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Islam im Balkan


Die Eroberung der Balkanhalbinsel durch die Osmanen im 8. Jh./14. Jh. bedeutete weder ein Ende des Christentums, noch eine Verdrängung der einheimischen Sprachen durch das Türkische. Die Tatsache, dass der Islam von manchen ethnischen Gruppen vollständig (Bosnier), überwiegend (Albaner) oder nur teilweise (Bulgaren, Mazedonier) übernommen wurde, zeigt, dass es keine planmäßig organisierten Bemühungen zur Islamisierung der eroberten Gebiete gab bzw. keine besondere Schritte unternommen werden, um die türkische Sprache zur Sprache aller Einwohner dieser Gebiete zu bestimmen.

Das gleiche gilt für die sprachliche Durchdringung: In manchen Gebieten des Balkans ließen sich türkische Bevölkerungsgruppen nieder; mancherorts wurden in der Frühzeit rebellische Gruppen aus Anatolien durch die osmanische Regierung umgesiedelt (z. B. aus Konya/Karaman nach Mazedonien), was zu einer Ausbreitung des Türkischen führte. In den meisten Gebieten hingegen blieb Türkisch eine – sicherlich privilegierte – Sprache des öffentlichen Lebens und Amtssprache. Auf diese Weise kam es durch ethnische Vermischung zur Herausbildung ethnisch-türkischer Minderheiten im Balkan, die aber nur bedingt auf eine anatolische Einwanderung zurückzuführen sind.

In den von Christen autonom geführten Einrichtungen wie Kirchen und Klöstern blieb die religiöse Erziehung ungebrochen in Händen der angestammten Würdenträger, welche das Serbische, Bulgarische oder Albanische als Religions- und Literatursprache weitertradierten.

Die Behauptung, das Osmanische Reich habe das Christentum und einheimische Traditionen vernichtet, kann sehr leicht durch die stark belegte Tatsache zurückgewiesen werden, dass nach der (je nach Region) zwischen 350 und 500 Jahren währenden Osmanischen Herrschaft ethnische Struktur und religiöses Bewusstsein der christlichen Balkanvölker weiterhin so intakt blieben, dass sie beim Niedergang des Osmanischen Reiches innerhalb von wenigen Jahrzehnten unabhängige Nationalstaaten zu gründen im Stande waren. Außerdem stellten die Nicht-Muslime die Mehrheit der Gesamtbevölkerung in diesen Gebieten dar.

Der Grund für die mangelnde Islamisierung bzw. Türkisierung muss jedoch nicht unbedingt in einer behaupteten “Toleranz” der Osmanen gesehen werden. Allgemein war es in europäischen Staaten bis zur Französischen Revolution und dem Aufkommen ideologischer Nationalismen im 19. Jh. oft völlig normal, dass der Staat nicht prägend in ethnische Beschaffenheit und Sprachverteilung der Gesellschaft eingegriffen hat, oder dass Monarchen nicht die Sprache ihrer Untertanen beherrscht haben.

Islam in Bosnien und Herzegowina

Osmanen (ca. 867-1295/1463-1878)

Gewöhnlich wird die islamische Geschichte des Balkans mit der osmanischen Ausbreitung im Balkan (ab dem Ende des 8. Jhs/14. Jhs.) in Verbindung gebracht. 1
Es gibt zahlreiche Belege, die darauf hinweisen, dass bereits Jahrhunderte vorher Muslime permanent im Balkan siedelten. Jedoch ist über diese Weniges an Geschichtlichem greifbar. Auch hatten diese Gemeinschaften offensichtlich aufgehört zu existieren, noch bevor es mit der osmanischen Eroberung zur ersten umfassenden Einbindung des Balkans in den islamischen Kulturkreis kam. Die heutigen islamischen Gemeinschaften im gesamten Balkan gehen auf die Osmanen zurück, wenn man von der momentanen (eher geringen) Einwanderung von Muslimen aus anderen Ländern (Diplomaten, Studenten, Geschäftsleute) absieht.

Bosnien als Teil von Österreich-Ungarn (1295-1337/1878-1918)

Der Verlust Bosniens und der Herzegowina für das Osmanische Reich war von weitreichenden Folgen für die Geschichte des Islams auf dem Balkan. Es scheint jedoch so, dass dem Osmanischen Reich in den ersten Jahren die Endgültigkeit dieses Verlusts kaum bewusst war. Dies liegt daran, dass sich der Anschluss an die Monarchie Österreich-Ungarns in Phasen vollzog.
Grund für den Verlust war der Berliner Kongress von 1878. Nach dem verlorenen Osmanisch-Russischen Krieg, bei dem Russland bis Yeşilköy (damals ein Vorort von Istanbul) gekommen war, wurde auf dem Berliner Kongress ein völliger Verlust der Balkan-Gebiete für die Osmanen abgewehrt. Grund war das Misstrauen der europäischen Mächte untereinander und vor allem ihr strategisches Interesse, Russland nicht bis an das Mittelmeer herankommen zu lassen.

Folgen des Berliner Kongresses waren:

a) die Verhinderung eines Großbulgarischen Reiches,

b) volle Unabhängigkeit der Balkanstaaten Serbien, Montenegro, Rumänien

c) die Verwaltung Bosnien-Herzegowinas durch Österreich.

Im Allgemeinen wurde die nun folgende österreichische Besatzungszeit (1878-1912) von den bosnischen Muslimen und den katholischen Kroaten (nicht jedoch von den orthodoxen Serben) wohlwollend aufgenommen. Vom Niedergang der Osmanischen Chilaafah enttäuscht, sahen die meisten Muslime keinen anderen Ausweg als die Zusammenarbeit mit der k.u.k. Monarchie, die auch eine wirtschaftlich und technologische Erschließung des Landes und gesellschaftliche Modernisierungsprojekte startete, während sie gleichzeitig den Muslimen weitgehend religiöse Autonomie überließ. Dies zeigte sich auch im Islamgesetz von 1912, das in der Folge der offiziellen Annexion Bosniens 1908 erlassen wurde. Die gleichberechtigte Teilnahme der Muslime am öffentlichen Leben sollte damit geregelt werden.

Königreich Jugoslawien (1337-1360/1918-1941)

Mit dem Zusammenbruch Österreich-Ungarns im Ersten Weltkrieg erlangten die ehemals slawischen Gebiete der Monarchie ihre Unabhängigkeit. Im Bereich der Sprecher südslawischer Sprachen kam es zur Gründung eines gemeinsamen Staates mehrerer verwandter Ethnien unter der Führung einer serbischen Monarchie. Die komplizierte Geschichte Bosniens und der Weg in den Genozid können nicht ver-standen werden, ohne die ethnische Zusammensetzung dieses neuartigen Staatsgebildes zu erfassen.

Die wichtigsten Völkerschaften im Königreich Jugoslawien waren dabei:

  • Serben: orthodoxes Christentum, Verwendung der kyrillischen (russischen) Buchstaben;
  • Montenegriner: ebenfalls orthodox, kyrillische Schrift – sprachlich kaum von Serben unterscheidbar;
  • Kroaten: Katholisches Christentum, Verwendung der lateinischen Buchstaben für ihre Sprachform, die dem Serbischen sehr verwandt ist (früher als Serbo-Kroatisch zu einer Sprache zusammengefasst);
  • Muslimische Bosnier/Bosniaken: gaben um die Wende des 20. Jhs. die arabischen Buchstaben zugunsten des lateinischen Alphabets auf. Ihre Sprachform unterscheidet sich kaum vom Kroatischen (und nur geringfügig mehr vom Serbischen).
  • Slowenen: Katholisch, ihre slawische Sprache weicht hingegen deutlich vom “Serbo-Kroatischen” der vier ersten Ethnien ab.
  • Mazedonier/Makedonier: Orthodoxes Christentum wie Serben und Montenegriner, ihre Sprache ist jedoch deutlich vom Serbo-Kroatischen unterschieden (dem Bulgarischen sehr ähnlich).

Andere Ethnien, die über weniger kulturelle Autonomie verfügten, waren:

  • Albaner im Kosovo und Mazedonien (überwiegend muslimisch, katholische Minderheit)
  • Sinti/Roma (oft nominell islamisch)
  • Türken, deren Zahl durch Abwanderung in die Türkei im 20. Jh. stark zurückging.

