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Annullierung der ’illah


Es gibt viele Wege, um die Eignung und Beständigkeit der ‘illah in Frage zu stellen und damit zurückzuweisen, u. a.:

– Die Ungültigkeitserklärung (an-naqd النقض)
Wenn man mit einem Beispiel aufzeigen kann, das die ‘illah auftritt, ohne dass das Scharii’ah-Gebot sich ereignet, dann ist dies ein Beweis für die Ungültigkeit der angenommenen ‘illah.

Beispiel:
Nach Imaam Asch-schaafi’iy ist jedes rituelle Fasten ohne vorherige Absicht (niyyah) vor der Morgendämmerung nicht gültig. Dagegen äußern sich die Hanafiten und erklären, dass es durch die Sunnah bewiesen ist, dass der Gesandte Muhammad (sallal-laahu ‘alaihi wa sallam) das Sunnah-Fasten ohne vorherige Absicht erst kurz vor dem Mittag begonnen hat.
Zu beachten ist, dass belegte Ausnahmen in diesem Zusammenhang nicht berücksichtigt werden dürfen, wie bei dem Verkauf von al-‘araaya 1.

– Die Nicht-Wirkung (‘adamut-ta’thiir عدم التأثير)
Wenn das Scharii’ah-Gebot nach dem Vergehen des Charakteristikums, das als ‘illah gilt, bestehen bleibt, dann gilt diese angenommene ‘illah als nicht geeignet.

Beispiel:
Die Behauptung, dass das Verkaufen eines frei fliegenden Vogels analog zum Verkaufen von abwesenden Sachen wegen der fehlenden Besichtigung verboten ist, kann zurückgewiesen werden, weil dieser Verkauf auch verboten bleibt, sollte man diesen Vogel sehen können.

– Das Zerlegen bzw. Brechen (al-kasr الكسر)
Man nennt diese Methode auch die zerlegte Ungültigkeitserklärung (an-naqdul-maksuur النقض المكسور). Sie wird bei einer komplexen ‘illah verwendet, indem man die Nicht-Wirkung bei einem Teil der ‘illah aufzeigt und dann den anderen Teil annulliert.

Beispiel:
Manche belegen die Verpflichtung zur Verrichtung des rituellen Gebets bei Angst und Kriegssituationen (salaatul-chauf صلاة الخوف) zu seiner gebotenen Zeit (adaa’) wie folgt: “Da man das versäumte salaatul-chauf nachholen muss, hat man es zu seiner gebotenen Zeit (adaa’) zu vollziehen. Dies gilt analog zum gewöhnlichen rituellen Gebet: so wie dieses nach dem Versäumen nachgeholt werden muss, ist es zu seiner gebotenen Zeit zu vollziehen”.
Nach dieser Meinung würde die ‘illah für die Verpflichtung zum Vollziehen von salaatul-chauf wie folgt sein: “Da es sich dabei um ein nach dem Versäumen nachzuholendes rituelles Gebet handelt“.
Diese ‘illah besteht aus zwei Teilen: “Da es ein rituelles Gebet ist” und “da es nachgeholt werden muss”.
Man kann nun den ersten Teil der ‘illah und damit diese ‘illah mit folgendem Argument zurückweisen: die Haddsch-Pilgerfahrt ist kein rituelles Gebet und dennoch muss sie gewöhnlich vollzogen und nach dem Versäumen nachgeholt werden.
Würde man nun den Ausdruck “ein rituelles Gebet” durch “eine rituelle Handlung (‘ibaadah)” austauschen, um diesen Widerspruch aufzuheben, würde dann die ‘illah lauten: “Da es dabei um eine nach dem Versäumen nachzuholende rituelle Handlung geht”.
Doch auch diese neue ‘illah kann zurückgewiesen werden und zwar mit dem rituellen Fasten der menstruierenden Frau, da die Frau diese rituelle Handlung zu der gebotenen Zeit nicht vollziehen darf, jedoch nachholen muss.
Damit ist nicht alles zu seiner gebotenen Zeit zu vollziehen, das nach seinem Versäumen nachgeholt werden muss.
So sind sowohl die o. g. Behauptung als auch die angenommene ‘illah zurückzuweisen.

– Das Wenden bzw. Umkehren (al-qalb القلب)
Mit al-qalb beweist der Gelehrte das Gegenteil des Scharii’ah-Gebots mit der gleichen ‘illah, die andere festgelegt haben. Damit wirkt die ‘illah als Gegenargument.

