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Verifikation in der Islamologie


Der Islam versteht sich als eine umfassende und transparente Lebensweise ohne Mysterien, die keine Trennung zwischen Wissen und Iimaan, zwischen Diesseits und Jenseits, zwischen Sakralem und Säkularem oder zwischen Natur-, Geistes- und Islam-Wissenschaften kennt. Alles basiert auf der Basis des Menschenmöglichen. Allaah (ta’aala) verlangt von den Menschen nur das, was sie vermögen:

Ÿلَا يُكَلِّفُ ٱللَّهُ نَفۡسًا إِلَّا وُسۡعَهَاۚ لَهَا مَا كَسَبَتۡ وَعَلَيۡهَا مَا ٱكۡتَسَبَتۡۗ رَبَّنَا لَا تُؤَاخِذۡنَآ إِن نَّسِينَآ أَوۡ أَخۡطَأۡنَاۚ رَبَّنَا وَلَا تَحۡمِلۡ عَلَيۡنَآ إِصۡرٗا كَمَا حَمَلۡتَهُۥ عَلَى ٱلَّذِينَ مِن قَبۡلِنَاۚ رَبَّنَا وَلَا تُحَمِّلۡنَا مَا لَا طَاقَةَ لَنَا بِهِۦۖ وَٱعۡفُ عَنَّا وَٱغۡفِرۡ لَنَا وَٱرۡحَمۡنَآۚ أَنتَ مَوۡلَىٰنَا فَٱنصُرۡنَا عَلَى ٱلۡقَوۡمِ ٱلۡكَٰفِرِينَ ٢٨٦

Allaah erlegt einer Seele nur das auf, was sie vermag. Ihr gebührt, was sie erworben, und ihr obliegt, was sie sich angeeignet hat. ‚Unser Herr, belange uns nicht, wenn wir vergessen oder Fehler begangen haben! Unser Herr, erlege uns keine schweren Verpflichtungen auf, wie Du dies denjenigen vor uns auferlegt hast! Unser Herr, und gebiete uns nicht, was wir nicht vermögen, erlasse uns, vergib uns und erbarme Dich unser! Du bist unser Herr 1, so leiste uns Beistand gegen die leugnenden 2 Leute!’ 3

Zu verifizieren hat man in der Wirklichkeit entweder Hypothesen bzw. tradierte Mitteilungen mit für Menschen mit üblichen Mitteln überprüfbaren Inhalten oder Hypothesen bzw. tradierte Mitteilungen mit für Menschen mit üblichen Mitteln nicht überprüfbaren Inhalten.
Diese Hypothesen und tradierten Mitteilungen basieren wiederum entweder auf der Vernunft (Logik) oder auf der Empirie oder sie entstammen Regeln, die von Menschen festgelegt werden und im Bereich von Auffoderungen zum Tun oder zur Unterlassung liegen oder jenseitigen Aussagen, die weder mittels der Vernunft noch mittels der Empirie überprüfbar sind.

Die wissenschaftliche Methodik in der Islamologie zur Verifizierung von Wahrnehmungen, Erkenntnissen und Aussagen kann folgendermaßen zusammengefasst werden:

إنْ كُنْتَ نَاقِلاً فالصِّحَّة ، وإنْ كُنْتَ مُدَّعِياً فالدَّليِل.

Bei Tradierungen muss die Makellosigkeit und bei Hypothesen bzw. Behauptungen müssen die Inhalte nachgewiesen werden.

Diese Regel bedeutet im Allgemeinen, dass Tradierungen mit für Menschen unüberprüfbaren Inhalten wie die Ereignisse am Jüngsten Tag erst angenommen werden, wenn deren Makellosigkeit und Authentizität bewiesen wurde, und dass Hypothesen mit für Menschen überprüfbaren Inhalten ebenfalls erst angenommen werden, wenn sie entweder nach der Logik oder nach der Empirie bewiesen wurden bzw. werden können.

Bedeutung dieser Regel im Einzelnen:

Beweis der Makellosigkeit (sihhah) einer Tradierung

Die Makellosigkeit einer Überlieferung, d. h. die reine Inhaltsweitergabe einer Überlieferung ohne eigene Wertung, Kommentierung oder Interpretation, wird bewiesen durch:

– Nachweis der Makellosigkeit des Tradierungsweges;

– Nachweis der Lückenlosigkeit der Tradentenkette von der Quelle bis zum letzten Tradenten bzw. bis zur schriftlichen Aufzeichnung;

– Nachweis der Vertrauens- und Glaubwürdigkeit, der Erinnerungs- und Merkfähigkeit sowie der kommunikativen Kompetenz aller Tradenten ohne Ausnahme.

Zur Überprüfung eines Hadiith bzw. einer Tradierung haben die Hadiith-Wissenschaftler verschiedene Fachgebiete entwickelt, die es ermöglichen, mit Hilfe klar definierter Kriterien den Authentizitätsgrad der islamischen Quellen wissenschaftlich zu überprüfen und zu belegen.
Diese Bewertungsskalen stellen die objektive Entscheidungsgrundlage für die Akzeptanz bzw. das Zurückweisen einer Tradierung dar.
Erwähnenswert sind folgende wissenschaftliche Disziplinen, die von den Gelehrten zur Bewertung der Sunnah entwickelt wurden und in den verschiedenen islamologischen Wissenschaftsbereichen bekannt sind und angewandt werden:

– Die Hadiith-Definitionen
Überprüfung, Bewertung und Einteilung der Überlieferungen in klar definierten Kategorien sind die wichtigsten Aspekte in dieser Disziplin. Man unterteilt die Hadiithe z. B. in “sahiih صحيح (wörtlich richtig bzw. gesund)”, “hasan
حسن (wörtlich gut bzw. schön)”, “da’iif ضعيف (wörtlich schwach)”, “mauduu’ موضوع (wörtlich erfunden)”, usw.

