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Die umstrittenen Quellen der Scharii’ah-Belege


Darunter versteht man die Scharii’ah-Quellen, welche unter den Usuul-Gelehrten umstritten sind und nicht von allen als zulässige Quellen und Methoden bewertet werden.

Die Regel hinsichtlich der Dinge

Ahlus-sunnah wal-dschamaa’ah vertreten die Meinung, dass es keine Scharii’ah-Gebote vor der Sendung des Gesandten Muhammad (sallal-laahu ‘alaihi wa sallam) gab. Erst nach der Sendung wurden die Angelegenheiten durch die Scharii’ah geregelt. Die Mu’tazilah widersprechen, da bei ihnen nicht die Scharii’ah, sondern die Vernunft das Gute vom Bösen unterscheidet. Seit der Sendung gibt es die Regel, dass alles Nützliche erlaubt und alles Schädliche verboten ist, es sei denn, eine Regelung erfolgt, welche dies anders regelt. Allaah (ta’aala) sagte:

هُوَ ٱلَّذِي خَلَقَ لَكُم مَّا فِي ٱلۡأَرۡضِ جَمِيعٗا

Er ist Derjenige, Der für euch alles auf der Erde erschuf. 1

يَسۡ‍َٔلُونَكَ مَاذَآ أُحِلَّ لَهُمۡۖ قُلۡ أُحِلَّ لَكُمُ ٱلطَّيِّبَٰتُ

Sie fragen dich, was für sie (an Speisen) erlaubt (halaal) seien. Sag: ‚Für erlaubt wurden euch erklärt die taiyibaat 2, 3

قُلۡ مَنۡ حَرَّمَ زِينَةَ ٱللَّهِ ٱلَّتِيٓ أَخۡرَجَ لِعِبَادِهِۦ وَٱلطَّيِّبَٰتِ مِنَ ٱلرِّزۡقِۚ

Sag: ‚Wer erklärte für verboten die gepflegte Kleidung, die Allaah für Seine Anbeter hervorbrachte, und die taiyibaat von den Gaben? 4

Der Gesandte (sallal-laahu ‘alaihi wa sallam) sagte:

الْحَلَالُ مَا أَحَلَّ اللَّهُ فِي كِتَابِهِ وَالْحَرَامُ مَا حَرَّمَ اللَّهُ فِي كِتَابِهِ وَمَا سَكَتَ عَنْهُ فَهُوَ مِمَّا عَفَا عَنْهُ.

halaal ist das, was Allaah in Seiner Schrift für halaal erklärte; haraam ist das, was Allaah in Seiner Schrift für haraam erklärte; und das, was Er unerwähnt bleiben ließ, ist von dem, was Er vergab. (T, I)

مَا أَحَلَّ اللَّهُ فِي كِتَابِهِ فهو حَلَالٌ ، وَمَا حَرَّمَ اللَّهُ فِي كِتَابِهِ فهو حَرَامٌ . وَمَا سَكَتَ عَنْهُ فَهُوَ عَفوٌ ، فَاقبَلوا مِنَ اللهِ عَافِيَتَهُ ، فَإنَّ اللهَ لمْ يَكُنْ لِيَنْسى شَيئاً. ثُمَ تَلا : وَمَا كَانَ رَبُّكَ نَسِيًّا.

Was Allaah in Seiner Schrift für halaal erklärte, ist halaal; und was Er für haraam erklärte, ist haraam; und was Er unerwähnt bleiben ließ, ist eine Nachsichtigkeit. So nehmt von Allaah Seine Nachsicht an, denn gewiss Allaah würde nichts vergessen. Dann rezitierte er: “وَمَا كَانَ رَبُّكَ نَسِيًّا und dein Herr vergisst nie” 5. (Al-bazzaar und Al-haakim)

Beispiele:
– Man findet eine Quelle und weiß nicht, ob sie jemandem gehört oder nicht, dann darf man aus ihr Wasser schöpfen.
– Man findet Haare und weiß nicht genau, ob sie von einem halaal– oder haraam-Tier stammen, dann verwendet man sie.

al-istishaab الاستصحاب

Das Fortbestehen einer Bestimmung bzw. eines Gebots (hukm), wenn deren bzw. dessen Annullierung nicht nachgewiesen wird.
Viele Hanafiten lehnen al-istishaab als Quelle zur Bestätigung von Geboten ab, aber akzeptieren es bei deren Zurückweisung.

