischen Reich zur Türkischen Republik


Zum Verständnis der gesellschaftlichen Situation, in der sich der Kemalismus als die prägende Kraft der Türkischen Republik an die Stelle des Islams setzte, muss zuerst auf wichtige Stationen der späten osmanisch-türkischen Geschichte eingegangen werden.
Der zunehmende Machtverlust des Osmanischen Reiches veranlasste im 18./19. Jh. einige Sultaane zu Reformen, die vor allem auf einen Ausgleich des militärischen und technischen Rückstandes abzielten. Größere gesellschaftliche Bedeutung hatten die Tanzimat-Reformen von 1839 und der Erlass von 1856 (Hatt-ı Hümâyûn), die eine rechtliche Gleichstellung der Untertanen und die Sicherung von Grundrechten zum Ziel hatten. Die gewaltigen Gebietsverluste auf dem Balkan und in Nordafrika während der zweiten Hälfte des 19. Jhs. ließen eine Konsolidierung kaum zu. Verstärkt wurden die gesellschaftlichen Spannungen durch das Aufkommen nationalistischer Bestrebungen: erst bei den christlichen Untertanen (Griechen, Bulgaren, Serben, Armenier), dann bei nicht-türkischen Muslimen (Araber, Albaner), um dann gegen die Wende zum 20. Jh. auch bei den staatstragenden Türken Fuß zu fassen.

Die Regierungszeit des Abdülhamit II. (1876-1909) stellt die Epoche der großen ideologischen Umbrüche dar: Staatlich wurde der Panislamismus gefördert – der Versuch, auch die außerhalb des Osmanischen Reiches lebenden Muslime an eine wiederbelebte Chilaafah zu binden. Daneben wurden verstärkt Modernisierungsmaßnahmen (Hidschaaz-Bahn, Universität von Istanbul) eingeleitet. Die neu entstandene, oft durch Studienaufenthalte in Europa westlich geprägte Schicht von Intellektuellen bildete die Opposition, hatte jedoch wenig Spielraum zur Artikulation. Im türkischen Bevölkerungsteil bildeten sich verschiedene ideologische Integrationskonzepte zur Rettung des Reiches vor dem drohenden Zusammenbruch. Die wichtigsten waren:

a.) Panislamismus (mit reformerischen Tendenzen), der die Verluste auf dem Balkan durch eine Einheit der muslimischen Völker unter Leitung des osmanischen Sultaan/ Chaliifah wettmachen wollte;

b.) Osmanismus, der die Schaffung einer überkonfessionellen und überethnischen “osmanischen Nation” anstrebte – unabhängig von der Religionszugehörigkeit der Untertanen;

c.) verschiedene Spielarten des türkischen Nationalismus, die entweder eine Einheit mit den Turkvölkern Zentralasiens, oder – weiter gefasst – mit anderen “turanischen” Völkern, befürworteten. Die Vertreter europäischer liberaler und säkularistischer Gedanken verbanden sich dabei vor allem mit den letzten beiden Optionen, so z. B. Ziya Gökalp (gest. 1924), der als eigentlicher Vater des türkischen Nationalismus gilt und in seinen Gedichten und soziologischen Schriften westlichen Fortschritt mit einer idealisierten türkischen Volkskultur zu verbinden trachtete. 1

Maßgeblichen Einfluss erhielten seine Ideen nach der sogenannten “Jungtürkischen Revolution” 2, dem Putsch des “Komitees für Einheit und Fortschritt” (İttihad ve Terakki Fırkası) gegen Sultaan Abdülhamit II. im Jahre 1908. Dieser blieb nominell im Amt und musste die Verfassung wieder einsetzen, wurde jedoch 1909 endgültig abgesetzt und durch einen machtlosen Nachfolger ersetzt.