Beispiele:

  • Die Hanafiten verlangen als Bedingung zur Gültigkeit vom i’tikaaf 2, dass man währenddessen fasten muss. Die ‘illah, die sie dazu anführen, lautet: “al-i’tikaaf ist ein besonderes Verweilen (labthun machsuus لبث مخصوص), so kann es alleine keine qurbah 3 darstellen, genau so wie das Verweilen auf ‘Arafaat bei der Haddsch-Pilgerfahrt, das erst durch eine zusätzliche rituelle Handlung, nämlich al-ihraam, eine qurbah wird.
    Die Schaafi’iten führen an, dass al-i’tikaaf ein besonderes Verweilen ist, deshalb bedarf es nicht des rituellen Fastens, genau so wie das Verweilen in ‘Arafaat, wo kein rituelles Fasten verlangt wird.
  • Da die Kopfbenetzung beim Vollziehen der rituellen Gebetswaschung ein unabdingbarer Pflichtteil ist, vertreten die Hanafiten die Meinung, dass man analog zum Gesicht mindestens ein Viertel davon benetzen muss, weil nur damit die Pflicht “Kopfbenetzung” erfüllt wird.
    Die Schaafi’iten führen an, dass die Kopfbenetzung ein unabdingbarer Pflichtteil der rituellen Gebetswaschung ist, so wird sie analog zum Gesicht nicht mit einem Minimum von einem Viertel festgelegt.

– Annahme des Belegs des Scharii’ah-Gebots (al-qaulu bil-muudschib القول بالموجب)
al-qaulu bil-muudschib bedeutet, dass der Gelehrte den Beleg, mit dem argumentiert wird, so annimmt, dass das darin enthaltene Scharii’ah-Gebot umstritten bleibt.

Beispiel:
Im Quraan sagte Allaah (ta’aala):

يَقُولُونَ لَئِن رَّجَعۡنَآ إِلَى ٱلۡمَدِينَةِ لَيُخۡرِجَنَّ ٱلۡأَعَزُّ مِنۡهَا ٱلۡأَذَلَّۚ وَلِلَّهِ ٱلۡعِزَّةُ وَلِرَسُولِهِۦ وَلِلۡمُؤۡمِنِينَ

Sie sagten: “Wenn wir nach Al-madiinah zurückkehren, dann wird der Würdigere den Niedrigeren aus ihr vertreiben.” Die Würde gehört Allaah, Seinem Gesandten und den Iimaan-Bekennenden. 4

Es ist wahr, was die Täuscher (Nifaaq-Betreibenden) sagten, dass die Würdigeren die Niedrigeren aus Al-madiinah vertreiben werden.
Doch die Würdigeren sind Allaah (ta’aala), Sein Gesandter und die Muslime und nicht die Täuscher, die dies für sich beansprucht haben.
Hier wurde als Charakteristikum die “Würde” erwähnt, jedoch nicht für denjenigen, der sie für sich selbst beansprucht hat. Doch die Bestimmung “das Vertreiben” blieb bestehen, aber umstritten, da jede Gruppe damit die andere Gruppe meint.

– Der Unterschied zwischen al-asl und al-far’ (al-farq الفرق)
al-farq bedeutet, dass der widersprechende Gelehrte eine Bedeutung aufzeigt, mit der ein Unterschied zwischen al-asl und al-far’ erkannt wird, so dass das Scharii’ah-Gebot nicht übertragen werden kann.

Beispiele:

  • Die Hanafiten nehmen an, dass jede rituelle Unreinheit, die aus dem Körper austritt, unabhängig von der Stelle, die rituelle Gebetswaschung annulliert. Dies erfolgt ihrer Meinung nach analog zum Austreten ritueller Unreinheiten aus den Ausscheidungsorganen.
    Die widersprechenden Schaafi’iten führen an, dass diese Unreinheiten die rituelle Gebetswaschung nur deshalb annullieren, weil sie aus den Ausscheidungsorganen austreten, und nicht weil sie aus austreten (aus irgendeiner Stelle des Körper).
  • Die Hanafiten vertreten die Meinung, dass die Haut eines Hundes analog zum Schaf nach der Gerbung rituell rein wird, da er ein Tier ist, das man zu seinen Lebzeiten wie das Schaf verwenden darf.
    Die widersprechenden Schaafi’iten bemerken, dass Schafe zu ihren Lebzeiten verkauft werden dürfen, was für den Hund nicht zutrifft.

– Die falsche Belegung (fasaadul-wad‘  فساد الوضع)

– Der Widerspruch des Belegs zum Quraan- bzw. Sunnah-Text oder zum idschmaa’ (fasaadul-i’tibaar فساد الاعتبار)

Notes:

  1. al-’araaya-Verkauf ist der Verkauf von noch nicht geernteten Datteln gegen getrocknete Datteln, was ein Widerspruch zum Riba-Verbot darstellt. Doch die Sunnah hat diese Ausnahme zugelassen.
  2. al-i’tikaaf bezeichnet das Sich-Zurückziehen in die Moschee, um für bestimmte Zeit rituelle Handlungen zu vollziehen.
  3. qurbah ist eine ’ibaadah-Handlung, mit der man Allaahs Nähe sucht und seine Hingabe Ihm gegenüber bekunden möchte.
  4. Quraan (63:8)