.
.

.

Der Islam in der Türkischen Republik


Wir nehmen unsere Inspirationen nicht vom Himmel oder aus dem Verborgenen sondern geradewegs aus dem Leben. (Mustafa Kemal Atatürk)

Unter den Umgestaltungen, welche die Türkische Republik unter Atatürk erlebte, nimmt der Laizismus eine herausragende Stellung ein. Es handelte sich jedoch nicht nur um eine Trennung von religiösen und staatlichen Angelegenheit, sondern teilweise um einen massiven Adaptionsversuch des Islams an die politischen Anschauungen der herrschenden Elite. Der Islam sollte nicht mehr als unabhängiges System, die gottgewollten Normen der Scharii’ah verkünden, sondern in die Gesellschaft integriert werden, um den Zielen des “nationalen Fortschritts” dienstbar gemacht zu werden. Dieser Fortschritt aber müsse sich den Westen zum Vorbild nehmen, denn er hatte durch seinen Sieg über das Osmanische Reich seine Überlegenheit bewiesen. Dem Islam gab man in Form seiner Gelehrten und des Schaichul-Islam die Schuld, die Nation nicht vor der Katastrophe bewahrt zu haben. Auch die anderen Muslime hätten sich nur als Verräter erwiesen, da sie letztendlich nur ihre eigenen nationalistischen Interessen vertreten hätten. Die vielen Muslime außerhalb der Türkei – vor allem im britisch besetzten Indien, die auch nach dem siegreichen Befreiungskrieg immer noch zur Türkei hielten und sich Hoffnungen auf eine Wiederbelebung der Chilaafah zum Nutzen aller Muslime machten, werden dabei schlicht ignoriert. In der offiziellen Ideologie hatte jedenfalls “der Islam” versagt. Gesiegt habe das militärische Genie Atatürks und der unbeugsame Wille des türkischen Volkes zu überleben – also dürften auch nur diese die weitere Legitimation politischen Handelns liefern.

Staat und Religion im Osmanischen Reich

Zum Verständnis der Rolle des Islams in der Türkischen Republik ist ein Blick auf die osmanische Vergangenheit wichtig. Das Osmanische Reich sah sich zwar einerseits als Schutzmacht der Muslime, und der Sultaan stellte in bestimmten Epochen mehr oder weniger deutlich den Titel des Chaliifah heraus, jedoch kann nur schwer von einer Theokratie gesprochen werden, da viele Rechtsbereiche fast autonom nach Maßgabe der Staatsraison und eigener Interessen geregelt wurden. Keineswegs in allen Bereichen wurde den religiösen Gelehrten auch ein Mitspracherecht eingeräumt. Zwischen dem Sultaan und den Vertretern der religiösen Institutionen bestand meist ein Verhältnis der Symbiose. Besonders symbolträchtig ist die Gürtungszeremonie des Sultaans bei seinem Machtantritt, welche von dem Sufi-Orden der Mevlevis vorgenommen wurde, um so der Macht den Anschein einer “spirituellen” Untermauerung zu geben. Der schiitisch geprägte Orden der Bektaschis war sogar für die geistige Erziehung der osmanischen Elitetruppe der Janitscharen – bis zu ihrer Zerschlagung 1821 – zuständig! Offensichtlich wurde dieses pragmatische Vorgehen kaum als Widerspruch zu der nach außen dargestellten sunnitisch-hanafitischen Ausrichtung gesehen. Neben den Vertretern des Sufismus war auch die traditionelle Gelehrsamkeit in Person des Muftis von Istanbul eingebunden: Diesem wurde der Titel Schaichul-Islam dauerhaft offensichtlich durch das Gesetzbuch Mehmeds II. (Kannuname; ab ca. 1480) verliehen. Vor allem in späteren Jahrhunderten besaß der Schaichul-Islam jedoch immer weniger Handlungsfreiheit. Lieferte er nicht die gewünschte Fatwa zur Absicherung zweifelhafter Sultaansentscheidungen, drohten ihm nicht selten Absetzung und Hinrichtung.
Resultat dieser jahrhunderte langen Einbindung der sunnitischen Gelehrten in den Staatsapparat, war, dass sich religiös-politischer Protest innerhalb der islamischen Gemeinschaft meist nur in Form volksislamischer oder alevitisch-schiitischer Bewegungen äußerte. Innerhalb der Sunniten konnte es damit erst im 19. Jh. zaghaft zur Ausbildung von oppositionellem Potential kommen. Beginnend mit der Republiksgründung 1923 erlebten die Sunniten zum ersten Mal subjektiv einen Widerspruch zwischen dem Gehorsam, den sie dem Staat gegenüber zu schulden erzogen waren und dem Anspruch des Islams. Dies führte in der Folge zur Entstehung der ersten modernen islamischen Bewegungen in der Türkei und zur Herausbildung eines religiösen Protestpotentials.
Die Vorstellung, erst Mustafa Kemal Atatürk habe die öffentliche Rolle des Islam beschränkt, nachdem die Osmanische Chilaafah bis zum Schluss eine Art fanatische Religionsdiktatur gewesen sei, ist zwar völlig unhistorisch, wird aber gerne kultiviert, um die Rolle Atatürks als aufgeklärtem Republikaner zu begründen. Je dunkler und mittelalterlicher die Osmanische Zeit gezeichnet wird, desto leuchtender soll sich die Republik davon abheben. Jedoch war es bereits 1839 durch den Erlass der Tanzimat-i Hayriye (“Segensreiche Neuordnung”) zu einer verstärkten Ausrichtung nach Europa und einer Schwächung der religiösen Autoritäten gekommen. Seit damals saß der Schaichul-Islam im Ministerrat und war dem Sultaan unterstellt, der ihn direkt ernannte. Mit der zunehmenden Modernisierung des Reiches wurden ihm und dem Gelehrtenstand (ilmiye), den er vertrat, ab 1879 Funktionen im Gerichtswesen entzogen. Unter der Regierung der nationalistisch-pantürkisch ausgerichteten Jungtürken (1908-1918) wurden seine Kompetenzen in den verbliebenen Scharii’ah-Gerichtshöfen, im Unterrichtswesen und in der Verwaltung der Auqaf/religiösen Stiftungen zugunsten der Ministerien für Justiz, Erziehung und Stiftungen (Adliye, Maarif, Evkaf) eingeschränkt. Damit beschränkten sich die Aufgaben und Kompetenzen der Meşihat (Amt des Schaichul-Islam) zunehmend auf das Erteilen von Fatwas, die Leitung der religiösen Hochschulen (Medrese) und (bis zur ihrer endgültigen Unterstellung unter das Justizministerium 1917) auf die für Personenstandsangelegenheiten zuständigen Scharii’ah-Gerichtshöfe. Schon vor der Republiksgründung war also längst die Tendenz vorherrschend, den Islam sukzessive auf den Bereich der reinen ‘Ibaadaah-Handlungen einzugrenzen.
Den Standpunkt der radikalen Verdrängung von Religion als Normenquelle macht eine Parlamentsdebatte von 1937 deutlich, bei der Innenminister Şükrü Kaya sagte:
Dieses Land hat durch die Einflussnahme von Wahrsagern (kahin) und anderen nicht Verantwortlichen auf das Gewissen und durch ihre Beschäftigung mit den Angelegenheiten von Staat und Nation viel Schaden genommen. Da wir nun einmal dem Determinismus in der Geschichte anhängen und bei allen zu treffenden Maßnahmen pragmatische Materialisten sind, müssen wir unsere Gesetze selbst erlassen. (…) Wir mischen uns nicht im Geringsten in die Gewissensfreiheit und in die Religionswahl des Individuums ein. (…) Die Freiheit, die wir uns wünschen und das, was wir unter Laizismus verstehen, ist die Sicherstellung, dass die Religion keinen Einfluss auf die Angelegenheiten dieses Landes ausübt. Dies sind für uns der Rahmen und die Grenzen des Laizismus. (…) Wir sagen, dass die Religion in den Gewissen und den gottesdienstlichen Gebäuden bleiben soll und sich nicht in das materielle Leben und in weltliche Angelegenheiten einmischen soll.”

