usuulul-fiqh war zur Zeit des Gesandten Muhammad (sallal-laahu ‘alaihi wa sallam) als selbständige Wissenschaft nicht bekannt, weil die Notwendigkeit dafür damals nicht gegeben war.
Die Sahaabah, Gefährten des Gesandten (radial-laahu ‘anhum) besaßen als arabische Muttersprachler ein exzellent ausgeprägtes Sprachgefühl und kannten kaum Defizite oder Probleme mit dem Arabischen und hatten deshalb auch keine Schwierigkeiten beim Verständnis der islam-ischen Quellen, Quraan und Sunnah. In Zweifels- bzw. Ausnahmefällen konsultierten sie den Gesandten (sallal-laahu ‘alaihi wa sallam) und bekamen von ihm die entsprechende Erläuterung.
Nach dem Tod des Gesandten (sallal-laahu ‘alaihi wa sallam) haben die Sahaabah auch weiterhin die Fiqh-Gebote aus dem Quraan und der Sunnah abgeleitet. Dabei wandten sie die ihnen bekannten Regeln an, ohne diese systematisch niederzuschreiben oder als solche zu benennen.
Beispielsweise belegte ‘Abdul-laah Bnu-mas’uud (radial-laahu ‘anh) die Fiqh-Bestimmung bezüglich der Wartezeit (‘iddah) der Schwangern wie folgt:
Ihre ‘iddah endet mit ihrer Entbindung, da es im Quraan (65:4) heißt: “Für die Schwangeren, so endet deren Frist, wenn sie entbunden haben.” Zudem wurde die Suurah “At–talaaq” (Nr. 65) nach der Suurah “Al-baqarah” (Nr. 4) hinabgesandt, in der allgemeinere Bestimmungen bezüglich der Wartezeit erwähnt wurden. Dabei wies er auf an-nas-ch bzw. at-tachsiis hin, ohne diese ausdrücklich zu erwähnen.
Mit der Ausbreitung des Islam in die benachbarten Länder wanderten viele Sahaabah mit ihren Familien dorthin aus. In der Folge verließen auch viele der arabischen Stämme die arabische Halbinsel und vermischten sich mit den Nicht-Arabischsprechenden in diesen Gebieten. Als Nebeneffekt dieser Migrationsbewegung trat die eigene Mundart und die arabische Sprache in den Hintergrund und es entwickelten sich neue Dialekte. Dieser Sprachverlust erschwerte den nachfolgenden Generationen das Verständnis der Quellentexte des Islam. Hinzu kam, dass viele der neuen Muslime in diesen Gebieten des Arabischen nicht mächtig waren. Die Notwendigkeit, den nachfolgenden Generationen der arabischen Zuwanderer und den neuen Muslimen den Zugang zum Arabischen zu ermöglichen, führte dann zur Entstehung der Sprachwissenschaften und der Disziplin der Grammatik.
Ein weiterer Nebeneffekt dieser Entwicklung und der Ausbreitung des Islam war die Entstehung der beiden Denkrichtungen und Traditionen im Umgang mit den Quellen. So entstanden die beiden Schulen: ar-ra-i-Schule (ahlur-ra-i أهل الرأي) und al-hadiith-Schule (ahlul-hadiith أهل الحديث), mit ihren sehr kontrovers diskutierten Differenzen.
Die Ar-rai-Schule entwickelte sich im Irak. Dort hatte sich die Verfälschung und Erfindung von Hadiithen verbreitet und deshalb waren die Gelehrten bei der Überprüfung der überlieferten Hadiithe sehr kritisch und bei ihrer Annahme extrem vorsichtig, was sich auf die Verbreitung von Hadiithen in diesen Gebieten auswirkte. Die Gelehrten dort neigten deshalb mehr zu eigener Forschung und Selbsturteilsfindung, was die fortschreitende Entwicklung und Anwendung von al-qiyaas (Analogieschluss) zur Folge hatte. Sie bemängelten an den Anhängern der Hadiith-Schule folgendes:
- die Inkompetenz im Hinblick auf die Ableitung der Scharii’ah-Gebote aus den Belegquellen sowie
- die Übertreibung bei der Überlieferung von Hadiithen jeglicher Qualität.