Das neugegründete Königreich hatte sich mit großen innerethnischen Konflikten auseinanderzusetzen. Jedoch ging es nicht unbedingt um die Frontstellung Muslime vs. Christen, sondern vor allem um die Konkurrenz zwischen Serben, welche die Herrscherdynastie (das serbische Köngishaus der Karađorđević) stellten und Kroaten. Auf sprachlicher Ebene herrschten kaum Kommunikationsschwierigkeiten. Jedoch ist die Frage, ob das Serbo-Kroatische eine Sprache in zwei Ausformungen (wie britisches und amerikanisches Englisch) sei oder ob es sich um zwei sehr ähnliche Sprachen handle, wissenschaftlich nicht zu beantworten sondern eine ideologische Frage. Sie wurde dementsprechend kontrovers diskutiert und führte auf kroatischer Seite stets zu Ängsten vor serbischer Dominanz und Überfremdung. Zwar gab es auf beiden Seiten Vertreter der Idee einer “jugoslawischen Nation”, also der Versuch, die geringen sprachlichen Unterschiede zwischen Serben, Kroaten, Bosniern und Montenegrinern zu überwinden und sie in einer gemeinsamen Identität zu verschmelzen. Nationale Eifersüchteleien ließen dieses Projekt jedoch stets scheitern.
Auf kroatischer Seite versuchte man oft, das Landestypische und die eigene katholische Tradition stark in den Vordergrund zu rücken, um sich von Serben/Montenegrinern abzugrenzen, die man als zu “balkanisch” betrachtete. Ein Grund ist natürlich, dass Kroaten immer von Mitteleuropa und meist von der österreichischen Geschichte (oder in Dalmatien von Italien) geprägt waren, während Serben über die orthodoxe Konfession immer stärker auf die Ostkirchen ausgerichtet waren. Auch die osmanische Grenze verlief jahrhunderte lang weitgehend parallel zur territorialen Grenze zwischen Kroatien auf der einen und Serbien/Bosnien auf der anderen Seite. Das Misstrauen zwischen Serben und Kroaten zog sich über den Zweiten Weltkrieg bis in die 90er Jahre hin, als es nach Krieg und Vertreibung endgültig zu der Auffassung kam, dass beide Ethnien sich als eigene Völker bezeichnen und unabhängig voneinander organisieren sollten.
Bei diesen Konflikten hielten sich die muslimischen Bosnier eher zurück. Auch war ihr Nationalgefühl teils sehr schwach ausgebildet. So bezeichneten sie sich, je nach Konjunktur, teils als kroatische Muslime, als Bosnier die Kroatisch sprechen, dann wieder als Bosniaken, mitunter sogar als serbische Muslime. Das eigentlich Identitätsbestimmende war letztendlich nur der Islam. Wurde dieser noch dazu vernach-lässigt, – was bei den städtischen Eliten im 20. Jh. ohnehin der Normalfall war, dann blieb für ein bosnisches Nationalgefühl kaum mehr übrig als ein gewisses Lokal-kolorit (vergleichbar mit den Bundesländern in Deutschland).
Das Königreich Jugoslawiens endete mit seiner Zerschlagung durch die Truppen Hitlerdeutschlands 1941, die das gesamte Land innerhalb weniger Wochen besetzten.

Der zweite Weltkrieg

In der Folge der deutschen Besatzung kam es zu einer Reihe entscheidender Entwicklungen, die ihre Auswirkungen bis heute haben. Es brach ein blutiger Bürgerkrieg aus, in dem sich folgende Protagonisten erbittert gegenüber standen:

  • Serbische Widerstandskämpfer, die für die Wiederherstellung der serbisch dominierten Monarchie kämpften. Dabei richteten sie sich gegen die deutschen Besatzer (und die mit ihnen verbündeten Kroaten), jedoch auch gegen die bosnischen Muslime. An diesen wurden vor allem in Ostbosnien grausame Massaker verübt, um das gemischt-ethnische Bosnien serbisch zu kontrollieren. Der Name dieser Truppen, Tschetniks (Četnik), fand erneut Verwendung während des Zerfalls Jugoslawiens (ab 1991).
  • Die deutschen Besatzer hatten zur Brechung des serbischen Widerstands vor allem die deutschfreundlich eingestellten Kroaten benutzt und diesen in Form des faschistischen Ustaša-Regimes einen abhängigen Satellitenstaat gewährt. Kroaten verübten ebenfalls genozidartige Übergriffe vor allem gegen Serben, Roma (“Zigeuner”) und Juden.
  • Die kommunistischen Partisanen unter Tito stellten sich gegen alle erwähnten Gruppen und strebten ein vereinigtes sozialistisches Jugoslawien an, in der die verschiedenen Ethnien gleichberechtigt leben sollten.

Die bosnischen Muslime fanden sich zwischen allen Stühlen. Durch die serbischen Massaker getrieben, versuchten viele sich der kroatischen Seite und damit den deutschen Besatzern zu nähern. Symbolträchtig und gleichzeitig verheerend für diese Zusammenarbeit wurde die Gründung einer eigenen SS-Einheit für die bosnischen Muslime: die Handschar-Division (Handžar/Chandschar, d. h. türkisch-arabische “Krummsäbel”).

Um die Muslime zu gewinnen, nützte man geschickt ihre religiösen Gefühle. So indoktrinierte man innerhalb der SS bosnische Imaame, die eine angebliche Vereinbarkeit von Nationalsozialismus und Islam predigen sollten. Bei manchen Muslimen fiel dies auf fruchtbaren Boden, weil ein vereinfachtes Geschichtsverständnis in den Köpfen vorherrschte, das ungefähr so zusammengefasst werden kann: “Die Briten haben die islamische Chilaafah (im 1. Weltkrieg) zerstört und zahlreiche islamische Länder kolonialisiert. Gegen Großbritannien, Frankreich und Russland stellen sich allein die Deutschen unter Hitler, die kaum Kolonialpolitik in der islamischen Welt betrieben hatten und bereits im 1. Weltkrieg mit den Osmanen verbündet waren. Also sind diese die einzige Rettung der muslimischen Balkanvölker.” Bestärkt wurde dieses naive Geschichtsbild durch die positiven Erinnerungen an die Österreicher, die dem Land zumindest materiellen Fortschritt und den Anschluss an europäische Bildung gebracht hatten, ohne die islamischen Institutionen anzugreifen.

Dass die Nationalsozialisten die bosnischen Muslime letztendlich für ihre eigenen Zwecke instrumentalisierten und die Handžar-Division statt zum Schutz der ost-bosnischen Bevölkerung vor serbischen Massakern für “Großdeutsche” Expansionsgelüste einsetzten, verstanden die meisten erst nach der endgültigen Niederlage.

Interessant ist, dass dieses Thema über die Jahrzehnte kaum großes Interesse geweckt hat, mit dem Beginn des Bosnien-Krieges in den 90ern aber hervorgeholt wurde, um seitdem propagandistisch gegen die Muslime eingesetzt zu werden: Die These lautet dabei, dass der Islam im Balkan direkt mit Faschismus und dem modernen Antisemitismus in Verbindung stehe.

Sieg des Kommunismus unter Tito

Sieger der Auseinandersetzungen waren mit der Niederlage Hitler-Deutschlands die kommunistischen Partisanen, die große Unterstützung in allen Teilen des Landes unter anderem dadurch gewinnen konnten, dass sie ein Ende der ethnischen Auseinandersetzungen in einer völlig neuen sozialistischen Staatsordnung versprachen. Viele dem Islam entfremdete Muslime Bosniens hatten sich ihnen angeschlossen. So fanden auch eine Reihe der entscheidenden Kämpfe der Partisanen im zentral gelegenen Bosnien statt und die Neugründung des kommunistischen Jugoslawiens wurde 1943 auf der Versammlung der AVNOJ (Antifaschistischer Rat der Nationalen Befreiung Jugoslawiens) im zentralbosnischen Jajce beschlossen.

Föderative Volksrepublik Jugoslawien (1945–1963) und Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien (1963-1992)

Für die Völker Jugoslawiens brachte der Sieg Titos zumindest ein Ende der wechselseitigen Sorgen vor Vertreibung und Völkermord. Im Gegensatz zur Politik des eigentlichen Ostblocks unter sowjetischer Führung war die Haltung der jugoslawischen Kommunisten auch gegenüber den drei religiösen Gemeinschaften toleranter. Abgesehen von kurzzeitigen radikalen Tendenzen und Verfolgungen in den 50er Jahren konnten weiterhin Moscheen und Kirchen unterhalten und religiöse Unterweisung in einem rudimentären Rahmen gewährleistet werden. Der Kampf gegen Religion vollzog sich subtiler – war jedoch im Endergebnis genauso wirksam wie in anderen kommunistischen Ländern. In den 70er Jahren war durch die Zunahme von Mischehen und Verstädterung eine Generation herangewachsen, die sich mehr als “Jugoslawen” fühlte und sich abgesehen von islamischen Restbeständen bei der Namensgebung kaum mehr von Serben und Kroaten unterschied.