Zusammenbruch im Ersten Weltkrieg

Die euphorischen Hoffnungen auf Freiheit und gesellschaftliche Modernisierung, welche in die Jungtürken gesetzt worden waren, wurden durch den Balkankrieg 1912 und den verlorenen 1. Weltkrieg endgültig zerstört. Im Weltkrieg standen die Osmanen mit ihren Verbündeten (Deutsches Reich, Österreich-Ungarn) den Westmächten (England, Frankreich, aber auch Russland, das durch die Oktoberrevolution 1917 ausschied) gegenüber.
Das Deutsche Reich hatte Ambitionen, zusammen mit dem Osmanischen Reich über den Balkan und die turksprachigen und muslimischen Gebiete Zentralasiens den russischen Einfluss zurückzudrängen. Außerdem wollte man die Weltherrschaft Großbritanniens durchbrechen, welches sich in Ägypten und Indien festgesetzt hatte.
In den ersten Kriegsjahren gab es einige beachtliche Erfolge der Osmanen. So schafften sie es, in der legendären Schlacht von Çanakkale (Gelipoli) den Alliierten den Zugang zu den Dardanellen (Meerenge an der Verbindung von Mittelmeer/Ägäischem Meer zum Marmara-Meer) zu verwehren. Die britische Flotte hätte damit ungehindert Istanbul bedrohen können. In verlustreichen Kämpfen starben über 50.000 unzureichend ausgerüstete osmanische Soldaten – aus allen Völkern des Reiches. 3 Bis heute gilt die Schlacht von Çanakkale als identitätsstiftender Mythos der Türkei. Vergessen werden darf aber nicht, dass ein Großteil der Soldaten nicht so sehr von türkischem Nationalgefühl als von der Sorge um die letzte islamische Chilaafah (Kalifat) getragen wurde.

Der “arabische Aufstand”

Um die osmanische Armee an verschiedenen Frontabschnitten zu binden, versuchte Großbritannien, die Völker des Osmanischen Reiches gegeneinander auszuspielen. Eine besondere Rolle kommt dabei dem sog. “Arabischen Aufstand”/Revolution zu. Würde dieser gelingen, so die Kalkulation, wären die Osmanen an der militärischen Unterstützung der Deutschen in Europa gehindert. Dazu musste die Hidschaaz-Bahn, welche erst wenige Jahre vorher fertig gestellt worden war und welche die Orte der Pilgerfahrt mit dem Zentrum des Reiches verband, durchbrochen werden. Die Briten bedienten sich dabei der Unzufriedenheit einiger arabischer Stämme und der Eigeninteressen des in osmanischen Diensten stehenden Scharifen von Makkah, welcher selber mit dem Gedanken an eine neue – nun unter arabischer Führung stehenden Chilaafah – spielte.

Großbritannien konnte sich dabei auf Experten stützen, die in jahrzehntelanger Vorarbeit Geschichte, Politik, Tradition und ethnische Zusammensetzung des Orients erforscht hatten. Besonders bekannt wurde Thomas Edward Lawrence (1888-1935) als Lawrence von Arabien. 4 Er selber sprach fließend Arabisch und war persönlich sicher auch durch romantische Motive von der “wahren, unverfälschten Kultur” der arabischen Beduinen fasziniert, letztendlich aber ging es um handfeste Politik: Das osmanische Reich durch die Förderung von Zwietracht und Uneinigkeit zwischen Türken und Arabern innerlich zu schwächen.

Um eine ausgewogene Sicht zu erlangen, soll nicht übergangen werden, dass die weit verbreitete Unzufriedenheit mit der osmanischen Chilaafah keinesfalls unbegründet war. Stagnation, Angst vor Veränderungen, Korruption, das selbstgefällige Sich-Ausruhen auf einer angeblichen Überlegenheit gegenüber den Europäern, von denen man nichts zu lernen brauche, der zerstörerische Einfluss von sogenannten Islamischen Gelehrten und Bruderschaften, die den Menschen eine freie und selbstbewusste Erkenntnis des Islams verweigerten, um Macht auszuüben, waren gesellschaftliche Übel, die sich schon seit langem verbreitet hatten.

Der Niedergang der gesellschaftlichen und religiösen Institutionen war zahlreichen Reformgelehrten und Intellektuellen keinesfalls entgangen. Niemand, abgesehen von den Nutznießern der Korruption, war wirklich mit der Gesamtlage zufrieden. Alle ernsthaften Muslime strebten Veränderungen an. Die Frage war nur nach der dazu passenden Methode. Während viele, auch arabischstämmige Gelehrte, bis zum Schluss an der islamischen Solidarität festhielten, die Erziehung der Muslime und eine innere Stärkung anstrebten und einen Bruderkampf als illegitim und unislamisch ansahen, ließen sich andere von den Versprechungen der Kolonialmächte verleiten; mit dem Tenor: Arbeitet ihr mit uns gegen die “türkische Tyrannei”, bekommt ihr nach erfolgreichem Zusammenbruch der Chilaafah als Belohnung ein vereintes arabisches Königreich, das den Hidschaaz (Makkah, Al-madiinah), Irak und Syrien umfasst!