Beispiele:
– Fortbestehen dessen, was die Scharii’ah nicht veränderte, wie die Nicht-Verpflichtung zum rituellen Fasten außerhalb Ramadaan und die Nicht-Verpflichtung zu einem sechsten Pflichtgebet am Tag, usw.
– Fortbestehen von al-‘aam, solange kein tachsiis vorliegt, sowie Fortbestehen der Verwendung eines Scharii’ah-Textes, wenn kein nas-ch nachgewiesen wird.
– Fortbestehen dessen, was die Scharii’ah bestätigte, wie die Besitzan-sprüche nach dem Kauf.

Die Induktion (al-istiqraa’ الاستقراء)

al-istiqraa’ ist die gebotsmäßige Schlussfolgerung von einzelnen bekannten Angelegenheiten auf eine noch zu klärende Frage.

Es gibt zwei Typen von al-istiqraa’:

  • die vollständige Induktion (istiqraa-un taam إستقراء تام)
    Man versteht darunter “die Überprüfung aller einzelnen Angelegenheiten, um deren Scharii’ah-Gebot auf die noch zu klärende Frage zu übertragen”. Dieser Induktionstyp führt zu eindeutig gesicherten Ergebnissen.
  • die unvollständige Induktion (istiqraa-un naaqis إستقراء ناقص)
    Man versteht darunter “die Überprüfung vieler einzelner Angelegenheiten, um deren Scharii’ah-Gebot auf die noch zu klärende Frage zu übertragen”. Dieser Induktionstyp führt zu nicht eindeutig gesicherten Ergebnissen.
    Beispiele:
    – Da nach der Induktion festgestellt wurde, dass alle rituellen Gebete, die der Gesandte (sallal-laahu ‘alaihi wa sallam) beim Reiten verrichtet hatte, keine Pflicht-/Waadschib- sondern Sunnah-Gebete waren, ist das Witr-Gebet nach den Schaafi’iten kein Pflicht-/Waadschib-Gebet, da es beim Reiten verrichtet wurde.
    – Die Mindest- und die Höchstdauer der Menstruation wurden bei den Schaafi’iten mit der Induktion belegt.

Angenommen wird das Geringste vom Überlieferten (al-achdhu bi aqal-li ma qiil الأخذ بأقل ما قيل)

Imaam Asch-schaafi’iy stuft eine Angelegenheit gebotsmäßig aufgrund des Geringsten ein, das in deren Zusammenhang überliefert wurde, solange dieses Geringste ein Teil vom dem ist, das als mehr gilt, und sonst kein anderer Beleg dafür existiert.
Seine Argumentation ist, weil über das Geringste Übereinstimmung unter den Gelehrten herrscht, sowie darüber, dass der Mensch eigentlich ohne Beleg als unbelastet (barii-udh-dhimmah بريء الذمة) gilt.

Beispiel:
Die Diyyah (Ersatzleistung für Totschlag) für einen Nicht-Muslim ist nach Imaam Asch-schaafi’iy ein Drittel dessen, was für einen Muslim geleistet wird, während Imaam Maalik dafür die Hälfte vorsieht und Imaam Abu-haniifah keinen Unterschied zwischen dem Muslim und dem Nicht-Muslim in dieser Angelegenheit macht.
Für Imaam Asch-schaafi’iy gibt es keinen weiteren Beleg, der mehr als ein Drittel vorsehen würde, wobei das Drittel ein Teil von der Hälfte und auch vom Ganzen ist, zudem muss für den Muslim mehr Belastung belegt werden. Deshalb verlangt Imaam Asch-schaafi’iy die siebenmalige Waschung eines vom Hund geleckten Topfes aufgrund überlieferter sahiihHadiithe, obwohl es andere Hadiithe gibt, die nur die dreimalige Waschung dafür verlangen.