Wiederbelebung des Bosniakentums

Trotzdem gab es stets auch Persönlichkeiten, die sich dem Zeitgeist und der kultur- und traditionszerstörenden Wirkung des sozialistischen Materialismus zu entziehen suchten und an einem eigenständigen Weg für Bosnien arbeiteten. Dies hatte nicht immer eine dezidiert islamische Grundlage, teilweise ging es lediglich darum, das Bosniakentum als eigenständige Volksgruppe zu etablieren.

Die Vorstellung lautete dabei: Wenn Kroaten und Serben sich als zwei Völker ansehen, obwohl ihre Sprachen fast identisch sind, wie sollte man den Bosniern verwehren, ihre Sprache als “Bosnisch” zu bezeichnen? Schließlich hatte diese Sprache eine eigene Literaturtradition im Osmanischen Reich und war stets anderen kulturellen Einflüssen – durch Islam und orientalische Sprachen – ausgesetzt.

Wieso aber hatte sich die Nationswerdung der Bosnier bis dato so verzögert?

Während der osmanischen Epoche stellte sich die Frage nach der “wahren” nationalen Identität der Bosnier kaum. Man war (mehr oder weniger praktizierender) Muslim, grenzte sich vor allem durch die Religion ab, hatte dafür mit den anderen muslimischen Ethnien des Balkans rege Beziehungen. Im Alltag sprach man einen der dort beheimateten südslawischen Dialekte und evtl. osmanisches Türkisch oder beherrschte, wenn man an der Madrasah studiert hatte, klassisches Hocharabisch und manchmal sogar Persisch. Die Notwendigkeit, ein nationales Bewusstsein zu entwickeln war vor dieser Einbettung in die islamische Ummah nicht gegeben.

Die Frage, wer die Muslime Bosniens seien, wurde vor allem im 20. Jh. diskutiert. Sind sie eine eigene Nation? Eine Ethnie? Ein Volk? Oder “nur Kroaten” (oder gar Serben? “Jugoslawen”?) muslimischen Bekenntnisses?

Die Frage nach der Identität einer Gemeinschaft ist ohnehin nicht wertfrei zu beantworten, ohne sich in ideologisches Fahrwasser zu begeben. Durchgesetzt hat sich mit dem Zerfall Jugoslawiens die Richtung des Bosniakentums. 2 Vertreter dieser Richtung waren und sind nicht immer praktizierende Muslime, aber im Normalfall auch nicht islamfeindlich. Teils wurde der Islam als ein Teil des eigenen Kulturerbes geschätzt, das sich in einem bestimmten Baustil, in Moscheen, orientalischen Basaren widerspiegelte – eine gesellschaftsformende Rolle der islamischen Weltanschauung und der Verhaltensnormen jedoch eher verneint. Vielmehr strebte man an, sich als gleichberechtigte Volksgruppe in die Reihe der Europäer einzuordnen.

Islamische Renaissance

Andere Intellektuelle sahen sich jedoch als bewusste Muslime, allen voran Alija Izetbegović (1925-2003), der bereits als Jugendlicher in den letzten Jahren des jugoslawischen Königreichs sich in der islamischen Jugendorganisation Mladi Muslimani (“Die Jungen Muslime”) für die Rechte der Muslime und gegen Assimilationsversuche einsetzte. Im neu gestalteten Jugoslawien Titos der unmittelbaren Nachkriegszeit wurde er zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt. Nach dem Jurastudium konnte er sich erfolgreich als Rechtsberater etablieren, engagierte sich jedoch durchgehend für eine Wiederbelebung des Islam.

1980 verfasste er das Buch “Islam zwischen Ost und West” 3. In einer Zeit als das jugoslawische Modell äußerlich gesehen auf dem Gipfel seines Erfolgs angekommen war, als die spezifische Form eines gemäßigten Sozialismus, als “dritter Weg” innerhalb der Bewegung der Blockfreien Staaten weltweit gepriesen wurde und gleichzeitig auch die Assimilation der bosnischen Muslime am stärksten fortgeschritten war, so dass ein Großteil schon den Islam als Relikt einer längst vergangenen Zeit zu belächeln (oder zu bemitleiden) begann, gab Izetbegović selbstbewusst eine andere Richtung vor: Nicht der östliche Kapitalismus mit seiner Überschätzung des Kollektivs und seiner Geringschätzung individueller Leistungen und nicht das westliche Modell mit seiner Neigung zu rücksichtsloser Kapitalvermehrung und gemeinschaftszerstörendem Kult um das Individuum böten der Menschheit noch die Vision einer besseren Zukunft, sondern allein der Islam, der als ausgewogenes göttliches Normensystem die Extreme vermeidet.

Zum Verhängnis wurde Izetbegović jedoch eine bereits in den 60er Jahren verfasste Schrift: die Islamische Deklaration, welche zuerst in inneren Kreisen der muslimischen Opposition zirkulierte und 1970 veröffentlicht wurde. Bei einer erneuten Verfolgungswelle in den 80er Jahren wurde ihm der Vorwurf gemacht, einen islamischen Staat auf dem Balkan errichten zu wollen und die Spaltung des Landes anzustreben. 1983 wurde er deswegen zu 14 Jahren Haft verurteilt. Er blieb bis 1988 inhaftiert und wurde frühzeitig entlassen, als sich der Verfall des Systems abzeichnete. Mit seiner ersten Haftstrafe aus den 50er Jahren verbrachte Izetbegović knapp 10 Jahre seines Lebens im Gefängnis. Als 1990 die Partei der demokratischen Aktion (SDA) gegründet wurde, wurde Izetbegović zum Vorsitzenden gewählt. Er verfolgte eine Reformpolitik für Jugoslawien für eine menschenwürdigere Zukunft und Freiheit für alle Bürger. Erst als ein Zusammenleben der Ethnien nicht mehr möglich schien, war Izetbegović gezwungen, auf den Kurs der Unabhängigkeit einzuschwenken. Der Weg dahin soll im Folgenden skizziert werden.

Jugoslawien in der Krise

Der Zerfall Jugoslawiens brachte die größte und ernsthafteste Bedrohung des muslimischen Bosniens in seiner gesamten Geschichte mit sich. Die Lage während des Genozids kann nicht dramatisch genug dargestellt werden. So gingen zeitweilig viele Beobachter des Krieges davon aus, dass dies das Ende für die muslimische Ethnie darstellen würde. Wie kam es jedoch dazu?

Die ersten Abspaltungsbewegungen Jugoslawiens gingen nicht von den Bosniaken aus. Früheste Anzeichen waren nach dem mit starker Hand regierenden Staatsgründer Tito Unruhen im albanisch besiedelten Kosovo 1981 und der in der Folge verhängte Ausnahmezustand. Auch hier geschah der Protest nicht im Namen des Islam, sondern eher als eine Konfrontation des albanischen Wunsches nach größerer Autonomie bzw. einer eigenen Republik im Verband der anderen jugoslawischen Teilrepubliken gegen die Weigerung Serbiens, zu dessen Gebiet der Kosovo damals gehörte.

Am Entscheidendsten war das erneute Erwachen von serbischem und kroatischem Nationalismus. Die durch die Ideologie des “Jugoslawismus” niemals ganz überwundene Kluft zwischen beiden Volksgruppen brach mit dem wirtschaftlichen Niedergang und dem Scheitern des “Dritten Weges” wieder auf. Spätestens nach dem Tode des charismatischen Tito (1980), waren die Risse im gesellschaftlichen Gefüge nicht mehr zu leugnen. Wie bei ähnlichen Konflikten dieser Art kann natürlich nie im Einzelnen bestimmt werden, wie sich der Konflikt hochschaukelte oder wer die “Alleinschuld” dafür trug. Auf kroatischer Seite sah man sich durch das Übergewicht des serbischen Einflusses in Staat, Partei und Gesellschaft in seiner Eigenständigkeit bedroht und reagierte mit einer Kultivierung der Unterschiede. Auf serbischer Seite reagierte man mit einer Übersteigerung der eigenen geschichtlichen Leistungen und Mythen: “Serben als Verteidiger des Abendlandes, die sich unter den Osmanen opfern mussten für ihr Festhalten am Christentum”; “Serben, die aus dem Kosovo (ehemals serbisches Siedlungsgebiet und Sitz zahlreicher Kirchen) durch das demographische Anwachsen des albanischen Bevölkerungsteils vertrieben zu werden drohten”; “Serben, denen man ihre geschichtliche Größe neidete” usw. Selbstverständlich beschleunigte diese Mythisierung die Reaktion der Gegenseite: Auf kroatischer Seite nahm das Gefühl des Bedrohtseins zu. Die Spirale aus Chauvinismus, Angst und Hass begann sich immer schneller zu drehen.