Die bittere Ironie an diesem Versprechen war, dass genau in dem Augenblick, als ein Teil der Muslime sich zum Verrat an der Chilaafah entschlossen hatte, die Geheimdiplomatie der Westmächte ein doppeltes Spiel einleitete. Engländer und Franzosen einigten sich mitten im Ersten Weltkrieg im sog. Syces-Pycot-Abkommen von 1917 darauf, die arabischen Aufständischen nach erfolgtem Verrat ihrerseits zu verraten. Statt eines vereinigten arabischen Reiches, solle der Nahe Osten in eine französische (Syrien) und englische (Jordanien, Palästina, Irak) Einflusssphäre aufgeteilt werden. Tatsächlich geschah dies auch nach dem endgültigen Sieg über die Osmanen. Von Syrien wurde weiterhin der Libanon aufgrund seiner christlichen Mehrheit abgetrennt. Am Ende stand ein halbes Dutzend von kleinen, geschwächten und untereinander auch zerstrittenen Staaten unter mehr oder weniger starkem Kolonialeinfluss. Auch die arabische Nationalbewegung musste erkennen, wie sie betrogen und instrumentalisiert worden war.
Eine weitere Folge des innermuslimischen Verrats wurde auch bereits im Ersten Weltkrieg eingeleitet. Gemäß der Balfour-Erklärung von 1917 sollte gegen den Willen der (christlichen und muslimischen) Araber eine jüdische Heimstädte in Palästina errichtet werden. Unter britischem Mandat stehend konnte die jüdische Einwanderung in Palästina so weit forciert werden, dass eine Generation später, im Jahre 1948, der Staat Israel ausgerufen und mit der Vertreibung der Palästinenser begonnen werden konnte. Die Ergebnisse des innermuslimischen Zwistes im Ersten Weltkrieg und die Kollaboration mit dem Kolonialismus haben also Resultate gezeitigt, unter denen die Ummah im Nahen Osten bis heute leidet.

Kriegsende und Kapitulation

Trotz des großen Erfolgs von Çanakkale gerieten die Osmanen und ihre deutschen Verbündeten immer mehr in die Defensive. Der Aufstand des Scharifen von Makkah und die Angriffe der Beduinen auf das Schienennetz der Hidschaaz-Bahn hatten die Truppen der Chilaafah gebunden. Verlustreiche Kämpfe gab es auch in Ostanatolien, so starben an der Kaukausus-Front bei Sarıkamış gegen die russische Armee 60.000 Soldaten in den Wintermonaten 1914/15.
1918 kam es zur bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches, Österreich-Ungarns und des Osmanischen Reiches. Deutschland wurden im Versailler Vertrag erdrückende Reparationen auferlegt. Durch die kaum zu tragende Last kam es zu einer Verweigerungshaltung gegenüber der neuen Weimarer Republik und dem Aufstieg des Nationalsozialismus, welcher eine Befreiung von der “Schmach” des Versailler Vertrags versprach. Die Königlich-Kaiserliche Monarchie wurde zerschlagen und das Reich in zahlreiche Nachfolge-Staaten aufgeteilt (Tschecho-Slowakei, Ungarn, das Königreich Jugoslawien, und das ehemalige Kernland Österreich).
Die Folgen für das Osmanische Reich waren ähnlich gravierend: Die Truppen der Siegermächte marschierten kampflos in Istanbul ein. Nach fast 500 Jahren war die Hauptstadt der Chilaafah nun von Nichtmuslimen besetzt. Die verantwortlichen Politiker des jungtürkischen Komitees Ittihad ve Terakki (“Einheit und Fortschritt”), welche das Osmanische Reich in die Katastrophe geritten hatten, waren geflohen. Auf Seiten der Muslime herrschte die Angst, nun zu einer Kolonie degradiert zu werden. Was wird mit dem Islam geschehen? Werden die Türken/Muslime zu Fremden im eigenen Land? Wird womöglich den Griechen, die damals ca. die Hälfte der Istanbuler Einwohner stellten, ihr Wunsch auf eine Wiederauferstehung des orthodoxen byzantinischen Reiches mit Hauptstadt Konstantinopel erfüllt? Wird die Aya-Sofia-Moschee zur Kirche Hagia Sophia? In der depressiven Stimmung von damals kursierten Verschwörungstheorien; das Schlimmste wurde erwartet. Für andere hatte schlicht der Islam versagt, Europa und damit das Christentum sich als “wahr” herausgestellt.
Ohnmächtig muss der letzte eigentliche Sultaan, Mehmed VI. Vahideddin (1918-22) 5, mit ansehen, wie englische und französische Truppen in Istanbul stationiert werden. Er ist praktisch ein Gefangener im Dolmabahçe-Schloss. Zwar wird er nach der Methode der britischen Kolonialherrschaft, die gerne traditionell gewachsene Strukturen (Monarchien, religiöse Autoritäten, Symbole) an ihrer Stelle ließ, um indirekt zu herrschen, äußerlich nicht angerührt, er ist jedoch zu einem Befehlsempfänger der Kolonialmächte herabgestuft. Seine Aufgabe soll es nun sein, die Bevölkerung zu kontrollieren und möglichen Widerstand der Muslime “im Namen des Islams und der Chilaafah” zu brechen. Dies geschah auch durch eine entsprechende Fatwa des Schaichul-Islam, der den Gehorsam gegenüber dem Chaliifah (und damit den Besatzungstruppen) zur religiösen Pflicht erklärte.
Hätte der Sultaan-Chaliifah damals überhaupt anders handeln können? Ohne eine militärische Basis kam er zu der realistischen Einschätzung, dass ihm kaum andere Optionen zur Verfügung standen. Hier entstanden nun mehrere ideologisch begründete Erklärungen seines Verhaltens:

a.) “Sultaan Vahidettin ist ein Verräter”. Die Chilaafah ist am Ende, das türkische Volk muss sich eigenständig von ihm und von der Besatzung befreien. Das ist die Sichtweise des sich nun entwickelnden Kemalismus. Noch wurde natürlich nicht offen zugegeben, dass man nicht nur dem Chaliifah, sondern auch der islamischen Gelehrsamkeit und dem Islam insgesamt die Schuld für den Zusammenbruch gab. Offen wurde dies erst später in der Republik rückblickend auf die Geschichte formuliert.

b.) Die Anhänger der Chilaafah, welche eine Befreiung von der Besatzung auf die Zukunft verschieben mussten. Es gibt jedoch Belege, dass der Sultaan selbst im Geheimen an der Organisation des anatolischen Befreiungskampfes beteiligt war oder mit ihm sympathisierte. Dass er sich dazu nicht offen äußern konnte, wenn er nicht noch den symbolisch wichtigen Sultaansthron verlieren wollte, ist offenkundig. Anhänger dieser Richtung argumentieren entschuldigend, dass Vahidettin die kapitulierende Zusammenarbeit mit den Siegermächten also weniger aus persönlicher Machtgier suchte, als vielmehr, um insgeheim den Zielen des Volksaufstands dienlicher zu sein. Eine offene Konfrontation mit Großbritannien hätte nach dieser Lesart mehr Schaden hervorgerufen.

c.) Einige liberale, pro-europäisch eingestellte osmanische Intellektuelle vertraten tatsächlich eine ablehnende Haltung gegen jeglichen Widerstand. Ihre Logik lautete ungefähr: “Durch unser korruptes Gesellschaftssystem und unsere Religion, die allen Fortschritt behindert, haben wir uns zu Recht als den Europäern unterlegen erwiesen. Jetzt sollen diese eine westliche Erziehungsdiktatur aufbauen. Wir sollten selbstkritisch unsere Fehler zugeben und an uns arbeiten. Wenn in einigen Generationen das Alte abgestorben ist, können wir wieder auf eigenen Beinen stehen und als moderne und mündige Nation in die Unabhängigkeit entlassen werden!” 6

Die Lage in Anatolien

Nach dem militärischen Verlust sämtlicher Gebiete außerhalb Anatoliens wurde im Friedensvertrag von Sèvres (1919) noch zusätzlich eine Aufteilung des verbliebenen türkischen Kernlands (bis auf Zentralanatolien) beschlossen. Neben Einflusszonen für England, Frankreich und Italien war der große Nutznießer Griechenland, das sich sofort an die Okkupation von Teilen der Westtürkei machte (Besetzung Izmirs 1919). Ein normal funktionierender Staat konnte aus den verbliebenen türkischen Territorien – den wirtschaftlich schwächsten – kaum werden.

