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An-nasab أحكام النسب Die islam-konforme Abstammung


Einleitung

Weil die Familie den Kernbaustein jeder Gesellschaft bildet und einen hohen sozialen Stellenwert besitzt, gehört der Schutz ihrer Strukturen zu den wichtigsten Zielen der Scharii’ah. Auch der Schutz und die Sicherstellung der Nachkommenschaft, die als höchste Rechtsgüter und unerlässliche menschliche Bedürfnisse größte Priorität genießen, gehören zu diesen Zielen. Eine stabile und funktionierende Familie basiert insbesondere auch auf dem Wissen um die eindeutigen Abstammungsverhältnisse aller ihrer Mitglieder.

وَهُوَ ٱلَّذِي خَلَقَ مِنَ ٱلۡمَآءِ بَشَرٗا فَجَعَلَهُۥ نَسَبٗا وَصِهۡرٗاۗ وَكَانَ رَبُّكَ قَدِيرٗا ٥٤

Auch ist Er Derjenige, Der aus dem Wasser einen Menschen erschuf, dann machte Er ihn mit Abstammung und Verschwägerung. Dein Herr ist immer allmächtig! 1

Die Erfahrung in allen Gesellschaften, westlichen, östlichen, religiösen und nicht-religiösen, zeigt, dass die Unklarheit über die Abstammung eines Familienmitgliedes große Konflikte in der Familie bewirken kann. Vor allem unter dem Gesichtspunkt der Berufung zum rechtmäßigen Erben spielt die Klärung der Verwandtschaftsverhältnisse eine sehr wichtige Rolle und kann in einer Familie fatale Auswirkungen haben. Deshalb legt die Scharii’ah großen Wert auf die Klärung der Abstamm-ung. Von der Abstammung abhängig ist beipielsweise, ob

  • eine Person im Grad der Verwandtschaft mit einer anderen Person zum Kreis der Mahaarim gehört. In diesem Fall liegt zwischen beiden ein Ehehindernis vor.
  • eine Person die Wilaayah-Funktion bei der Eheschließung einer verwandten Frau übernehmen kann.
  • eine Person Unterhalt geltend machen kann bzw. zur Unterhaltssorge verpflichtet ist.
  • eine Person in der Erbfolge berufen werden darf.
  • einer Person bei testamentarischen Verfügungen ein Anteil gewährt werden darf.

Ebenso wie die Scharii’ah die blutsverwandtschaftliche Familienbeziehung schützt und würdigt, verurteilt sie aufs Schärfste Personen, die diese Institution missbrauchen und ein neues (illegitimes) Mitglied widerrechtlich in die Familie einschleusen, um sich oder anderen Vorteile zu erschleichen, oder um einem legitimen Mitglied den Zugang zu verwehren. Der Gesandte (sallal-laahu ‘alaihi wa sallam) warnte mit sehr scharfen Worten vor den Folgen solcher Machenschaften:

‏أَيُّمَا امْرَأَةٍ أَدْخَلَتْ ‏‏عَلَى قَوْمٍ مَنْ لَيْسَ مِنْهُمْ فَلَيْسَتْ مِنْ اللَّهِ فِي شَيْءٍ وَلَنْ يُدْخِلَهَا اللَّهُ جَنَّتَهُ وَأَيُّمَا رَجُلٍ ‏جَحَدَ ‏‏وَلَدَهُ وَهُوَ يَنْظُرُ إِلَيْهِ احْتَجَبَ اللَّهُ مِنْهُ وَفَضَحَهُ عَلَى رُءُوسِ الْأَوَّلِينَ وَالْآخِرِينَ يَومَ القِيَامَة.

Jede Frau, die einer Familie ein Kind zuschreibt, das nicht zu ihr gehört, hat bei Allaah nichts. Und Allaah wird sie nicht in das Paradies eintreten lassen. Auch jeder Mann, der sein Kind aberkennt, während er sich seiner Abstammung von ihm sicher ist, wird Allaahs Gnade nicht erfahren, und Er wird ihn vor den Ersteren und den Letzteren am Jüngsten Tag bloßstellen! (A, N, I)

Auch Personen, die ihre ursprüngliche Abstammung verleugnen und fremde Personen zu ihren Eltern erklären, erwartet eine schwere Strafe:

مَنْ اِدَّعَى إلىَ غَيرِ أَبِيهِ وَهُوَ يَعْلَمُ فَالجَنَّةُ عَليَهِ حَرَامُ.