Abspaltung der Teilrepubliken

Die wirtschaftliche Lage Jugoslawiens war stets durch eine Kluft zwischen den wohlhabenderen nördlichen Provinzen (Slowenien, Kroatien) und den schwächeren (Serbien, Montenegro, Mazedonien, Bosnien) gekennzeichnet. Mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Systeme im Ostblock war auch der Zerfall des jugoslawischen Staatsverbandes nicht mehr aufzuhalten. Der Reihe nach lösten sich:

  • Slowenien, fast unblutig 1991.
  • Kroatien: Dort kam es ab 1991 zum Krieg um die serbisch besiedelten Gebiete der Krajina und Ostslawonien, die sich ihrerseits als unabhängig von Kroatien erklärten, kurzlebige Teilstaaten ausriefen und Serbien um Militärhilfe ersuchten.
  • Mazedonien löste sich praktisch konfliktfrei 1991.
  • Bosnien: Die Unabhängigkeitserklärung erfolgte 1992, worauf die serbischen Gebiete ihrerseits sich lösten und den blutigsten aller Jugoslawien-Kriege auslösten.
  • Als letztes löste sich 2006 – lange nach Ende aller Jugoslawien-Kriege – Montenegro, derjenige Staat, der ethnisch und ideologisch lange Zeit die engsten Verbindungen zu Serbien unterhalten hatte.

Genozid

Die letzte Bevölkerungsstatistik von 1991, kurz vor dem Völkermord zeigt, dass Bosnien, ein jugoslawisches Völkermosaik im Kleinen war. Von 4,36 Mio. Einwohnern bezeichneten sich 43,7% als Bosniaken, 31,4% als Serben und 17,3% als Kroaten. Nur 5,5% erklärte sich als Jugoslawen; diese künstliche Nationalitätsbezeichnung wurde vor allem von Angehörigen aus Mischehen gewählt, welche sich nicht einer bestimmten ethnischen Gruppe zuordnen wollten. 4 Nur in wenigen Gebieten stellte eine Gruppe die absolute Mehrheit. In den meisten Gebieten handelte es sich um relative Mehrheiten, die im Prinzip wie ein Flickenteppich über das ganze Staatsgebiet verstreut waren. Auch täuschen die Volkszählungen in den einzelnen Provinzen. So kann es sein, dass in einem Gebiet 70% einer bestimmten Ethnie insgesamt vertreten sind, diese jedoch vor allem die Landbevölkerung stellt und eine andere Ethnie die Provinzhauptstadt dominiert. 5

Die muslimischen Bosniaken waren seit der österreichischen Besetzung (ab 1878) durch die gesamte jugoslawische Geschichte hindurch kaum je mit Neigungen zum Separatismus hervorgetreten. Im Allgemeinen ging es ihnen höchstens um mehr Religionsfreiheit oder auch nur um Anerkennen eigener ethnischer Besonderheiten. Erst mit dem Ausscheiden von Slowenien und Kroatien aus dem Staatsverband nahmen die Befürchtungen vor einem noch größeren Übergewicht Serbiens in einem Restjugoslawien und damit der Ruf nach einem eigenen Staat spürbar zu. Mit den kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Serben und Kroaten in Kroatien schwappten die Nationalismen auch auf Bosnien über. In den mehrheitlich serbisch geprägten Gebieten (vor allem um Banja Luka und in Ostbosnien) waren die Gemeinderäte in Händen nationalistisch serbischer Kräfte, während das südliche Herzegovina zum größten Teil von kroatischen Nationalisten dominiert wurden – beide Seiten konnten sich leicht aus ihren angrenzenden “Mutterländern” mit Waffen versorgen, was den Muslimen Zentralbosniens aufgrund ihrer isolierten Lage verwehrt war.

Mit der lange verzögerten Unabhängigkeitserklärung im Frühjahr 1992 eskalierte die Lage. In den serbischen Gebieten Ostbosniens begann man mit der von langer Hand vorbereiteten ethnischen Säuberung: Als erstes wurden jeweils die wichtigsten muslimischen Persönlichkeiten der Ortschaften verhaftet: Imaame, Funktionäre der SDA und Intellektuelle. Moscheen wurden gesprengt, dann folgte die Vertreibung der muslimischen Bevölkerung, die Einrichtung von Konzentrationslagern und Massenvergewaltigungen muslimischer Frauen (Teils in eigens dafür eingerichtet-en Lagern). Ziel war es, für die nun erhoffte serbische Teilrepublik eine Vereinigung mit Serbien vorzubereiten und bis dahin möglichst große gemischte Gebiete durch “ethnische Säuberung” annektieren zu können. In den ersten Kriegsmonaten konnten sich die Muslime in manchen Gebieten nur dadurch behaupten, dass sie mit den Kräften der kroatischen Heimwehr zusammenarbeiteten bzw. sich ihnen unterstellten. Lange herrschte die Hoffnung vor, ein Stillhalten könnte eine Deeskalation und das von den europäischen Staaten erhoffte Einschreiten bewirken. Keiner konnte damals ahnen, dass die Weltöffentlichkeit dem Morden drei Jahre zuschauen würde, um mit immer neuen Resolutionen und Verhandlungen das naive Vertrauen der Bosnier auszunützen.

Allein die Belagerung Sarajevos, bei der die Zivilbevölkerung von den umliegenden Bergen beschossen und nur durch eine Luftbrücke und einen Tunnel versorgt werden konnte, dauerte von April 1992 bis Oktober 1995 – die längste Belagerung im 20. Jh. Knapp 10.000 Menschen kamen dabei ums Leben und zwar auch Serben und Kroaten, die gemeinsam mit den Muslimen ihre Stadt verteidigten.

Im Bewusstsein der Öffentlichkeit geblieben ist bis heute nur das Massaker von Srebrenica, das jedoch nur eines von vielen weiteren darstellt. Besonders bestürzend ist an ihm, dass es am Ende des Krieges stattfand, nachdem genug Informationen über den von General Ratko Mladić verübten Genozid vorlagen. Die Armee der separatistischen “Republika Srpska” hatte bereits in den ersten Kriegstagen Srebrenica im Osten Bosniens zu einer belagerten Enklave degradiert. In der Folge war Srebrenica 1993 zusammen mit einigen anderen belagerten Städten vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu einer “Internationalen Schutzzone” erklärt worden. Die bosniakischen Truppen der Umgebung wurden entwaffnet, während die Zivilbevölkerung Srebrenicas durch eine Zermürbungstaktik zum Aufgeben gezwungen werden sollte. Dies geschah in Anwesenheit internationaler Truppen, die sich darauf beriefen, kein Mandat für ein Vorgehen gegen die Aggressoren zu besitzen. Im Juli 1995 marschierten die serbischen Truppen tatsächlich ein, während die UNPROFOR-Einheiten keinen Widerstand leisteten. Zehntausende zivile Flüchtlinge begaben sich nach Potočari auf das Gebiet der Blauhelmsoldaten, um Schutz zu suchen. Die serbischen Soldaten verfolgten die Flüchtlinge, es kam zu Vergewaltigungen, Menschen begingen aus Verzweiflung Selbstmord, während durch gezielte Brandstiftung Panik unter den Flüchtlingen geschürt wurde. Am 12. und 13. Juli ergaben sich die Flüchtlinge in der Sommerhitze der einzigen Möglichkeit, die sich ihnen bot: Sie ließen sich von serbischen Bussen in bosniakisch kontrolliertes Gebiet abtransportieren. Die niederländischen Soldaten versuchten die Busse zu eskortieren, ließen aber nach Drohungen der Serben davon ab. Daraufhin begannen die Serben alle männlichen Flüchtlinge auszusondern und in entfernte Gebiete zu transportieren. Den niederländischen Blauhelmsoldaten wurde erklärt, man suche nach bosniakischen Kriegsverbrechern. Die in Bratunac internierten muslimischen Männer wurden in Massenerschießungen hingerichtet. Bis zum 17. Juli waren 8000 muslimische Männer und Jungen zwischen 12 und 77 Jahren ermordet. Die Leichname wurden in 21 Massengräbern verscharrt, die man bewusst in entfernt voneinander gelegenen Gebieten anlegte. Von den bisher 8000 exhumierten Leichen konnten über 6000 namentlich identifiziert werden.

Teilungspläne

Im Laufe des Krieges zerfiel auch die Koalition mit den Kroaten, welche von Anfang an zweckbestimmt war. In der Folge waren die Muslime Bosniens umzingelt.