Kemalismus als Religionsersatz

Innenpolitisch hatte der Kemalismus durch seine Legitimation aus dem gewonnenen Befreiungskrieg größtenteils freie Hand bei der Überwindung der alten Macht- und Gesellschaftsstrukturen. Im Folgenden die wichtigsten Stationen der sog. “Revolutionen” der 20er und 30er Jahren, von denen man sich den Weg zur Moderne erwartete:

  • Abschaffung des (ohnehin bereits machtlosen) Sultanats am 1.11.1922
  • Bis 03.03.1924 durfte noch ein letzter “nomineller Chaliifah”, Abdülmecit II. (1868-1944), als geistiges Oberhaupt ohne politische Macht (in sich bereits ein Widerspruch zur islamischen Chilaafah-Theorie) in seinem Palast residieren, um noch einen Anschein von “islamischer” Symbolik zu belassen. Nach nur eineinhalb Jahren wurde er durch Parlamentsbeschluss seines Amtes enthoben und ging ins Exil nach Paris.
  • Um die Erinnerung an das alte Imperium zu überlagern, wurde Ankara zur neuen Hauptstadt. Da man in dieser anatolischen Kleinstadt kaum wichtige Bauwerke aus der Zeit der Chilaafah hatte, konnte man praktisch auf dem Reißbrett eine neue, europäische Stadt begründen und eine neue Elite gesellschaftlicher Träger erziehen.
  • Ende des Islams als Staatsreligion 1928
  • Maßgeblich eingeleitet bereits in jungtürkischer Zeit 1 wurden auch die verbliebenen Reste des religiös begründeten Rechts beseitigt: Abschaffung der Scharii’ah-Gerichtshöfe 1924 und Übernahme des schweizerischen Zivilgesetzes sowie des deutschen Handels- und italienischen Strafgesetzes.
  • Einführung des europäischen Kalenders, Sonntag Feiertag, europäische Maße
  • Kleiderordnung: Mit drakonischen Strafen wurden durch das Hutgesetz von 1925 orientalische Kopfbedeckungen wie der Fes verboten und durch europäische Hüte ersetzt.
  • Kleidung religiöser Würdenträger aller Religionen außerhalb von Riten, rituellen Handlungen und Gotteshäusern wurden untersagt.
  • Auf kulturellem Gebiet: Förderung westlicher klassischer Musik und Tanzveranstaltungen eröffnet durch das Staatsoberhaupt persönlich, um einen Bruch mit den moralischen Konventionen der Geschlechtertrennung zu bewirken.
  • Verbot bestimmter religiöser Titel und Schließung der Ordenshäuser (tekke) der sufischen Bruderschaften. Als Vorwand galt der Aufstand des in den kurdischen Gebieten stark vertretenen Naqschibandi-Ordens durch Schaich Said (1925).
  • Einführung des Lateinalphabets 1928 und Türkisierung der osmanischen Sprache ab 1932 durch den Türkischen Sprachverein (Türk Dil Kurumu), der sich die Beseitigung des arabischen und persischen Wortschatzes aus dem Osmanischen zum Ziel gesetzt hatte, um die letzten Verbindungen zur Vergangenheit aber auch zu den muslimischen Nachbarvölkern zu durchbrechen. Nach einer Generation war es auch dem gebildeten Durchschnittstürken nicht mehr möglich, ältere Texte zu erfassen. Heutzutage ist das osmanische Türkisch selbst die Parlamentsreden Atatürks aus den 1920er Jahren auch für den Gebildeten eine Fremdsprache, die mühsam erlernt werden muss. Gleichzeitig wurde durch künstlich geschaffene Begriffe (Neologismen), die äußerlich auf türkischen Wurzeln beruhten, semantisch aber den europäischen Sprachen entlehnt waren, direkt in Welterfassung, Denken und Fühlen der Sprechergemeinschaft eingegriffen.
  • Umwandlung der Aya-Sofya, welche vom 6. Jh. bis zur Eroberung Istanbuls 1453 die Hauptkirche der byzantinischen Christenheit gewesen und anschließend als Moschee gedient hatte, 1934 in ein Museum.
  • Teilweise massive Kampagnen gegen Quraan-Unterricht und religiöse Unterweisung. Gruppen, die sich in Privathäusern zurückgezogen hatten, um den Quraan zu studieren, wurden in den 30er und 40er Jahren bespitzelt und verfolgt. Zahlreiche Muslime wählten daher die Auswanderung in Nachbarländer, wo der Islam freier praktiziert werden konnte.
  • Schließung aller religiösen Hochschulen (Medrese) und Gründung einer theologischen Fakultät an der Universität von Istanbul. Die Anzahl der Studenten sank dort jedoch von anfangs 224 auf nur 20 im Jahre 1933. Im Jahre 1936 wurde ihre Arbeit ganz eingestellt.
  • 1924 wurden 29 Schulen für die Ausbildung von Vorbetern und Predigern (Imam-Hatib) eröffnet. Deren Schülerzahl sank bis 1932 von 2258 auf 10 in zwei Schulen, worauf diese 1933 ganz geschlossen wurden.
  • Der arabische Adhan wurde – beispiellos in der islamischen Geschichte – verboten und von 1932 bis zum Ende der Einparteienherrschaft 1950 in einer türkischen Übersetzung gelesen 2. Bei Zuwiderhandlung drohte Gefängnis.

Diese Umgestaltungen geschahen unter völliger Übergehung des Volkswillens. Bis 1950 gab es ohnehin nur die selbstherrlich herrschende Republikanische Volkspartei (CHF, später CHP). Da diese, wie in allen Diktaturen, in Anspruch nahm, den wahren Willen des Volkes zu verkörpern, erübrigten sich demokratische Wahlen. Ironisch ist, dass alles zum Wohle des Volkes geschehen sollte, das Volk aber nicht als reif angesehen wurde, über sein eigenes Schicksal zu entscheiden. Würde man dem Volk seinen Willen lassen, so die Furcht, würden sofort wieder religiöse Führer das Sagen haben und jegliche Modernisierung im Keim ersticken.