al-istislaah الاستصلاح bzw. al-masaalihul-mursalah المصالح المرسلة

Unter al-istislaah versteht man die Berücksichtigung von Nützlichkeiten bzw. Interessen (masaalih, Singular maslahah), die von der Scharii’ah weder berücksichtigt, noch abgelehnt wird.
Die Mehrheit der Gelehrten lehnt diesen maslahah-Typ ab, während Imaam Maalik ihn berücksichtigt (er lässt z. B. die Züchtigung des Diebs zu, damit dieser den Diebstahl gesteht).
Für Imaam Al-ghazaaliy muss die maslahah zu den fünf bzw. sechs Unerlässlichkeiten (ad-daruuriyaat
الضروريات) gehören, eindeutig nützlich (qat‘iyyah) und von übergeordnetem Charakter sein (d. h. im Interesse und Dienste aller Muslime sein), damit sie berücksichtigt werden darf.

Beispiel:
Wenn Feinde Bürger des muslimischen Staats als Schutzschilde nehmen, darf der Staat sie angreifen und damit den Tod dieser Geiseln in Kauf nehmen?
Ja, wenn erst festgestellt wird, dass wenn der Staat diese Feinde nicht angreift und damit den Tod der Geiseln in Kauf nimmt, diese Feinde die Geiseln und die anderen Bürger angreifen und töten werden. Wenn jedoch die gegenteilige Feststellung der Fall ist, dann darf der Staat nicht angreifen und den Tod der Geiseln riskieren, weil er keinen unschuldigen Bürger in Gefahr bringen darf.

al-istihsaan الإستحسان

Imaam Abul-hasan Al-karchiy definierte al-istihsaan wie folgt:

هُوَ العُدُولُ في مَسْألةٍ عَنْ مِثْلِ مَا حُكِمَ بِهِ في نَظَائِرهَا إلى خِلافِهِ لِوَجْهٍ هُوَ أقْوَى يَقْتَضي هَذَا العُدُولُ.

Das Abweichen in einer Frage von dem Gebot, das bei ähnlichen Fragen bestimmt wurde, zu einem gegenteiligen Gebot aufgrund einer Interpretation, die dieses Abweichen erfordert. 6

Al-karchiy hat al-istihsaan in vier Typen eingeteilt:
– Das Befolgen eines Hadiith mit gleichzeitiger Unterlassung von al-qiyaas (z. B. das Lachen im rituellen Gebet annulliert das Gebet und die rituelle Gebetswaschung nach den Hanafiten, da sie in diesem Punkt einen umstrittenen Hadiith befolgen).
– Das Befolgen einer Aussage eines Sahaabiy gegen al-qiyaas
– Das Befolgen der Sitten und Traditionen, die höchstwahrscheinlich zur Zeit des Gesandten (sallal-laahu ‘alaihi wa sallam) auch praktiziert wurden (z. B. al-mu’aataah المعاطاة, d. h. Kaufen ohne Formel und nur durch Austausch der Waren).
– Abtrennen einer Angelegenheit von ähnlichen Angelegenheiten aufgrund eines besonderen Belegs, der diese Ausnahme rechtfertigt (z. B. wenn ein Muslim gelobt: “Mein Vermögen ist Sadaqah“, dann wird sein Vermögen nach Imaam Abu-haniifah nur auf das beschränkt, was der Zakaah unterliegt, da dies in der Aayah (9:103):
خُذْ مِنْ أَمْوَالِهِمْ صَدَقَةً, nimm von ihrem Vermögen sadaqah” also Zakaah belegt ist).

Die Gelehrten mit Ausnahme der Hanafiten lehnen al-istihsaan als eine Quelle der Scharii’ah-Gebote ab, da es für al-istihsaan auch andere Definitionen gibt, wie “al-istihsaan als ein Beleg, der im Inneren des mudschtahid-Gelehrten aufkeimt, ohne dass er ihn artikulieren kann”. Imaam Al-ghazaaliy hat diese Definition zurückgewiesen, da die Nicht-Artikulation ein Beleg für das Nicht-Begreifen ist.