  • An der Grenze zu Serbien lagen die weitgehend zum Beginn des Krieges “ethnisch gesäuberten” Gebiete Ostbosniens, durchzogen von einer Reihe von Enklaven, die unter dramatischen Umständen dreijährige Belagerungen zu überstehen versuchten.
  • Im Nordwesten um Banja Luka, dem Zentrum der bosnischen Serben, das Machtzentrum der international nicht anerkannten sog. “Republika Srpska;”
  • Den Süden (Herzegowina) kontrollierten weitgehend die Kroaten. Dort riefen sie im August 1993 die nicht anerkannte “Kroatische Republik Herceg-Bosna” aus.
  • Insgesamt waren ca. 70% des Landes von Serben besetzt. Für die Muslime verblieben zeitweise lediglich 10-20%.

In dieser Zeit kursierten auch Teilungspläne, die von den eigentlich verfeindeten Präsidenten Kroatiens (Franjo Tuđman) und Serbiens (Slobodan Milošević) aufgestellt wurden. Den Muslimen sollten nach diesen Plänen lediglich reservatsartige Enklaven zugestanden werden.

Ende des Bosnien-Krieges

Das gegen die Nachfolgestaaten Jugoslawiens verhängte Waffenembargo benachteiligte einseitig die bosnische Seite. Während Serbien einen Großteil der ehemaligen jugoslawischen Volksarmee, welche von allen Teilrepubliken gemeinsam aufgestellt worden war, “erbte” und sich Kroatien durch die lange dalmatinische Küste begünstigt auf dem Seewege illegal mit Waffen versorgen konnte, waren die Muslime Zentralbosniens dieser Möglichkeit beraubt. Nachdem die Muslime ihre kroatischen Verbündeten verloren hatten und damit auf sich alleine gestellt waren, kam es nach dreijährigem Krieg zu einer erstaunlichen Wende. Der bosnischen Armee gelang die Rückeroberung größerer Gebiete und vor allem die Schaffung eines Landkorridors von Zentralbosnien bis in das im äußersten Nordwesten gelegene Bihać. Bevor jedoch, teilweise wieder in Koalition mit kroatischen Truppen, ein Angriff auf das Zentrum der Republika Srpska erfolgen konnte, wurde auf internationalen Druck hin, eilig ein Waffenstillstand erzwungen. In der Folge kam es zum Vertrag von Dayton, der 1995 den Krieg offiziell beendete. Auf allen drei Seiten waren 200.000-300.000 Tote zu beklagen – in der Mehrzahl muslimische Zivilisten.

Mit dem Dayton-Vertrag herrschte Erleichterung, dass die vollständige Vernichtung des muslimischen Bosniakentums, wie sie 3 Jahre lang befürchtet worden war, abgewendet werden konnte. Es herrschte aber auch große Enttäuschung über die Weltgemeinschaft, die erst dann einschritt, als die Bosniaken militärisch stark wurden.

Neuordnung Bosniens

Die im Dayton-Vertrag vorgesehene politische Neuordnung ist äußerst kompliziert und labil. Grundsätzlich teilt sich Bosnien-Herzegowina in zwei große Teile:

  • Die Teilrepublik der Republika Srpska, mit 49% des Gesamtstaates und
  • Die Föderation von Bosnien und Herzegowina. Diese wird von muslimischen Bosniaken und Kroaten gemeinsam geführt, und umfasst die andere Hälfte.

Selbstredend sollte nach Anerkennung des Gesamtstaates jedem Bürger Wohnrecht in dem von ihm gewünschten Ort zustehen. In der Praxis hingegen wurde die Rückkehr von muslimischen Flüchtlingen in nunmehr serbisch dominiertes Gebiet sabotiert. Übergriffe gegen diese führten de facto zur Zementierung der ethnischen Segregation. Viele der von serbischen Truppen zerstörten Moscheen durften aufgebaut werden (manche unter Polizeischutz) – doch ohne dass sich danach ein geregeltes Gemeindeleben in der Umgebung entfalten konnte. Der Staat Bosnien-Herzegowina, der alle drei Ethnien gemeinsam beteiligen soll, konnte bis jetzt kaum überzeugend den Eindruck eines funktionierenden und souveränen Staates erzeugen.

Albanien

Albanischsprachige Muslime leben als Mehrheit in zwei Staaten: der Republik Albanien und dem erst seit 2008 unabhängigen Kosovo. Als starke Minderheit sind sie außerdem in Mazedonien (25 %) vertreten. 6 Verlässliche Angaben über die Anhänger der verschiedenen Religionen in Albanien gibt es nicht. Häufig wird der Anteil der Muslime auf 70% geschätzt, danach folgen Griechisch-Orthodoxe mit 20% und Katholiken mit 10%. Interessant ist, dass unter den Muslimen die Anhänger (bzw. Abkömmlinge von Angehörigen) des Bektaschi-Ordens 15-20% (vor allem im Süden) stellen sollen. Mit dem Verbot der Derwischorden in der Türkischen Republik 1925 war das Zentrum des Ordens nach Tirana verlegt worden.

Gleichwohl ist ein ungewöhnlich hoher Anteil von Atheisten und religiös indifferenten Personen festzustellen. Auffällig ist, dass Religion eher eine untergeordnete Rolle für die Identitätsbildung darstellt, vor allem wenn man Albanien mit den benachbarten Balkan-Staaten vergleicht. Viel stärker war stets der ausgeprägte Nationalismus mit dem sich Albanien vor allem von den slawischsprachigen Nachbarn sowie dem südlich gelegenen Griechenland zu unterscheiden bemühte. Auch der eigentlich internationalistisch konzipierte Kommunismus wurde in Albanien stets mit einer stark nationalistischen Färbung interpretiert. In diesem Zusammenhang wird oft die im 19. Jh. geprägte Wendung “Die Religion der Albaner ist das Albanertum” bemüht, welche die nur oberflächliche religiöse Bindung beschreiben soll. Die Islamisierung vollzog sich nach der osmanischen Eroberung im 15. Jh. schrittweise und zog sich über Jahrhunderte hin. Im Gegensatz zu Bosnien fand hier keine rasche Übernahme des Islams durch die Eliten statt. Besonders der antiosmanische Aufstand durch Skenderbeg blieb bis heute im kollektiven Gedächtnis und wurde von den nationalistischen Bewegungen der Neuzeit immer wieder vereinnahmt.

Der albanische Fürstensohn Skenderbeg (eigentlich Gjergj Kastrioti bzw. Georg Kastriota; 1405-68) war in seiner Jugend in Edirne als Geisel für die Botmäßigkeit seines Vaters gehalten und islamisch erzogen worden. Nachdem er 1438 nach Albanien zurückgesandt worden war, rebellierte er mitsamt den albanischen Truppen und organisierte einen landesweiten Aufstand gegen die osmanische Herrschaft. In dieser Zeit wandte er sich auch vom Islam ab und kehrte zum Katholizismus zurück. Die Burg von Kruja (nördlich von Tirana), in der er sich verschanzt hatte, konnte von den Osmanen trotz wiederholter Angriffe nicht eingenommen werden. Nach seinem Tod wurde er in einer katholischen Kirche in Lezha (Nordalbanien) begraben und sein Sohn folgte ihm als Herrscher. 1478 eroberten die Osmanen sämtliche albanischen Gebiete zurück und herrschten bis zum Beginn des 20. Jhs.

Erstaunlich ist auch hier, dass Skenderbeg über die religiösen Gemeinschaften hinweg lange Zeit in der albanischen Gesellschaft positiv rezipiert wurde: Als Held, der für die Befreiung seines Vaterlandes von den Osmanen kämpfte. Selbst unter Muslimen wurde dies lange Zeit nicht als Widerspruch zur eigenen islamischen Identität angesehen. Auch der doppelköpfige Adler auf rotem Grund, das Familienwappen Skenderbegs, wurde im letzten Jahrhundert zur Fahne Albaniens gewählt und bleibt fast durchgehend ein Symbol aller albanischer Gemeinschaften.

Mit dem sich ankündigenden Zusammenbruch des Osmanischen Reiches kam die sich im 19. Jh. entwickelnde albanische Nationalbewegung an ihr Ziel: Die Unabhängigkeit des Landes wurde nach dem 1. Balkankrieg im Jahre 1912 ausgerufen. Beteiligt waren als intellektuelle Vorreiter verhältnismäßig viele Katholiken, aber auch Bektaschis und sogar Albaner sunnitischer Herkunft, bei denen der antiosmanische Nationalismus naturgemäß am schwächsten ausgeprägt war. Im damals wirtschaftlich und technisch am geringsten entwickelten Staat 7 Europas konnten jahrelang nicht einmal Ansätze einer staatlichen Ordnung gebildet werden. Im Ersten Weltkrieg wurde das Land rasch von den Nachbarstaaten besetzt.