Versuche einer “Islamreform”

Nachdem bereits Ziya Gökalp, der Vater des türkischen Nationalismus, Denkanstöße zu verschiedenen Reformen, besonders im rituellen Bereich, gegeben hatte, wurden in den 30er Jahren folgende Reformvorschläge ernsthaft diskutiert:

  • Abschaffung des Arabischen nicht nur für den Adhan, auch für Quraan-Rezitation und Khutba. Der Versuch eines ersten türkischsprachigen Gottesdienstes 1932 in der Aya-Sofya-Moschee fand jedoch kaum Nachahmer, so dass sich die Türkisierung erst einmal auf den Adhan beschränkte.
  • Zusammenstellung einer neuen Quraan-Ausgabe, in der bestimmte, dem Rationalismus, dem türkischen Nationalismus und den modernen Gesetzen widersprechende Aayaat (!) durch zeitgenössische Aussagen (Ansprachen Atatürks u. a.) ersetzt werden sollten.
  • Neuordnung der Moscheen: Sitzbänke nach europäischem Vorbild zum besseren Lesen der Schriften, Veranstaltungen von öffentlichen Vorträgen in Moscheen zur Allgemeinbildung.
  • Kampf gegen Volksislam und Sufismus.

CHP und Volkshäuser

Die sechs Prinzipien, die von Mustafa Kemals Partei, der Republikanischen Volkspartei (CHP) 1931 aufgestellt und 1937 in der Verfassung festgeschrieben wurden, sind Laizismus, Republikanismus, Populismus, Nationalismus, Etatismus und Reformismus. Zur Vermittlung dieser Ideologie wurde im Jahr 1932 die Institution der Volkshäuser (halkevleri) gegründet. Diese übernahmen die Aufgabe, breite Schichten des Volkes mit dem bis dahin nur von Intellektuellen getragenen Nationalismus und dem säkularen Weltbild vertraut zu machen. Geplant wurden die Volkshäuser als Schnittpunkt, an dem die “ursprüngliche Volkskultur” der Landbevölkerung eine Synthese mit der “modernen Zivilisation” der städtischen Eliten eingehen sollte. Die einzelnen Abteilungen befassten sich mit Literatur, türkischer Sprache, Geschichte, Kunst und Sport, veranstalteten Theateraufführungen und Ausstellungen, veröffentlichen eigene Publikationen und richteten Bibliotheken ein. Die Anzahl der Zweigstellen betrug zum Zeitpunkt der Gründung 14 und stieg rasant an: 103 (1935), 209 (1938), 383 (1941). 3 Die offizielle Zahl der Besucher (1937: 6 Mio, 1938: knapp 8 Mio), die landesweit an Filmvorführungen, Literaturlesungen, Sportveranstaltungen, aber auch medizinischen Untersuchungen teilnahmen, erscheint sehr hoch (ca. 1/3 der Gesamtbevölkerung), dokumentieren aber den Anspruch, eine Einrichtung für die Volksmassen zu sein.
Für den Islam gab es in diesen Kultureinrichtungen keinen Platz. Wenn überhaupt, wurde der Islam im Privatbereich geduldet: als Sammlung religiöser Riten für ältere Leute, die aber die Gesellschaft nicht zu beeinflussen hätten.

Vom Islam zum türkischen Nationalismus

Die Identität der verschiedenen Ethnien im Osmanischen Reich wurde nicht eigentlich an der Sprache als Hauptkennzeichen festgemacht, wie dies vom Nationalismus gefordert wird. Gerade bei dem staatstragenden türkischen Bevölkerungselement wurde die Identität entweder über die Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft des Islam oder über die Loyalität zur herrschenden Dynastie als “osmanisch” definiert. Letzteres galt vor allem für die Stadtbevölkerung der oberen Schichten, die sich für das Wort “Türke” – als Bezeichnung der “unkultivierten” Land- und vor allem der nichtsesshaften Bevölkerung – schämten: aus nationalistischer Sichtweise ein Frevel an der wichtigsten gesellschaftlichen Grundlage. Kazım Nami zitiert eine Anekdote, nach der sich während der Zeit des erwachenden türkischen Nationalgefühls zwischen einem volksverbundenen Gouverneur und einem höflichen und unterwürfigen Dorfbewohner folgender Dialog entspannt haben soll. “Türke” und “Türkisch” sind für den fortschrittlichen Gouverneur Begriffe, die ihn mit Stolz erfüllen, was jedoch in der Welt des Dorfbewohners noch nicht angekommen zu sein scheint:

– Was bist du?

– Muslim.

– Das sehe ich an deinem Namen. Ich will wissen, was du bist?

– Was sollte ich noch sein, außer einem Muslim?

– Welche Sprache sprichst du?

– Türkisch.

– Nun, wie nennt man diejenigen, die Türkisch sprechen?

– “Türken”, entgegnete der Dorfbewohner wütend und verletzt.

– Na gut, ich bin doch auch Türke!

– Gott bewahre! Entfuhr es ihm ungestüm. Wie könntet Ihr nur Türke sein! (9/1933: 203)

Dieses mangelnde Nationalbewusstsein der Osmanen, die ihre Geschichte mit der Entstehung eines kleinen Fürstentums zwischen Eskişehir und Bursa im 14. Jh. gleichsetzten und dabei die übrigen Turkvölker ignorierten, sei nach den Nationalisten nur in früheren Jahrhunderten entschuldbar gewesen. Mit der Entfaltung des modernen Nationalbewusstseins sei die mangelnde Fähigkeit zur Umstellung auf dieses Erfordernis der Zeit ein schweres Versäumnis der Osmanen gewesen.

Kemalismus als Ideologie

Mit der Gründung der türkischen Republik stellte sich immer mehr heraus, dass der Islam sich in der neuen Ordnung mit einem sehr beschränkten Platz zu begnügen hatte. Für die Öffentlichkeit übernahmen der türkische Nationalismus, seine Geschichtsdeutung und der Führerkult identitätsstiftende Funktionen.
Betrachtet man die von der Republik geschaffenen politischen Symbole, die politische Sprache und “Liturgie”, wie sie sich in Aufmärschen, Denkmälern und einem neuen Verständnis von Ethik, Moral, Kunst und Lebensgestaltung äußern, so sind die Parallelen zu den Versuchen der frühen Französischen Revolution zur Schaffung einer innerweltlichen Religion nicht zu übersehen. Nicht zufällig fällt in diesem Zusammenhang von Kritikern häufig der Ausdruck “kemalistische Jakobiner”.
Ganz im Stile der Massenideologien des 20. Jhs. (Kommunismus, Faschismus) sollten die Volkshäuser das “unerleuchtete” (noch in religiösem Denken verhaftete Volk) aufklären und ihnen die sechs Prinzipien der neuen Türkei vermitteln.
Im Folgenden sollen an Hand von Zitaten die Charakteristika des Nationalismus der frühen türkischen Republik dargestellt werden. Hieraus geht hervor, wie stark der Bruch mit der islamischen Tradition tatsächlich in den 30er Jahren war. Die Vertreter dieser Ideologie hatten offensichtlich (mehr oder weniger bewusst) vor, nicht weniger als eine Ersatzreligion unter vollständiger Verdrängung des Islam aus dem öffentlichen Raum zu schaffen. Obwohl in den folgenden Jahrzehnten vieles abgeschwächter formuliert wurde, bleibt dieses Denken in der Türkei bis heute wirkmächtig.