Die Hadiith-Schule etablierte sich in Makkah und in Al-madiinah. Sie beschäftigte sich fast ausschließlich mit der Hadiith–Tradierung und vernachlässigte die Ableitung und die Interpretation von Scharii’ah-Geboten gemäß dem Analogieschluss (al-qiyaas).
Sie bemängelten an der Ar-rai-Schule:
- die Voranstellung von al-qiyaas vor den Aahaad-Hadiithen sowie
- die Zurückweisung von Hadiithen, wenn diese al-qiyaas widersprechen.
In dieser Zeit lebte Imaam Muhammad Bnu-idriis Asch-schaafi’iyمحمد بن إدريس الشافعي (geb. 150/767 in Gaza/Palästina, verstarb am 29.7.204/19.1. 820 in Al-qaraafah/Ägypten). Imaam Asch-schaafi’iy hatte mit sieben Jahren bereits den gesamten Quraan in Makkah auswendig gelernt. Bei dem Stamm Hudhail هذيل lernte er die arabische Sprache und ihre Künste. Danach verbrachte er 10 Jahre in Al-madiinah und war dort Schüler von Imaam Maalik Bnu-anas, dem Gründer der Maalikitischen Fiqh-Schule. Dann reiste er nach Bagdad und lernte dort bei Imaam Muhammad Bnul-hasan, einem der bekanntesten Schüler von Imaam Abu-haniifah.
Auf Grund seiner Ausbildung war Imaam Asch-schaafi’iy sowohl in der Ar-rai- als auch in der Al-hadiith-Schule sehr bewandert und damit in allen wissenschaftlichen Disziplinen und Traditionen der Islamologie.
Der Fanatismus, mit dem die Anhänger beider Schulen damals die eigene Meinung über alles stellten und abweichende Meinungen gering schätzten, bedrückte Imaam Asch-schaafi’iy sehr und veranlasste ihn dazu, sein Buch ar–risaalah 1 الرسالة zu verfassen, in welchem er als Erster eine Synthese zwischen beiden Schulen herstellte.
Imaam Asch-schaafi’iy behandelte in ar-risaalah systematisch eine große Anzahl unterschiedlicher Disziplinen, u. a.:
- al-‘aam und al-chaas العام والخاص (der sprachlich umfassende Ausdruck und der sprachlich einschränkende Ausdruck)
- an-naasich und al-mansuuch الناسخ والمنسوخ (das Abrogierende und das Abrogierte)
- ‘ilalul-hadiith علل الحديث
- as-sunnah السنة
- al-idschmaa’ الإجماع
- al-qiyaas القياس
- al-idschtihaad الاجتهاد, al-mufti المفتي und seine Voraussetzungen.
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al-istihsaan الاستحسان
Somit war ar-risaalah 2 das erste Buch, das systematisch usuulul-fiqh behandelte. Imaam Asch-schaafi’iy hat danach seine Fiqh-Schule auf diesen Regeln aufgebaut.
Notes:
- ar-risalaah (der Brief) als Name für diese erste usuul-Schrift etablierte sich aufgrund der Tatsache, dass Imaam Asch-schaafi’iy sie als Brief an den Gelehrten ’Abdur-rahmaan Bnu-mahdiy schickte. ↩
- ar-risalaah wurde insbesondere von folgenden Gelehrten kommentiert: Abu-bakr As–sairafiyأبو بكر الصيرفي (gest. 330/942), Abul-waliid An-naisaabuuriy أبو الوليد النيسابوري (349/960), Al-qaffaal Asch-schaaschiy Al-kabiir القفال الشاشي الكبير (365/976), Abu-bakr Al-dschauzaqiy An-naisaabuuriy أبو بكر الجوزقي النيسابوري (388/998) und Abu-muhammad Al-dschuwainiy أبو محمد الجويني (438/1047). ↩