Ab 1924 errichte Ahmed Zogu (1895-1961), ein ehemaliger Stammesführer, ein autoritäres Regime. 1928 ließ er sich zum König ausrufen und führte ein luxuriöses Leben in dem völlig verarmten Land. Der sunnitische Islam wurde nach dem Vorbild der kemalistischen Türkei stark verdrängt, Kontakte zu islamischen Gemeinschaften im Ausland verboten. Gleichzeitig geriet das Land in immer stärkere wirtschaftliche und politische Abhängigkeit vom faschistischen Italien unter Mussolini. Diese besetzten das Land im Zweiten Weltkrieg, woraufhin Ahmed Zogu floh.

Aus dem Zweiten Weltkrieg gingen die kommunistischen Partisanen als Sieger hervor und übernahmen die Umgestaltung der Gesellschaft unter Enver Hoxha (sprich “Hodscha”, 1908-85), der das Land mit stalinistischen Methoden regierte.

Schon früh zeichnete sich ein eigener Weg Albaniens innerhalb des kommunistischen Osteuropas ab. 1961 kam es zum Bruch mit der Sowjetunion (welche als nicht konsequent kommunistisch eingestuft wurde) und zur Anlehnung an das maoistische China. 1967 wurde – einzigartig in seiner Konsequenz auch im Ostblock – Religion in all seinen Erscheinungsformen verboten und das Land offiziell zum ersten atheistischen Staat der Welt erklärt. Sämtliche Moscheen (damals nach offiziellen Angaben knapp über 1000), katholische und orthodoxe Kirchen wurden geschlossen. Die meisten dieser Gebetsstätten wurden zerstört oder bis zur Unkenntlichkeit umgestaltet. So wurde z. B. die bekannteste Moschee Tiranas, die Ethem-Moschee in ein “Museum für Atheismus” umgewandelt.

Zwar gab es in allen kommunistischen Staaten – vor allem in den Gründungsjahren – blutige Phasen der systematischen Bekämpfung von Religion. Behinderung von Religionsausübung besonders in den Städten unter den gesellschaftlichen Eliten gab es sogar durchgehend. Ein solch komplettes Verbot von Religion jedoch findet sich nur in Albanien, was durch die vollständige Isolierung des Landes von der Außen-welt erleichtert wurde. Ziel des Regimes war es – spätestens seit es 1978 auch zum Bruch mit China gekommen war -, Albanien zu einem völlig autarken von jeglichem Import unabhängigen Land auszubauen. Während andere kommunistische Regierungen davon ausgingen, dass mit zunehmender Erreichung der sozialistischen Ziele und der damit einhergehenden “Befreiung” des Menschen Religion sich von selber erübrigen und absterben würde, da sie als “Opium des Volkes” nur die Antwort auf die von Menschen geschaffenen Ausbeutungs- und Unrechtsstrukturen darstellte, versuchte man in Albanien dies durch Gewalt zu erreichen.

Die Phase des absoluten Religionsverbots dauerte ca. eine Generation: von 1967 bis 1990. Da sich bereits vorher die islamische Praxis weitgehend aus dem gesellschaftlichen Alltag zurückgezogen hatte, war demnach eine Generation von Menschen herangewachsen, die völlig losgelöst von jeglicher religiöser Bindung teilweise nicht einmal mehr eine Erinnerung an das vorherige formale Religionsbekenntnis ihrer Familie besaß.

Kosovo

Der Kosovo war in der osmanischen Zeit gemischt albanisch und serbisch besiedelt. Von serbischer Seite aus wird hervorgehoben, dass der Kosovo früher viel stärker serbisch geprägt war als heute, was sich an der großen Zahl serbisch-orthodoxer Klöster und Kirchen zeige. Auch hatte die für den Balkan so bedeutende “Schlacht am Amselfeld” (Kosovo Polje) im Jahre 1389 dort stattgefunden. Auf dem Amselfeld war eine große Armee verbündeter christlicher Herrscher (beteiligt waren neben Serben auch christliche Bosnier) gegen die Osmanen unterlegen. Am Ende der Schlacht wurde Sultaan Murad I. durch Miloš Obilić bei dessen vorgetäuschter Kapitulation erdolcht. Im späteren serbischen Nationalismus wurde entsprechend diese Schlacht als serbische Aufopferung für die christliche Sache gegen den heranrückenden Islam mythologisiert und vereinnahmt.

Durchaus richtig ist es, dass das zahlenmäßige Übergewicht der Albaner auf Wanderungsbewegungen der folgenden Jahrhunderte unter osmanischer Herrschaft zurückzuführen ist. Diese verstärkten sich nach der Unabhängigkeit des Fürstentums Serbien 1878 durch die entgegen gesetzten Wanderungsbewegungen. Problematisch und ideologisch ist es natürlich, aus diesen ethnischen Verschiebungen nationalstaatliche Ansprüche abzuleiten, wie es seit der Gründung Jugoslawiens bis zu seinem Zusammenbruch geschehen ist. Dort wurde die nachvollziehbare albanische Forderung nach Unabhängigkeit oder zumindest starker Autonomie durch Verweise auf jahrhundertealte “serbische Rechte” zurückgewiesen und mit Gewalt bekämpft.

Nach dieser Logik müssten jedoch andere Gebiete, die ihrerseits vor Generationen nicht serbisch besiedelt waren, ebenfalls “zurückgegeben” werden. Diese fatale Verquickung von Geschichte mit modernen Nationalismen stand hinter den meisten der innerjugoslawischen Konflikte.

In Jugoslawien war nach dem Tode des Staatsgründers Tito (gest. 1980) der Kosovo bereits 1981 der erste Schauplatz blutiger Proteste gegen den serbisch beherrschten Gesamtstaat. Slobodan Milošević (ab 1989 Präsident Serbiens) benutzte bei der Transformation des Kommunismus in den aggressiven serbischen Nationalismus als neuer Herrschaftsideologie genau den Kosovo als Bühne für seinen Aufstieg. So hatte er sich 1987 bei einer Demonstration der dortigen serbischen Minderheit, welche sich ihrerseits von einem autonomen Kosovo bedroht sah, geschickt an die Spitze der Bewegung gestellt und sich zum Sachwalter der “unterdrückten” Serben aufgeschwungen. In der Folge wurde der serbische Staat zentralisiert: Bis dato hatten innerhalb der serbischen Teilrepublik neben der ungarisch geprägten Vojvodina in Nordserbien auch der Kosovo im Süden des Landes einen Autonomiestatus besessen. Dieser Status erschien jedoch den Kosovoalbanern als zu dürftig; die Forderung zielte mindestens darauf ab, eine gleich berechtigte Teilrepublik Jugoslawiens 8 zu erhalten. Durch den nun folgenden Wegfall des Autonomiestatus wurden die Albaner in der Ausübung ihrer zivilen Rechte stark eingeschränkt. Serbisch ersetzte Albanisch als Amtssprache. Die albanische Nationalbewegung reagierte gewaltfrei und organisierte einen Parallelstaat, der die serbischen Institutionen boykottierte und eigenen Schulunterricht in albanischer Sprache organisierte.

1989 wurde die Stimmung weiter aufgeheizt durch die 600-Jahr-Feier der Schlacht auf dem Amselfeld, wo der Mythos des gescheiterten Abwehrkampfes gegen die “islamische Bedrohung” geschickt instrumentalisiert wurde. In enger Verbindung mit der orthodoxen Kirche hatte nun der serbische Nationalismus den Kommunis-mus als Herrschaftsideologie abgelöst.

Die Entwicklung im Kosovo wurde jedoch durch die Ereignisse in den anderen Republiken, welche sich Schritt für Schritt aus dem Staatsverband lösen wollten, in den Hintergrund gedrängt. Es folgten der Kroatien-Krieg (um die stark serbisch besiedelte Krajina 1991-95) und der Bosnien-Krieg (1992-95). Erst 1998 wuchsen sich die Ereignisse im Kosovo zu einem Guerillakrieg aus, der schließlich durch Eingriff der Nato-Truppen 1999 beendet wurde. Nach einer Zeit des unsicheren Übergangs wurde 2008 die Unabhängigkeit der Republik Kosovo proklamiert.

Wichtig ist, darauf hinzuweisen, dass im Gegensatz zum Bosnien-Krieg im Kosovo keine eigentliche religiöse Rhetorik zur Sprache kam. Die Führung der radikalen nationalistischen Befreiungsorganisation UÇK bestand zwar zum überwiegenden Teil aus Menschen muslimischer Herkunft 9, atheistisches oder gar religionsfeindliches Gedankengut beherrschte jedoch bei den säkularisierten Eliten des Kosovo schon seit Jahrzehnten den gesellschaftlichen Diskurs.