Geschichtsthese

Jede nationalistische Ideologie braucht ihre eigene Geschichtsthese, um die Überlegenheit der eigenen Nation zu untermauern. So behauptet das Publikationsorgan der Volkshäuser, dass die erste Zivilisation der Welt in Zentralasien durch die “türkische Rasse” begründet. worden sei. Durch große Dürrekatastrophen getrieben verließen die Türken Zentralasien und gründeten die alten Zivilisationen. Auch die fälschlicherweise “islamisch” genannte mittelalterliche Zivilisation des Islam sei hauptsächlich ein Werk der Türken gewesen. Durch die zentrale Brückenfunktion Anatoliens und seine klimatische Nähe zu Zentralasien habe sich hier bereits seit dem Ende der Altsteinzeit die Türkisierung vollzogen, so dass Anatolien rassisch gesehen rein türkisch sei.
Der mangelnde Beitrag der Türken beim zivilisatorischen Voranschreiten der Menschheit in den letzten Jahrhunderten sei auf einige sekundäre Faktoren zurückzuführen. Da diese jedoch durch die kemalistische Revolution beseitigt worden seien, sei nunmehr der Weg frei für die “ewige und geschichtliche zivilisatorische Mission und die Führung und den Aufstieg der Menschheit durch die Türken.”
Behçet Kemal Çağlar, einer der Chefideologen, schreibt zum 10. Jahrestag der Republiksgründung unter bewusster Missachtung des Islams:
“Eine Welt, die in zehn Jahren aus dem Nichts geschaffen worden ist. (…) Nicht einmal Gott hat je ein solches Tempo gesehen! Wahrlich, diese Nation, die ihr Sklaventum abstreift und sich vergöttlicht, sollte in zehn Jahren eine Welt erschaffen. Die Welt hat nun, nach zehn Jahren erneut, die Unvergleichlichkeit des Türken verstanden. (…) Wir sagen: Erkenne deinen Herren, den Türken allezeit! Der Türke strömt wie Blut um der Menschheit willen, die türkische Zivilisation macht den Menschen zum Menschen, mit der Sonne des Türken bricht der Tag an. Gäbe es den Türken nicht, was würde man dann als Geschichte schreiben?”

Münir Müeyyet Bekman schreibt über den Sieg über die Griechen bei Dumlupınar (1922):
“Heute hat sich die Sonne befreit aus ihrem Grab, die Dunkelheit hat sich entfernt aus den Weiten. Als die Bergrücken noch voller Sehnsucht waren nach der starken Stimme meines Volkes und nach dem Atem des lebensspendenden Türkentums, ist heute ein neues Zeitalter angebrochen in Dumlupınar: es ist ein Grab geworden für die Gier. (…) Das Herz, von dem man dachte, es stände still, das Land von dem man meinte, es hätte seinen Geist aufgegeben, heute rief es aus: ‚Ich bin am Leben, ich bin lebendig, ich bin es selbst, ich bin der unsterbliche Türke’ – auch wenn die Welt verlischt und untergeht (…). Freue dich, o Türke, freu dich unablässig, dies ist der Tag deiner Befreiung. Als Türke geboren zu werden ist ein großes Glück, als Türke zu sterben ein großes Glück. Das Türkentum ist auf der Erde eine lebende Hoffnung.”

Sonnensprachtheorie

Im Osmanischen Reich kam der türkischen Sprache nicht unbedingt eine herausgehobene Stellung zu. Türkisch galt als die Sprache der einfachen Leute. Das osmanische Türkisch hingegen als Mischsprache für Literatur und offizielle Anlässe hatte eine gewaltige Anzahl an Worten, Formen und Redewendungen aus dem Arabischen und Persischen übernommen und damit eine Verbindung zur Semantik der islamischen Wissenschaften und Tradition ermöglicht. Ohnehin lernte ein islamischer Gelehrter, wollte er über ein einfaches Niveau hinauskommen, Arabisch. Beschäftigte er sich mit Poesie so war es nicht selten, dass er auch persische Gedichte verfasste (so selbst Sultaane), die ästhetisch der einfachen türkischen Volkspoesie überlegen galten. So lebte der gebildete Osmane im Schnittfeld verschiedener Sprachen und Kulturen, die funktional verschiedenen Kommunikationserfordernissen entsprachen und zog auch einen Teil seines Selbstbewusstseins aus dieser Tatsache.
Mit dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches und dem Bevölkerungsaustausch mit Griechenland war der kosmopolitische Charakter verflogen. Man versuchte (unter Übergehung der nichttürkischen Minderheiten, wie Kurden, Tscherkessen, Araber, Lasen) den neuen Staat auf der Fiktion einer rein türkischen Abstammung aufzubauen. Um das Selbstbewusstsein der Türken und die Wertschätzung der türkischen Sprache zu erreichen, griff man teilweise zu grotesk anmutenden Methoden. Die bekannteste davon ist die Sonnensprachtheorie. Nach dieser stammten alle Sprachen der Welt vom Türkischen als Ursprache ab. Erstaunlich ist vor allem, dass diese Theorie eine Zeit lang auch offiziell an den Universitäten gelehrt wurde, bis sie doch als zu peinlich erkannt in den Schubladen verschwinden musste. In die Euphorie des erwachten Nationalgefühls gibt folgendes Zitat Einblick:
“Nun können wir ohne Furcht sagen: Genau wie die Türken die Nation auf der Erde sind, welche die Strahlen der ersten Kultur verbreitet haben, so ist die türkische Sprache nicht nur die Quelle der indoeuropäischen Sprachen, sondern aller Kultursprachen.”