– Biographien der Tradenten (taraadschimur-ruwaah, تراجم الرواة)
In dieser Disziplin werden wesentliche Lebensdaten aller Tradenten (Frauen und Männer) dokumentiert, z. B. Geburt, Tod, familiäres und soziales Umfeld, Charaktereigenschaften, Krankheiten, Allgemeinbildung und islamische Bildung, intellektuelle und praktische Fähigkeiten, Moral, Verhaltensweisen, Lehrer, Schüler, etc.

– Beurteilung der Tradenten (al-dscharhu wat-ta’diil, الجرح والتعديل)
Überprüfung, Bewertung und Einteilung der Überlieferer in klar definierten Kategorien sind die wichtigsten Gebiete in dieser Disziplin, z. B. die Einteilung in vertrauenswürdig/nicht vertrauenswürdig, glaubwürdig/unglaubwürdig, zuverlässig/unzuverlässig, mit exzellentem, gutem, mittelmäßigem oder schlechtem Erinnerungs- bzw. Merkvermögen, kommunikative Kompetenz usw.

Bei Überlieferungen unterscheidet die Hadiith-Wissenschaft nach Anzahl der Tradenten in jeder Tradentengeneration insbesondere zwischen Aahaad-Überlieferungen und Mutawaatir-Überlieferungen.

Die Aahaad-Überlieferungen الآحاد

Die Aahaad-Überlieferungen (ahaadiithul-aahaad) sind Überlieferungen, die in einer Tradentengeneration oder in mehreren Tradentengenerationen nur von einzelnen bzw. von einer kleinen Anzahl Tradenten (d. h. von einer geringeren Anzahl als bei Mutawaatir-Überlieferungen, s. u.), überliefert wurden.

Um eine Aahaad-Überlieferung z. B. in der sahiih-Kategorie einordnen zu können, muss sie folgende Kriterien erfüllen:

– Lückenlosigkeit der Tradentenketten von der Quelle bis zum letzten Tradenten bzw. zur schriftlichen Aufzeichnung.

– Nachweis eines exzellenten Erinnerungsvermögens (dabt ضبط) und der Vertrauenswürdigkeit (‘adaalah عدالة) aller Tradenten.

– Die Überlieferung darf kein “schudhuudh شذوذ” enthalten, d. h., die Überlieferung eines vertrauenswürdigen Tradenten (thiqah ثقة) darf keine Abweichungen aufweisen beim Vergleich mit Überlieferungen gleichen Inhalts von anderen höher eingestuften (d. h. vertrauenswürdigeren: authaq أوثق) Tradenten.

– Die Überlieferung darf keine “‘illah علة” enthalten, d. h., weder die Hadiith-Kette noch der Hadiith-Text dürfen irgendwelche versteckten Fehler bzw. Mängel enthalten, durch die ihre Eindeutigkeit und Echtheit beeinträchtigt werden könnte.

Die Mutawaatir-Überlieferungen المتواتر

Die Mutawaatir-Überlieferungen sind Überlieferungen, die über ihre gesamte Überlieferungskette hindurch (in jeder Tradentengeneration) von einer großen Tradentenmenge überliefert wurden, deren Mitglieder eine Falschaussage nicht hätten absprechen können.

Weitergehende Detailfragen und ausführliche Erläuterungen insbesondere in Bezug auf die Größe der Tradentenmenge und weitere Kriterien der Mutawaatir-Überlieferungen sind den Standardwerken der Hadiith-Wissenschaften und ‘Uluumul-hadiith, Band 9 der Islamologischen Enzyklopädie zu entnehmen.

Bezüglich der unabdingbaren Inhalte der ‘Aqiidah werden ausschließlich Mutawaatir-Überlieferungen zugelassen, weil diese nach der Vernunft die einzigen Belege sind, die unzweifelhaft und unanfechtbar sind und somit als gewiss anzunehmen sind.

Sollte man trotzdem einen Inhalt dieser Mutawaatir-Tradierungen zurückweisen, fällt man vom Islam ab, weil man damit etwas verleugnet, das notwendig zum Islam gehört.

Beweis einer Hypothese bzw. Behauptung

Zur Überprüfung der Richtigkeit und Nachvollziehbarkeit der Beweisführung einer Behauptung geht die Islamologie wie folgt vor:

a. Hypothesen, die einen materiellen Bezug haben, müssen durch die Empirie (d. h. durch Beobachtungen, Experimente und Sinneserfahr-ungen, so wie man üblicherweise in der Physik und Chemie verfährt) bewiesen werden.

b. Hypothesen, die einen abstrakten Bezug haben oder sich auf verborgene mit den menschlichen Sinnen nicht erfassbare Dinge stützen, müssen bewiesen werden, entweder durch:

– nachvollziehbare vernunftgemäße Schlußfolgerungen (wie in der Mathematik) oder durch

– Mutawaatir-Überlieferungen, die ebenfalls gemäß Vernunftsregeln bewiesen wurden (wie z. B. bei den Aussagen über das Paradies oder die Hölle, usw.).

Zur Veranschaulichung wird im folgenden Beispiel der Beweisführung für das Dasein Allaahs diese Methodik der Islamologie angewendet.


Notes:

  1. Ursprünglich: „maula“, siehe al-waliy.
  2. Ursprünglich: „kufr-betreibende“.
  3. Quraan 2:286