Mazedonien

Neben Albanien und dem Kosovo lebt eine weitere wichtige albanische Bevölkerungsgruppe in Mazedonien (Makedonien). Dort stellen sie ca. 25% der Gesamtbevölkerung und die zahlenmäßig größte Gruppe unter den Muslimen der Republik.

Mit dem Niedergang des Osmanischen Reiches kam es auf dem Gebiet des heutigen Mazedoniens, das stets äußerst multiethnisch geprägt war, zu zahlreichen Aufständen der christlichen (orthodoxen) Mazedonier. 1912 musste sich das Osmanische Reich nach dem verlorenen Balkankrieg zurückziehen, das Gebiet wurde teilweise Griechenland und mehrheitlich Serbien zugeschlagen. Sofort kam es zu anti-serbischen Aufständen der Mazedonier. Im Ersten Weltkrieg folgte die bulgarische Besatzung. Mit der Gründung des Königreiches Jugoslawien 1918 fiel Mazedonien wieder an Serbien. Da der serbische Nationalismus den mazedonischen Christen keine von den Serben eigenständige Identität zugestehen wollte, kam es zu keiner friedlichen Lösung. Als verbindend wurde das orthodoxe Bekenntnis angesehen, obwohl Mazedonisch sich als Sprache deutlich vom Serbischen (jedoch nur geringfügig vom Bulgarischen) unterscheidet.

Mit der Gründung des kommunistischen Jugoslawiens erhielt Mazedonien den Status einer sozialistischen Republik mit Hauptstadt Skopje. Den Muslimen ging es dort wie in den anderen muslimischen Siedlungsgebieten Jugoslawiens: Eine deutliche Verfolgung von Religion gab es nur in den Anfangsjahren, was auch zu zahlreichen Auswanderungswellen der Muslime (vor allem in die Türkei) führte. In den späteren Jahren wurde eine subtilere Politik verfolgt: Nach außen hin genossen die Anhänger der Religionen weitaus mehr Freiheiten als im gesamten Ostblock (oder gar im dezidiert atheistischen Albanien ab 1967) – so z.B. sichtbar an offiziellen Ausbildungsstätten für religiöses Personal. Bei Parteimitgliedern war man hingegen strenger: Diese konnten es sich kaum leisten, an religiösen Veranstaltungen teilzunehmen, wollten sie ihren Posten nicht verlieren. Insgesamt hoffte man auf ein natürliches Absterben der Religion mit Ausbreitung der sozialistischen Errungenschaften.

Die 1991 erfolgte Lossagung Mazedoniens von Jugoslawien geschah insgesamt unblutig. Offensichtlich war ein Grund hierfür, dass es in Mazedonien keine starke serbische Minderheit in einem kompakten Siedlungsgebiet gab, die ihrerseits mit Abspaltung drohen konnte, wie es im Falle Kroatiens und Bosniens geschehen war.

Jedoch waren die Minderheiten im neuen Mazedonien kaum mit ihrer rechtlichen Lage zufrieden. Obwohl nur 64 % Prozent sich als ethnische Mazedonier bezeichneten, stammten die an den Schalthebeln von Staat und Wirtschaft sitzenden einflussreichen Eliten fast ausschließlich aus dieser Bevölkerungsgruppe. Die stärkste nationale Minderheit, die in Westmazedonien in teilweise kompakten Siedlungsgebieten lebenden Albaner (ca. 25%), traten dabei am stärksten für ihre Rechte ein. Mit Ende des Kosovo-Konfliktes kam es hier zu der Gründung einer der kosovarischen UÇK vergleichbaren “Nationalen Befreiungsarmee”. 2001 eskalierte der Konflikt und kurzzeitig befürchtete man eine weitere genozidähnliche Entwicklung. Nach wenigen Monaten wurden jedoch Verhandlungen aufgenommen, welche rasch in ein allgemein anerkanntes Friedensabkommen (“Ohrid-Abkommen”) mündeten. Dieses sicherte der albanischen Minderheit eine erhebliche Ausweitung ihrer Minderheitsrechte zu.

In Mazedonien gibt es auch weitere muslimische Ethnien, die zusammen mit den Albanern auf ca. 30-35% der Gesamtbevölkerung geschätzt werden:

  • Eine relativ kleine türkische Minderheit (3,85%), da die zahlreichen Auswanderungswellen seit knapp hundert Jahren vor allem diese ethnische Gruppe dezimiert haben.
  • Torbeschen: Bei diesen handelt es sich um slawische Muslime, die sich des Mazedonischen als Muttersprache bedienen. Die Identitätsbildung dieser Minderheit ist verhältnismäßig komplex. Da es in der osmanischen Zeit (ähnlich wie bei den Bosniaken) keine allzu großen Anreize gab, sich als eigene ethnische Gruppe zu konstituieren, blieb man meist bei der Bezeichnung “Muslim”. Da die Bezeichnung “Torbesche” einen abwertenden Unterton aufwies, bezeichnete man sich teilweise auch als Türke. Dies geschah auch dort, wo man die Sprache nicht beherrschte, lediglich aufgrund der allgemein verbreiteten Gleichsetzung türkischer mit islamischer Identität. Auch in den Volkszählungen der jugoslawischen Zeit kam es nicht zur Ausbildung eines einheitlichen Selbstverständnisses. Als “Mazedonier” wollte (und will) man sich im Allgemeinen nicht bezeichnen, um eine mögliche Assoziation mit der christlichen Mehrheitsbevölkerung zu vermeiden. Daher ist auch eine zahlenmäßige Bestimmung schwierig. Schätzungen gehen von 120.000-200.000 aus.
  • 2,6% Roma, welche in Mazedonien zu einem großen Teil zumindest nominell islamischen Bekenntnisses sind. Da auch in der osmanischen Zeit die Roma in eigenen Siedlungen lebten und gesellschaftlich oft stigmatisiert wurden, war stets die gruppenbezogene Identität über der religiösen angesiedelt. Erst in den letzten Jahren scheint es hier zu einer stellenweise deutlicheren Praxis des Islams zu kommen. Gleichzeitig ist diese Ethnie weiterhin den meisten Verdächtigungen und kollektiven Vorurteilen ausgesetzt. Ihre soziale Lage hat sich seit dem Zusammenbruch des sozialistischen Wohlfahrtsstaates dramatisch verschlechtert. Ein selbstbewusstes Bekenntnis zu einer Roma-Ethnizität wird fast durchweg vermieden. Oft bezeichnen sie sich als Türken oder Mazedonier.

Serbien: Der Sandschak von Novi Pazar

Der Sandschak ist eine überwiegend muslimisch bevölkerte Gegend im Süden Serbiens und Norden Montenegros. Im Osmanischen Türkisch bezeichnete Sandschak (wörtl. “Banner”, Flagge”) eine Verwaltungseinheit. Lediglich im vorliegenden Fall wurde der verwaltungstechnische Ausdruck auf eine Ethnie übertragen. Statt vom “Sandschak von Novi Pazar” wird meist verkürzt vom “Sandschak” gesprochen.

Die slawisch sprechenden Bewohner bezeichnen sich auch teilweise mit dem türkischen “Sandschakli”. Auch hier gestaltete sich die Herausbildung einer eigenen Nationalidentität schwierig. Zwar teilte man mit den benachbarten Serben (sowie Kroaten und Bosniern) in der osmanischen Zeit eine weitgehend gleiche, lediglich dialektal gegliederte südslawische Sprache jedoch wurde mit den Bezeichnungen “Serbe” und “Kroate” immer auch ein religiöses Bekenntnis mitgedacht. Die Bezeichnung als “muslimischer Serbe” blieb daher unbefriedigend (durchaus zu hören ist die neutralere Bezeichnung “Muslim aus Serbien”). Genauso wenig hat sich “muslimischer Jugoslawe” durchgesetzt, da sich ein allgemeinjugoslawisches Bewusstsein nur in Ansätzen gebildet hatte und mit der Krise Jugoslawiens auch rasch wieder verschwand.

Nach der Unabhängigkeit Bosniens und der Neukonstituierung des Bosniakentums wurde dieser Begriff im Sandschak deutlich positiv rezipiert, weshalb man nun plötzlich von einer “bosnischen/bosniakischen Minderheit” in Südserbien spricht!