Neo-pagane Elemente und Ablösung des Islam

Unverhohlen gaben manche Ideologen ihre Abneigung gegenüber dem Islam Ausdruck. Islam, das bedeutete die zerbrochene dekadente osmanische Chilaafah, ein Reich, das seine Untertanen nicht vor dem europäischen Imperialismus schützen konnte. Islam, das bedeutete die Erinnerung an das Zusammenleben mit anderen muslimischen Völkern, die sich am Schluss doch alle bekämpft und gegenseitig die Schuld am Untergang gegeben hatten. Aus dieser Trotzreaktion wird deutlich, dass hinter nationalistischem Chauvinismus oft ein Gefühl der Minderwertigkeit und des Nichtverstandenseins steht. Als die Osmanen durch reale Machtausübung genügend politisches Selbstbewusstsein hatten, konnten sie Toleranz gegenüber anderen walten lassen und betrachteten die verschiedenen Mosaiksteine ihrer Kultur als Bereicherung. Als dieses Selbstbewusstsein zerbrach, reagierte man mit Herausbildung eines übersteigerten Selbstbildes und panischen Ängsten vor Minderheiten und ihren Verschwörungen. Yaşar Nabi macht deutlich, dass ein richtig verstandener Kemalismus nicht mit dem Islam vereinbar sein könne:
“Einer soll unser Glaube sein, Kinder, ein einziger! In einer Brust wohnen nicht zwei Seelen, das wäre eine Lüge! (…) Die gleiche Liebe im Herzen, die gleiche Leidenschaft im Geist. Kommt in unsere Reihen, die ihr zu uns gehört! Gebt dem Zweifel in euch keinen Raum, nicht einen Augenblick! Der anzubetende Held ist in unserer Ka’ba! Zwei Religionen gehen nicht zusammen im gleichen Geist, o Kinder! (…) Nur die von uns sind, folgen ihm nach!” 4

Andere scheuten sich nicht, selbst den Begriff von Göttern ins Spiel zu bringen. Sicherlich mehr als literarische Provokation denn als Ernst zunehmende Glaubensüberzeugung:
“Das Blut der ersten Götter floss durch das türkische Herz. Als die anderen Rassen noch Herden waren, waren die Türken ihre Hirten. Von einem Ende bis zum anderen bestellte der Türke die Welt wie ein Feld.”

Göttliche Führerqualitäten Atatürks

Die Ideologie des radikalen Kemalismus bildete sich in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg, in der auch Europa allgemein von ideologischen Grabenkämpfen zerrissen wurde. Überall blühte der Kult um den Führer, wurden gewagte Theorien vom “wahren Volksgeist”, aus dem der Führer geboren wird, aufgestellt. Es braucht nicht zu überraschen, dass mit der Verdrängung des Islams, der die Befreiung des Menschen vom Mitmenschen durch Hingabe an Allah lehrt, wieder die Vergötzung des Menschen Einzug hielt.
So formulierten die Ideologen der Volkshäuser über Mustafa Kemal: Er ist ein “Vorbild, das zum Glück der Menschheit erschaffen wurde”, ein “Prophet für den Osten”, “der Augapfel der Türken, der Schöpfer der nationalen Stärke, der erhab-enste aller Führer und Propheten, die bis jetzt in der Welt erschienen sind”.

Andere beschrieben ihn als Werkzeug Gottes, wobei fraglich bleibt, ob dahinter wirklich der Imaan an Allaah im Sinne der islamischen Aqiidah stand:
“Dieser Befehl ist die zornige Stimme Gottes, der unsterbliche Wille des Türkentums, mit der Hand Mustafa Kemals versetzte Allaah dem Unrecht eine Ohrfeige.”

Eigentlich war für einen Schöpfergott kaum noch Platz; hatte doch Mustafa Kemal mit seiner Befreiung der Türkei und der Erweckung der Türken zu nationalem Bewusstsein eine eigene “Schöpfung” erreicht:
“Der Morgen lässt sich nicht durch einen schwarzen Schleier verdecken, wir sind die Jugend, die auf den Spuren des Gazis (siegreicher Held) eilt, der in der Welt aus dem Nichts die Existenz erschafft.”

Die Jugend ruft daher am Festtag: “O geliebter Atatürk, der du unsere Existenz erschaffen hast”, “keine Geschichtsepoche kennt ein Genie, einen Befehlshaber, einen Retter und Schöpfer wie ihn.”

Der “heilige Name” Atatürks

An die islamische Vorstellung vom Dhikr gemahnend, ruft Mustafa İnönü 1948 der Jugend zu: “Gedenken wir des heiligen Namens Atatürks mit großer Liebe!”

Äußerst befremdlich wirkt für den heutigen Leser die Lust am Provozieren, mit der man bewusst islamische Vorstellungen zu vereinnahmen und umzudeuten suchte, dabei die eigene Ideologie jedoch eher karikierte. In einem Gedicht heißt es:
“Ich gedenke eines großen Türken, einer großen Vergangenheit! Der Name des Türken ist der Name Gottes, die Tat des Türken die Tat Gottes. Ich schere mich nicht um die Pfaffen und sage: ‘Die Welt ist geschaffen um seiner willen.’ Ich gemahne an den Sinn der Schöpfung! Steht auf, ich werde jenes Namens gedenken. Was hat der Gazi nicht alles für dieses Land getan!”

Mit “Pfaffen” sind augenscheinlich die islamischen Gelehrten gemeint, denen man vorwarf durch ihre “rückwärtsgewandte” Sichtweise und ihrem romantischen Verklären der osmanischen Vergangenheit die Entwicklung der Türkei zu einer modernen Nation zu blockieren. Die Wendung “Die Welt ist geschaffen um seiner willen” dürfte sicherlich eine Anspielung an den im Volk weit verbreiteten angeblichen Hadiith Qudsiy über den Propheten (sallal-laahu ‘alaihi wa sallam) sein “Wärest du nicht gewesen, hätte ich nicht die Welt geschaffen”. 5

Auch andere Autoren fühlten sich gedrängt, die immer weiter um sich greifende Vergötzung des Führers durch religiöse Formeln zu forcieren. İzzettin Alıcıgüzel schreibt 10 Jahre nach Atatürks Tod:
“Das erste Wort, das ich lernte, nachdem ich in meiner Kindheit aus der Welt des Spiels in die Welt der Arbeit und der Realität eintrat, war “Gazi Mustafa Kemal”. In den ersten Jahren begriff ich nicht die große Bedeutung dieses Namens, aber dann begann ich zu verstehen, was “Atatürk” bedeutete und fühlte, wie Atatürk einen heiligen Platz in meinem Geist einnahm.”

Göttlichkeit des Führers

“Der “ewige Vater aller türkischen Generationen, die gelebt haben und noch leben werden”.

“Alles was uns mit Freude und Stolz erfüllt, schulden wir ihm, unserem schöpfenden Vater, dem Retter.”

“In seiner Epoche werden wir die größten Taten, die wir vollbringen können, ausführen, werden alle Hindernisse überwinden. Er ist nunmehr unsere geheiligte Gebetsnische (mihrab), unser Herz, unser Ein und Alles. Unser Haupt ist an seines, unser Herz an seines gebunden.”

In einem Gedicht heißt es:
“Ich kannte dich von deinen Bildern her, in deinen ausdrucksvollen Augen war Gott. Ich kannte deine Stimme von einer Aufnahme: eine Stimme, die dem Wind ähnelt. (…) Ihr Sterne, seid ihr nachts so ausdrucksvoll? – ich meine nicht!”