Mustafa Kemal Atatürk

Aus lokalem, wenig koordiniertem Widerstand flammte der Freiheitskrieg auf, an dessen Spitze sich der osmanische General Mustafa Kemal Atatürk (1881-1938) stellte. Symbolische Bedeutung erlangt dabei das Jahr 1919, durch seine Fahrt vom Chilaafah-Sitz Istanbul nach Samsun am Schwarzen Meer: er hatte damit (angeblich) dem Chaliifah die Treue aufgekündigt, um selbstbewusst den Widerstand des noch nicht besetzten Anatoliens zu organisieren, obwohl dieser ihn genau (nach den Direktiven der Besatzungsmächte) zur Entwaffnung der verbliebenen osmanischen Armee-Einheiten entsandt hatte. Dieses Ereignis markiert den Beginn der Wende für die kemalistische Historiographie, die durch Atatürk persönlich inszeniert worden ist: So lässt Atatürk die Sammlung seiner späteren Ansprachen (Nutuk), welche für die subjektive Selbsteinschätzung des Kemalismus ein wichtiges Dokument darstellen, mit einer Beschreibung der militärischen Situation und der politischen Ausweglosigkeit genau an diesem Tag beginnen: Der Beginn seiner Ansprache kreist um die Begründung seines Schrittes, indem die Machtverhältnisse im Land und ihre Protagonisten dargestellt werden:

  • die selbstherrlichen Besatzer, die sich nicht an die Bedingungen des Waffenstillstands halten,
  • die jungtürkischen Kriegstreiber, welche sich ins Ausland absetzen,
  • der “niederträchtige”, um seinen Thron besorgte Chaliifah,
  • die christlichen Minderheiten, die auf die Zerstörung des Staates und ihre eigene Selbstständigkeit hinarbeiten und
  • die allerorts gegründeten Vereinigungen der Verräter, welche in Zusammenarbeit mit den Alliierten ihre eigenen Interessen gewahrt sehen wollen.

Diesen gegenüber stehen das führungslose verzweifelte Volk und die Armee, welche in ihrer Gutmütigkeit den Verrat ihrer Regierung nicht wahrhaben wollen. Die Alternativen, denen sich Mustafa Kemal gegenübersieht, lauten daher: “Unabhängigkeit oder Tod!” Diese Deutung, nach der sich die Nation vor der endgültigen Vernichtung befand, ist bis heute offizielle Geschichtsschreibung und unantastbarer Kern der kemalistischen Legitimationsstrategie für alle gesellschaftlichen Umwälzungen. Hinweise auf ein stillschweigendes Einverständnis der Istanbuler Regierung oder auf eine heimliche Zusammenarbeit mit dem Widerstand passen dabei nicht ins Bild. Im nichtbesetzten Zentral- und Ostanatolien entstanden die neue Armee und erste Strukturen der Republik. Nach dem Sieg über die griechischen Invasoren zogen sich die Alliierten zurück und erkannten im Frieden von Lausanne die 1923 ausgerufene Republik an.

Notes:

  1. 1910-11 begründete er die institutionalisierte Soziologie durch seine Lehrtätigkeit in Saloniki, dem Machtzentrum der jungtürkischen Bewegung. In den folgenden Jahren erhielt er den ersten Lehrstuhl für Soziologie am Darulfünun, der Universität von Istanbul. Coşkun (1991) 14ff.
  2. Jungtürkisch, eine Bezeichnung für eine Gruppe nationalistisch und pantürkisch/panturanisch orien­tierter Offiziere nach dem Titel der von ihnen in Paris herausgegebenen Zeitschrift La Jeune Turquie.
  3. Die Zahl der Gefallenen aller beteiligten Kriegsparteien betrug 250.000 – und damit die Hälfte der zum Einsatz kommenden Soldaten.
  4. Einen interessant zu lesenden Einblick in seine Biographie bietet Peter Thorau: Lawrence von Arabien: ein Mann und seine Zeit. München 2010.
  5. Nach ihm folgte lediglich Abdülmecid II., der bis in die Zeit der Republik (1924) eine nominelle Chilaafah ohne den Sultaanstitel bekleidete.
  6. Gegen diese Anhänger des britischen Mandats wendet sich folgerichtig auch Mustafa Kemal als Vater­landsverräter in seiner programmatischen Rechtfertigungsschrift „Nutuk“.