Wer wissentlich einen anderen als den eigenen leiblichen Vater vorgibt, dem wird der Eintritt ins Paradies untersagt! (M, B, A, I, AH)

Die Scharii’ah verbot zudem den vorislamischen Brauch der Adoption als Mittel zur Herstellung eines künstlichen Familienbandes.
Auch der Gesandte (sallal-laahu ‘alaihi wa sallam) hatte vor der Zeit seiner Sendung Zaid Bnu-haarithah adoptiert. Zur damaligen Zeit rief man das adoptierte Kind Zaid Bnu-muhammad, Zaid Muhammads Sohn. Mit der Hinabsendung der Aayah (33:5) wurde die Rechtmäßigkeit derartiger Adoption endgültig aufgehoben:

ٱدۡعُوهُمۡ لِأٓبَآئِهِمۡ هُوَ أَقۡسَطُ عِندَ ٱللَّهِۚ فَإِن لَّمۡ تَعۡلَمُوٓاْ ءَابَآءَهُمۡ فَإِخۡوَٰنُكُمۡ فِي ٱلدِّينِ وَمَوَٰلِيكُمۡۚ وَلَيۡسَ عَلَيۡكُمۡ جُنَاحٞ فِيمَآ أَخۡطَأۡتُم بِهِۦ وَلَٰكِن مَّا تَعَمَّدَتۡ قُلُوبُكُمۡۚ وَكَانَ ٱللَّهُ غَفُورٗا رَّحِيمًا ٥

Nennt sie nach ihren leiblichen Vätern! 2 Dies ist gerechter vor Allaah. Solltet ihr für sie keine Väter kennen, so sind sie eure Brüder im Islam 3 und eure Verbündeten. Euch trifft keine Verfehlung in dem, wo ihr Fehler schon gemacht habt, sondern nur da, wo eure Herzen es beabsichtigt haben. Allaah ist immer allvergebend, allgnädig. 4

Im Umkehrschluss ist es ab diesem Zeitpunkt auch verboten, ein fremdes Kind als sein Eigenes zu bezeichnen. Daraus ist jedoch nicht das Verbot abzuleiten, ein fremdes Kind in die eigene Familie aufzunehmen, es wie ein eigenes Kind zu pflegen und zu behüten, es großzuziehen, ihm die beste Erziehung zuteil werden zu lassen und ihm eine fundierte, umfass-ende Bildung und Ausbildung zu ermöglichen. Dieses Verhalten wird von der Scharii’ah nicht nur explizit bejaht, sondern gewünscht und gefördert. Allerdings entstehen aus diesem Pflegschaftsverhältnis keiner-lei Abstammungsfolgen wie beispielsweise die Geltendmachung eines Erbschaftsanspruches, da die Voraussetzungen einer islam-konformen Familienzugehörigkeit nicht gegeben sind.
Die Scharii’ah erkennt eine Familienzugehörigkeit nur durch eine islam-konforme Ehe und eine wahre Abstammung von einem männlichen As-zendenten an.
Im Unterschied hierzu kannte man in vorislamischer Zeit zur Herstellung von Verwandtschaftsbeziehungen neben Ehe und Abstammung noch die Adoption (Tabanni تبني) und die willkürliche Zurechnung eines Kindes zu einem anderen Mann als dem biologischen Erzeuger 5. Wie oben erwähnt, wurde die Zulässigkeit der Adoption durch die Aayah (33:5) aufgehoben. Die Zurechnung eines Kindes zu seinem Erzeuger wurde durch die Einführung einer festgelegten Eheauflösungsfrist (‘Iddah) für die geschiedene Frau und die Witwe sichergestellt.

Notes:

  1. Quraan (25:54)
  2. „Nennt sie nach ihren leiblichen Vätern!“ bezieht sich nach den Quraanexegeten unmittelbar auf den Gesandten (sallal-laahu ’alaihi wa sallam).
  3. Ursprünglich: „Diin“, siehe Glossar.
  4. Quraan (33:5)
  5. Vgl. Kapitel 4.2. Formen der vorislamischen Eheschließungen, S. 98 ff. Hadiith von ‘Aischah (radial-laahu ‘anha) über die Heiratsformen in der vor­islamischen Zeit. Weiterhin war es damals Brauch, schwangere, geschiedene oder verwitwete Frauen zu heiraten, ohne eine Eheauflösungs­frist für die Frau einzuhalten. Der neue Ehemann beanspruchte die von seiner Frau geborenen Kinder als seine eigenen, obwohl er eindeutig nicht der Erzeuger sein konnte.