Beim Tode Atatürks 1938 heißt es schwärmerisch:
“Wir werden dich niemals in ein kaltes, dunkles Grab oder eine kalte, eisige Ruhestätte aus Marmor stecken, sondern dich in den liebsten und heiligsten Tempel setzen, wo deine Glaubenskraft in allen Herzen bewahrt bleibt: an die Stelle unseres nationalen Gottes, der uns ab dem 16. Jh. bis vor 19 Jahren verlassen hatte. Atatürk, wir setzen dich an den dir eigenen Platz!”

Sind dies nur Einzelbeispiele? Nur individuelle Entgleisungen?

Zweifellos sind nicht alle Nationalisten diesen extremen Weg der religiösen Übersteigerung des Führerkultes gegangen. Es bleibt dagegen jedoch einzuwenden, dass diese Zitate unwidersprochen in einer der wichtigsten kulturplanerischen Publikationen des Landes erscheinen konnten. Kaum konnten sich in diesen Jahrzehnten Gegenstimmen erheben; weder aus islamischer Sicht noch aus einer liberalen Einstellung heraus traute man sich auf die Gefahren dieser Übersteigerung hinzuweisen. Dies zeigt, welches gesellschaftliche und intellektuelle Klima während der ersten Jahrzehnte der türkischen Republik herrschte.

Polytheistische Anklänge und Inkarnation

Nach Atatürks Tod 1938 ging die Führung an Ismet Inönü, seinen ehemaligen Weggefährten, über, der den Führerkult in eigenem Interesse weiterführte. Je mehr Charisma bei Atatürk produziert und je mehr unkritische Geschichtsschreibung über den Befreiungskrieg und die Republiksgründung verbreitet wurde, desto mehr Charisma und Unantastbarkeit konnte Inönü auch für sich selbst verbuchen.
Man braucht sich daher nicht wundern, dass kurz vor dem Ende der Inönü-Regierung 1949 und dem Ende der Einparteienherrschaft man über Atatürk sagen konnte:
“Alle Dichter der Welt können sein Gedicht nicht schreiben! Alle Maler der Welt sein Bild nicht zeichnen! Alle Götter, wenn sie auch zusammenkämen, könnten nicht noch einmal einen Menschen wie ihn schaffen.”

Ähnlich überliefert Kemal Ünal eine Einschätzung Atatürks, die im Widerspruch zu der ihm zugeschriebenen Rolle der bescheidenen aber väterlichen Führerfigur steht, die durch seinen Ehrentitel symbolisiert werden soll. So habe Atatürk gesagt:
“Es gibt zwei Mustafa Kemals. Der eine bin ich, der sterbliche Mustafa Kemal, der, wie jeder, zur Vergänglichkeit verurteilt ist. Der andere ist der ewige Mustafa Kemal, der im Innenleben der türkischen Nation vorhanden ist und der – also ich – ihre Vorstellungen verwirklicht.”

“Nehmen wir Zuflucht zum lebendigen ewigen Mustafa Kemal, er wird uns die Kraft geben, unseren Schmerz (d.h. über seinen Tod) zu überwinden durch seine unsterbliche Existenz, die in den Herzen und Gedanken gespürt wird. In diesem unendlichen Schmerz wird uns wieder der ewige Mustafa Kemal trösten. Der unsterbliche Mustafa Kemal wird im Innenleben der Nation und des Vaterlands, welche er geschaffen hat und in der Menschlichkeit (bzw. Menschheit), deren Ehrgefühl er immer und überall erhöht hat, ewig leben.”

Ernsthafte Vergötterung?

Wie ernst war es den Ideologen mit der Vergötterung Atatürks? Sicherlich nicht im Sinne einer voll ausgestalteten Religion. Eher spielte man mit religiösen Versatzstücken. Wichtig war das Ziel: Eine Überwindung der traditionellen Dominanz islamischen Denkens in der Gesellschaft und eine Nutzbarmachung religiöser Gefühle für die Umformung der neuen Türkei. Daher oszillieren die Autoren der Zeit oft zwischen widersprüchlichen Auffassungen:
“Gott beneidet dich, da du Licht von ihm bist!” “Der Türke dachte an Gott, dem er an Höhe gleichkam. Bevor er dich (d.h. Atatürk) gesehen hatte, nannte er den Himmel Gott.” “Kann die Sonne untergehen, kann der Vater (Ata) sterben? Zeigt mir Gott, ich werde ihn fragen und zur Rede stellen.” (bzw. schelten)

Ewigkeit des Führers

“Wir glaubten nicht, dass er gestorben ist und wollen es noch immer nicht glauben. (…) Können wir sagen, dass er in den Schoß der Geschichte eingegangen ist? Nein, denn die Geschichte ist so klein, dass sie seine Größe nicht umfassen kann. Er sei in die Ewigkeit eingegangen – eine eitle Behauptung! Die Ewigkeit ist ihm doch willfährig!”

“Du bist der größte der Menschen, bist im Schmerz unserer Liebe, unserer Freude, in der Speise und dem Licht unseres Heims. Du bist nun der Segen auf unseren Feldern, die lächelnde Blume in unserem Garten. Du bist im Funkeln des Flusses Menderes, im Rauschen der Quellen, in den Liedern der kupferfarbenen Gesichter der anatolischen Kinder (…). Du, der Vollkommene der Vollkommenen, der du den Globus sprengst, du erscheinst nun im Meer, im Festland, im Himmel. Wir leben nun ewig im Glanz deines Lichtes, wir Hinterbliebenen und unsere Nachkommen. (…) Wir sind nun Atatürken [!], die unter deinem Schatten deine Freiheitslieder singen. Dein Körper, der von Materie zu Geist geworden ist, empfängt uns mit aller Wärme auf dieser Erde, über die wir schreiten. Du bist nun das Universum für uns. Jeder vergängliche Türke geht nun, wenn er zu Erde wird, aus dem Diesseits in die Ewigkeit Atatürks ein. Jede Mutter, deren Herz mit dem Glauben und dem Ideal Atatürks erfüllt ist, bringt einen ATATÜRK zur Welt. Du bist nun in unserem Blut und im Stern der Türkei, solange sich die Erde dreht.”

Innerweltliches Paradies

Der große Vorwurf des Kemalismus an den Islam und Religion allgemein war stets, dass das Nachdenken über das Jenseits zu einer Vernachlässigung des Diesseits führe. Die Nation kann nicht mehr tatkräftig ihr eigenes Schicksal gestalten, sondern wird vom “Opium” der Religion (wie es im Marxismus formuliert würde) betäubt. Während man in einer religiösen Traumwelt sein Leben verbrächte, raubten die Mächte des Imperialismus die Ressourcen des Landes.
In den folgenden Zitaten trifft sich nicht nur das Gedankengut des Kemalismus mit jeder anderen nationalistischen Ideologie, deutlich werden auch die Parallelen zur Diesseitsbezogenheit des materialistischen Marxismus:
“Kinder, das Leben ist schön, (…) Schlafen ist der Tod. (…) Lass nur die lebendigen Toten an den Tod denken. Kinder, wir haben keine Zeit, an den Tod zu denken. Das Jenseits soll ihnen gehören, uns reicht dieses Stück Erde!”