Die Aussage des Sahaabiy (qaulus-sahaabiy قول الصحابي)

Jede Aussage oder Fatwa, die von einem Sahaabiy stammt, wird untersucht. Wenn sie nicht dem idschtihaad
entstammt, dann wird sie befolgt,
Beispiel: Die Verrichtung des rituellen Gebets haben die Sahaabah vom Gesandten (sallal-laahu ‘alaihi wa sallam) gelernt.

Doch sollte seine Meinung dem idschtihaad entstammen, dann gilt sie nicht als maßgeblich für die mudschtahid-Gelehrten. Imaam Asch-schaafi’iy betrachtet solche idschtihaad-Aussagen als nicht verbindlich für andere mudschtahid-Gelehrten, seien sie Sahaabah oder nicht. Seiner Meinung nach darf ein mudschtahid-Gelehrter diese nicht befolgen, er sagte dazu: “Sie sind Männer und wir sind Männer, wie kann ich die Meinung von Jemandem befolgen, dem ich im Streitgespräch überlegen bin”.

Die Inspiration (al-ilhaam الإلهام)

al-ilhaam ist die Eingebung in das Innere von Auserwählten.
Die islamischen Gelehrten verleugnen nicht, dass al-ilhaam zustande kommen kann, doch als Grundlage für die Ableitung von Scharii’ah-Geboten wird es von allen Fiqh- und Usuul-Gelehrten abgelehnt.

Die Scharii’ah der Früheren vor dem Islam

Sie wird nicht als Grundlage zur Ableitung von Scharii’ah-Geboten angenommen. Es gilt nur das, was die islamische Scharii’ah verkündet hat.

idschmaa’ der Bewohner von Al-madiinah (idschmaa’u ahlil-madiinah إجماع اهل المدينة)

Die Gelehrten mit Ausnahme der Maalikiten lehnen diesen idschmaa’ ab, da Al-madiinah-Bewohner nur ein Teil der Muslime sind und ihr Aufenthalt dort sie nicht unfehlbar macht. Manche Gelehrte meinen mit diesem idschmaa’ die Sahaabah und Taabi’uun und andere die sieben Fuqahaa’ von Al-madiinah (al-fuqahaa-us-sab’ah الفقهاء السبعة): Sa’iid Bnul-musaiyib, Al-qaasim Bnu-muhammad, ‘Urwah Bnuz-zubair, Chaaridschah Bnu-zaid Bnu-thaabit, Sulaiman Bnu-yasaar, ‘Ubaidul-laah Bnu-‘abdil-laah und Abu-salamah Bnu-‘abdir-rahmaan Bnu-‘auf. Manche zählen dazu Saalim Bnu-‘abdil-laah Bnu-‘umar.

Notes:

  1. Quraan (2:29)
  2. taiyibaat sind Speisen, die für den normalen Geschmack genießbar sind und weder durch den Quraan, noch durch die Sunnah, noch durch idschmaa’, noch durch al-qiyaas als haraam einge­stuft werden.
  3. Quraan (5:4)
  4. Quraan (7:32)
  5. Quraan (19:64)
  6. Siehe kaschful-asraar, ’Abdul-’aziiz Al-buchaariy Bnd 4, S3, und at-talwiihu ’alat-taudiih Bnd 2, S81. Imaam Al-baidaawiy hat diese Definition kritisiert, da dadurch attachsiis zu istihsaan wird. Dagegen bemerkte Asch-schaich Abu-ishaaq Asch-schiiraaziy Asch-schaafi’iy: „wenn ihre Meinung – gemeint sind die Hanafiten – mit der Aussage von Al-karchiy übereinstimmt und mit der Aussage, dass man nach dem Stärkeren aus zwei Belegen handelt, was auch wir vertreten, dann ist der Streit zwischen uns damit beendet“.