Die historische Landschaft Sandschak genoss nie eine besondere formale Autonomie in Jugoslawien. Sie liegt im Grenzgebiet von Serbien (hier liegen 2/3 des Sandschak) und Montenegro (ca. 1/3). Da diese beiden Teilrepubliken bis zum Schluss den Rest des verbliebenen Jugoslawiens repräsentierten, teilte die Unabhängigkeitserklärung Montenegros im Jahre 2006 das ohnehin schon kleine Gebiet in zwei Teile. Seitdem müssen sich die Muslime im südlichen Teil Sandschaks neu orientieren.

Im übrigen Serbien leben Muslime nur als eine sehr kleine Minderheit. Diese besteht aus Angehörigen der verschiedenen muslimischen Ethnien, die sich teilweise seit Generationen vor allem in der Hauptstadt Belgrad niedergelassen haben. Der Assimilationsdruck war während der jugoslawischen Zeit besonders deswegen stark, weil sich die ansiedelnden Muslime weder äußerlich noch sprachlich von ihrer Umgebung unterschieden. In einer Zeit, in der religiöse Institutionen kaum frei gegründet werden konnten und auch wenig Zugang zu muslimischer Literatur aus dem Ausland bestand, war es oft nur eine Angelegenheit von einer Generation bis die Assimilation und der Verlust der eigenen Identität komplett waren.

Ein Rückblick auf die osmanische Zeit ist an dieser Stelle interessant: Der osmanische Reiseschriftsteller Evliya Çelebi (1611 – ca. 1683) zählte im Jahre 1660 bei seinem Besuch Belgrads 275 Moscheen! 10 Nach der serbischen Unabhängigkeit (1817 bzw. vollständig seit 1878) wurden die meisten dieser Moscheen zerstört, genauso wie andere Denkmäler osmanischer Stadtkultur (Karawansereien, Derwisch-Konvente, Brunnen); die Stadt sollte ein mitteleuropäisches Gepräge bekommen und ihre orientalische Vergangenheit abschütteln. Geblieben bis heute ist eine einzige traditionelle Moschee, die um 1575 errichtete Bayrakli-Moschee!

Nach der Volkszählung von 2002 befindet sich auch die Anzahl der Muslime mit 1,29% weit unter dem Durchschnitt der anderen großen europäischen Staaten (Frankreich: Schätzungen bis zu 8%, BRD 5%).

Bulgarien

Bulgarien stellt seit 2007 den Staat mit dem größten muslimischen Prozentanteil (ca. 12%) innerhalb der Europäischen Union. Neben einer großen türkischen Minderheit (knapp 9%) und 5% Roma (teilweise muslimisch) gibt es auch die sog. Pomaken, eine weitere autochtone slawische Bevölkerungsgruppe muslimischen Bekenntnisses. 11 Sie sind strukturell mit den in Mazedonien ansässigen Torbeschen vergleichbar und teilen die gleichen Schwierigkeiten bei der Herausbildung einer eigenen Identität. Auch “Pomake” hat sich nicht als eigenes Ethnonym durchsetzen können, weshalb man oft auf eine Identifizierung mit “Türke” auswich. Da es sich bei den Pomaken vorwiegend um Dorfbevölkerung aus dem Rhodopen-Gebirge handelt, haben sich islamische Traditionen dort durchaus stark bewahren können.

Nachdem Bulgarien sich 1878 (Fürstentum) bzw. 1908 (Zarentum) in blutigen Aufständen die Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich erkämpft hatte, kam es auch hier sofort zu großen Auswanderungswellen in die Türkei, was die muslimische Gemeinschaft enorm schwächte. So fiel allein die Zahl der Pomaken laut Volkszählungen zwischen 1878 und 1934 von 500.000 auf 134.000. In großen Gebieten Bulgariens muss es in der Osmanischen Zeit muslimische Mehrheiten gegeben haben. 12

Auch versuchte man in mehreren Wellen die Pomaken als angeblich in osmanischer Zeit zwangsbekehrte Bulgaren zu ihren Wurzeln “zurückzuführen”: Zwangstaufen ganzer Dörfer fanden im Anschluss an den Balkankrieg 1912/14 statt, was einige Jahre später wieder rückgängig gemacht wurde. In den 30er Jahren wurden den Pomaken bulgarische Namen vorgeschrieben. Auch dies nahm man nach dem zweiten Weltkrieg zurück.

Erstaunlich ist, dass ein weiteres Mal in der späten kommunistischen Zeit ein solcher staatlich angelegter Assimilationsversuch unternommen wurde: So wurden der türkischen Minderheit bulgarische Nachnamen verordnet und sogar die Beschneidung bei Jungen verboten. Diese restriktiven Maßnahmen lösten eine unerwartet große Auswanderungswelle Ende der 80er Jahre in die Türkei aus. Die entstandenen wirtschaftlichen und sozialen Probleme in Bulgarien verschärften die allgemeine Krise und müssen in Zusammenhang mit dem 1990 erfolgten Zusammenbruch des kommunistischen Systems gesehen werden.

 

Notes:

  1. Einblicke in die Geschichte des Landes bieten die Bücher von Smail Balic, vor allem das umfang­reiche, kulturhistorisch wertvolle Hauptwerk: Das unbekannte Bosnien. Köln 1992. Ebenso: Bosnien und der deutschsprachige Kulturraum: Eine historisch-zeitgenössische Skizze (Köln 1992) und „Die Muslims im Donauraum. Wien 1971.“
  2. Bošnjaci als Bezeichnis für Angehörige der muslimischen Volksgruppe, ungeachtet ihrer persönlichen Bindung an den Islam. Bosnier sollte eigentlich für Muslime, katholische und orthodoxe Christen ver­wendet werden, die Staatsangehörige des Staates Bosnien sind. Letztere lehnen jedoch oft diese Be­zeichnung ab und sehen sich als „Kroaten aus Bosnien“ bzw. „Serben aus Bosnien“.
  3. Englische und Türkische Übersetzungen des Buches existieren.
  4. 13Interessant ist, dass diese Option besonders häufig in Bosnien gewählt wurde. Bei der Volkszählung von 1961 hatten sich in Bosnien über 8 % als Jugoslawen klassifiziert, während dies auf der Ebene des Gesamtstaates nur 1,7 % taten – ein weiterer Hinweis auf die Ambivalenz der eigenen Identität.
  5. In vielen Gebieten ist es der Fall, dass Muslime das Gros der Stadtbevölkerung stellten und Serben die überwältigende Mehrheit der Dorfbevölkerung – ein Phänomen, das bereits seit der osmanischen Zeit bezeugt ist. So wurde auch in der ersten Bevölkerungszählung der österreichischen Besatzungszeit von 1879 bei einer Gesamtbevölkerung von etwas über einer Million eine Mehrheit von Serben (42,87%) festgestellt, denen 38,73% Muslimen und 18,08% Kroaten gegenüberstanden. Gleichzeitig zeigten die wichtigsten Städte Bosniens ein überwiegend islamisch-osmanisch geprägtes Stadtbild.
  6. Die ethnische Selbstbezeichnung lautet Shqip (in älterer deutscher Literatur „Skipetaren“), im Türk­ischen wurden sie als „Arnavut“ (aus dem Griechischen „Arvaniten“) bezeichnet.
  7. Das Land muss damals weit unter einer Million Einwohner gehabt haben. Eine Generation später (1942) werden lediglich 1,1 Mio Einwohner angeben.
  8. Die sechs Teilrepubliken Jugoslawiens waren: Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Montenegro und Mazedonien. Nur Serbien hatte ab 1974 die Besonderheit zweier zusätzlicher auto­nomer Teilgebiete.
  9. Im Gegensatz zu Albanien, sind die Kosovo-Albaner fast ausschließlich sunnitischer Herkunft. Eine Minderheit von ca. 3% ist katholisch. Von der serbischen Minderheit ist ein großer Teil durch die kriegerischen Auseinandersetzungen vertrieben worden.
  10. Belgrad gehörte damit zu den größten Städten Europas. Für die damalige Zeit wurde die Bevöl­kerungszahl auf 98.000 Einwohner geschätzt, von denen eine Minderheit – 21.000 Einwohner – nicht islamischen Bekenntnisses waren.
  11. Pomaken leben auch in Nordgriechenland in eigenen Dörfern, wo sie aber oft unter die türkische Minderheit subsumiert werden. In den 90er Jahren begann man eine Schriftsprache zu entwickeln, die sich der griechischen Schrift bedient.
  12. Das Brockhaus´ Conversations-Lexikon gab für 1885 über 42% Muslime im Fürstentum Bulgarien und über 20% für Ostrumelien an, zusammen fast 33% für beide Hälften Bulgariens. Noch um 1900 waren 15 % der Stadt Plovdiv Türken.