“Uns erwarten keine Jungfrauen im Paradies”, denn “das Paradies Atatürks” ist “durch Maschinen gewoben”.

“Auf einem Weg, der in eine Welt ohne Tod führt, auf deiner Erde (o Anatolien) stehen die Volkshäuser, welche die Kinder mit Ewigkeit säugen, (…) wir werden die Sonne, welche schon der erste Türke angebetet hat, erreichen, da wir Kinder von Atatürk sind! (…) Wir haben die Tore des Paradieses Atatürks geöffnet. (…) In diesen Häusern (d.h. den Volkshäusern) werden wir das Paradies aus Farbe, Klang und Duft errichten. Kinder, wir werden das Land Atatürks zu einer schöpferischen, einer göttlichen Quelle machen! (…) In diesen Häusern schmeckt man das Heute, riecht man das Morgen, sie erzählen vom letzten und vollkommensten Paradies: dem Lande Atatürks.”

Übergang zum Mehrparteiensystem

Der Zweite Weltkrieg, an dem die Türkei nicht teilnahm, brachte eine neue Konstellation in der Weltpolitik: Die Zeit der faschistischen Nationalismen schien zu Ende zu sein, die Konfrontation zwischen Amerika und der Sowjetunion mündete in den Kalten Krieg. Da die Türkei sich auf der Seite Amerikas positioniert hatte, musste die Einparteienherrschaft der CHP durch ein Mehrparteiensystem ersetzt werden. Beim ersten Antreten unabhängiger Parteien war die alles beherrschende Frage: Welche Freiheit sollte der islamischen Religionsausübung wieder zugestanden werden?
Um einem vollständigen Machtverlust zuvorzukommen, versuchte die CHP in den letzten Jahren ihrer Herrschaft mit Zugeständnissen die Muslime zu gewinnen:

  • Zuteilung von Devisen an Makkahpilger 1947
  • Einführung eines unter Regie des Erziehungsministeriums stehenden freiwilligen zweistündigen Religionsunterrichts in den 4. und 5. Klassen der Volksschule 1949
  • Neugründung der Theologischen Fakultät in Ankara 1949
  • Einrichtung von ersten 10-monatigen Imam-Hatib-Kursen 1949, die ab 1951 zu richtigen Schulen umstrukturiert wurden.

Die neuen Oppositionsparteien bedienten sich geschickt des konservativen ländlichen Wählerpotentials, was nach dem erdrutschartigen Wahlsieg der Demokratischen Partei von Adnan Menderes zu einer Kehrtwende in der Politik führte. Trotzdem wurde der mittlerweile fest etablierte Kemalismus nicht angetastet. Ein ernsthaftes Verlangen nach einer Rückkehr zu der umfassenden Botschaft des Islam war kaum zu verspüren.
Nur zwei Wochen nach Verlesung des neuen Regierungsprogramms kam es 1949 zur Wiederzulassung des arabischen Gebetsrufs. 1951 wurden weitere Imam-Hatib-Schulen und 1959 sog. “Höhere Institute für Islamkunde” (Yüksek Islam Enstitüleri) gegründet. 1956 wurde Religionsunterricht auch in den ersten zwei Jahrgangsstufen der Mittelschule eingeführt.
Mit diesen Maßnahmen war der Demokratischen Partei für die nächsten Jahre die unumschränkte Anerkennung im Volk gesichert, bis der Militärputsch von 1960 dieser Entwicklung ein Ende setzte.

Rolle der islamischen Organisationen

Mit Ausweitung der zivilen Freiheiten wurde auch der Druck auf die verschiedenen islamischen Gemeinschaften (cemaat) gemildert. Diese konkurrierten mit der staatlichen Religionsbehörde (Diyanet) um Einfluss, was in der Folge wiederum verstärkend auf die offizielle Religionspolitik zurückwirkte.

Die wichtigsten dieser Gemeinschaften sind:

  • Die traditionellen Sufi-Orden (vor allem Nakşibendi, Kadiri, Mevlevi), welche teilweise durch das staatliche Verbot 1925 stark geschwächt worden waren, aber sich nach den 50er Jahren in Form von Stiftungen, Buchverlagen, Zeitschriften wieder reorganisierten. Ohne eine offizielle Aufhebung des Verbots, können sie sich heute jedoch relativ frei betätigen.
  • Die Bewegung von Süleyman Tunahan (Süleymanci)
  • Die Bewegung von Said Nursi (Nurculuk)

Süleyman Tunahan

Der islamische Gelehrte Süleyman Tunahan wurde 1888 im heutigen Bulgarien geboren und starb 1959 in Istanbul. Schon in der Spätzeit des Osmanischen Reiches war er Prediger an wichtigen Moscheen Istanbuls. Aus dem Sufi-Orden der Naqschibandi erwachsen stellt doch die von ihm begründete Bewegung spezifisch sufische Lehren eher in den Hintergrund und kann als traditionelle sunnitische Richtung beschrieben werden, die den hanafitischen Islam osmanischer Prägung möglichst unverfälscht weitergeben will. In der Zeit der Unterdrückung des Religionsunterrichts in den 1930er und 40er Jahren organisierte die Bewegung teilweise unter widrigsten Umständen Unterricht in Quraan-Rezitation und den Grundlagen der ‘Ibaadaat-Handlungen.
In den 70er Jahren erlangte die Bewegung insgesamt ihre Anerkennung und gewann durch Zusammenarbeit mit konservativen Parteien auch Einfluss auf die Politik. Ein Großteil der ersten Gebetsräume in Deutschland wurde in diesen Jahren auch durch den auf Tunahans Schüler zurückgehenden “Verband der islamischen Kulturzentren” begründet. Im Volksmund werden sie vereinfacht als “Süleymancis” bezeichnet.

Said Nursi (1876-1960)

Die auf Said Nursi zurückgehende Bewegung der “Nur Talebeleri” (Schüler des Lichts/Nurcu-Bewegung) stellt mit der Bewegung des Süleyman Tunahan die wichtigste der türkischen islamischen Dschama’aat dar, welche in direkter Auseinandersetzung mit der negativen Religionspolitik der frühen Republik entstanden sind.
Der 1876 im ostanatolischen Nurs bei Bitlis geborene kurdische Gelehrte Said Nursi (genannt Bediuzzaman) hat mit seinem umfassenden Werk Risale-i Nur, welches traditionelles islamisches Denken mit modernen Ansätzen zu verbinden trachtet, ein tragfähiges Konzept hinterlassen, auf dem organisierter Unterricht bis heute erteilt wird.
Said Nursi führte ein bewegtes Leben. Den Putsch des jungtürkischen Komitees von 1908 unterstützte er anfangs, wie viele Gelehrte und Gebildete, welche die Dringlichkeit von Reformen im Osmanischen Reich begriffen hatten. Auch war er in einer der ersten kurdischen Organisationen “Kürt Teavün ve Terakki Cemiyeti”, tätig. Die kurdische Nationalbewegung war damals überwiegend noch osmanisch-patriotisch eingestellt und nicht nationalistisch-separatistisch. Den dort vertretenen Schriftstellern und Intellektuellen ging es um eine Verbesserung der Lebensumstände in den kurdischen Provinzen und eine stärkere Förderung von Bildung (auch in Kurdisch), nicht jedoch um eine Frontstellung gegen Türken und andere muslimische Ethnien oder den Kampf um einen eigenen Staat. Ideologien dieser Ausrichtung sollten sich erst in den 60er Jahren als Antwort auf die staatliche national-istische Unterdrückungspolitik bilden.
Dass Said Nursi als Kurde sich auch in solche patriotischen Bewegungen einbrachte, wurde in der damaligen Zeit als völlig normal angesehen. Gleichzeitig engagierte er sich auch in anderen Zusammenschlüssen, welche eine Wiederbelebung der Scharii’ah anstrebten (z.B. Ittihad-i Muhammadi). Stets bemühte er sich den Auflösungserscheinungen der islamischen Solidarität zuvorzukommen und für eine Einheit der Muslime zu arbeiten, was sich auch in seiner Reise nach Syrien und in seiner arabisch gehaltenen Rede 1911 in der Umayyaden-Moschee von Damaskus widerspiegelt.
Im Ersten Weltkrieg kam er an der Kaukasus-Front gegen Russland zum Einsatz und geriet zeitweise in russische Kriegsgefangenschaft. Nach Gründung der türkischen Republik wandte er sich bald gegen den antireligiösen Kurs Mustafa Kemals und wurde mehrmals angeklagt und in verschiedene Provinzstädte verbannt. Diese Politik der Einschüchterung wurde auch nach dem Tode Atatürks (1938) unter Ismet Inönü weiterverfolgt, konnte aber nicht verhindern, dass der Einfluss Said Nursis und seine Schülerzahl stetig zunahmen. Nach dem Ende der Einparteienherrschaft 1950 wurde die Verfolgung eingestellt, auch seine Schriften konnten 1956 offiziell herausgegeben werden, bis er selbst 1960 in hohem Alter verstarb.
Während seines entbehrungsreichen Aufenthalts in den Exilstädten und unter Hausarrest wandelte sich auch sein Denken (vom “alten Said” zum “neuen Said” in seinen eigenen Worten). Er konzentrierte sich stärker auf die Frage, was letztendlich den Zusammenbruch der islamischen Einheit hervorgerufen hatte – eine Frage, die alle Denker der islamischen Welt damals aufwühlte. Während manch einer die Hoffnung auf politische Arbeit, Gründung von Parteien oder auf revolutionären Umsturz legten, sah Badiuzzaman Said Nursi den Ausweg in der Rückbesinnung auf den Quraan. Seine im Exil verfasste Risale-i Nur stellt eine neue Form von Quraan-Kommentar dar. Statt chronologisch die einzelnen Verse durchzugehen, werden einzelne Themen behandelt und in Bezug zu quraanischen Passagen gestellt. Das Werk weist eine hohe Varianz von Stilebenen auf. Neben einfachen, für jedermann verständlichen Gleichnissen auch Exkurse zu philosophischen Fragen und Diskussionen um Ilmul-Kalam und islamischer Mystik. Durch das gesamte Werk zieht sich doch als roter Faden der Wunsch, die Überzeugung von den ‘Aqiidah-Inhalten jedem Muslim bewusst zu machen und zu einer Herzensangelegenheit werden zu lassen, statt islamische Wissenschaften nur für Eingeweihte zu betreiben.
Trotz dieses Wunsches nach Verständlichkeit beharrte Said Nursi stets auf der Weitertradierung der klassischen osmanischen Sprache mit ihrer ausgestalteten arabischen Fachterminologie. Eine Türkisierung zentraler Begriffe, wie sie zeitgleich im öffentlichen Leben der Republik forciert wurde, lehnte er stets ab. Auch als nach 1928 die Lateinschrift eingeführt und die arabischen Buchstaben für den türkischen Buchdruck verboten wurden, sah er seine Aufgabe in der Bewahrung dieses vom Quraan geprägten Erbes. Seine Schüler schrieben seine Werke weiterhin in der alten Schrift auf. Da der Zugang zum Buchdruck durch die staatliche Zensur bis kurz vor seinem Tode reglementiert war, zirkulierte die Risale-i Nur lange Zeit auch nur handschriftlich in den Schülerkreisen. Nach dem Tode Said Nursis blieb lediglich ein kleiner Teil der Anhänger weiter bei der arabischen Schrift; die Mehrheit der Gemeinschaft übernahm jedoch, im Sinne einer stärkeren Verbreitung seiner Ideen, die Lateinschrift.
Kurz nach Said Nursis Tod kam es zum ersten Militärputsch (1960). Da das Eingreifen der Armee (wie bei den weiteren Putschen) stets mit einer Furcht vor einem Überhandnehmen der islamischen Bewegungen begründet wurde, entfernten Soldaten den Leichnam Said Nursis aus dem Grab in Urfa und bestatteten ihn an einem unbekannten Ort der Türkei, um zu vermeiden, dass sein Grab zu einem Anziehungspunkt für die Bewegung werden könnte.

 

Notes:

  1. Zur Umstrukturierung der religiösen Institutionen in der Zeit des 1. Weltkriegs: Dumont (1984) 36f.
  2. Tanrı uludur; Şüphesiz bilirim, bildiririm: Tanrı’dan başka yoktur tapacak, Şüphesiz bilirim, bildiririm Tanrı’nın elçisidir Muhammed; Haydin namaza, haydin felaha Namaz uykudan hayırlıdır.”
  3. Eine Selbstdarstellung über Aktivitäten und Ausbau der Zweigstellen: ÜLKÜ 2/1933:108-14, 36/ 1936:459f., 25/1935:1-7, 69/1938:213f, 259-63, 97/1941:1f. Ähnliche Zahlen zu den Zweigstellen bei Karpat; 1950 erreichten sie mit 478 ihren Höchststand: Karpat (1963) 61. Zu den Aktivitäten auch: Öztürkmen (1994) 161-65.
  4. „İnanimiz bir olsun, çocuklar, bir tek olsun (…). Bizim kâbemizdedir, tapılacak kahraman. İki din birleşemez çocuklar, aynı ruhta.”
  5. Arab. „lau-laaka lau-laaka lama chalaqtul-aflaaka“. Obwohl die Aussage, vor allem im Volksislam und der islamischen Mystik seit Jahrhunderten zitiert wird, handelt es sich um keinen Hadiith.