Eine Person gilt als vermisst, wenn sie über einen langen Zeitraum von ihrem ständigen Wohnort abwesend ist, ihr Aufenthalt unbekannt und nicht absehbar ist, ob sie jemals wieder zurückkehren wird. Somit ist unbekannt, ob sie noch am Leben oder bereits verstorben ist.
Im Zusammenhang eines Vermissten sind folgende Themen wichtig:
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Ehelicher Status der Ehefrau eines Vermissten
Die Ehe bleibt solange bestehen, bis der Tod nachgewiesen ist. Hier gilt die Regel vom “Fortbestand der Ausgangslage” (istishaabul-asl استصحاب الأصل). Die sichere Erkenntnis ist, dass die vermisste Person noch lebte, und ein Zweifel über seinen Tod kann nach einer weiteren Fiqh-Regel nicht die sichere Erkenntnis aufheben (al-yaqiinu la yazuulu bisch-schakk اليقين لا يزول بالشك). Das würde bedeuten, dass die Frau in diesem Fall keine weitere Ehe eingehen darf. Imaam Asch-schafi’iy kommentierte die Sachlage auf folgende Weise: “Die Ehefrau eines Vermissten wurde einer Prüfung unterzogen, sie soll sich in Geduld üben, und sie darf bis zur endgültigen Todeserklärung des Vermissten keinen weiteren heiraten!” - Das Gesamtvermögen des Vermissten wird solange zurückgehalten, bis entweder der Beweis für seinen Tod erbracht wird oder der Richter ihn für tot erklärt. Dies geschieht aber erst nach Verstreichen eines so großen Zeitraumes, dass der Vermisste mit größter Wahrscheinlichkeit nicht mehr leben kann. Erst danach kann der Nachlass des Vermissten an seine Erben verteilt werden.
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Wenn die vermisste Person zur Erbfolge antritt, wird sie genauso wie eine lebende Person behandelt. Sie gilt bis zum Gegenbeweis als erbberechtigt und der ihr zustehende Erbanteil wird in Abwesenheit ihrem Gesamtvermögen zugeschlagen.
Bei der Berechnung dieser Erbfälle werden insbesondere folgende Situationen unterschieden:
– Wenn eine erbberechtigte Person auf jeden Fall ihren Erbanteil erhält, unabhängig davon, ob die vermisste Person noch lebt oder rechtlich für tot erklärt wurde, dann wird ihr dieser Erbanteil ausbezahlt.
Fallbeispiel:
E: Ehefrau, Sohn und ein weiterer vermisster Sohn
Die Ehefrau erhält 1/8, das ihr auf jeden Fall zusteht, unabhängig davon, ob der zweite vermisste Sohn lebt oder verstorben ist.
Die beiden Söhne teilen sich als ‘Asabah den Rest.– Wenn eine erbberechtigte Person in einem der beiden Fälle, entweder im Falle, dass die vermisste Person leben sollte, oder verstorben ist, nicht zur Erbfolge berufen wird, hat sie folgerichtig keinen Erbanspruch, da die vermisste Person bis zum Gegenbeweis als lebend gilt.
Fallbeispiel:
E: zwei Töchter, Sohnestochter, ein vermisster SohnessohnessohnGrundsätzlich würde die Sohnestocher zur Erbfolge als ‘Asabah gemeinsam mit dem Sohnessohnessohn antreten, wenn er leben würde. Da aber der vermisste Sohn auch nicht mehr leben könnte, wird die Sohnestochter infolge der Gegenwart beider Töchter präkludiert. Beide Töchter erhalten als Quoten-Erbinnen zwei Drittel. Das letzte Dritte wird zurückgehalten, bis Klarheit über den Zustand der vermissten Person herrscht.
– Wenn der Erbteil der erbberechtigten Person sich je nach dem ändert, ob die vermisste Person lebt oder verstorben ist, wird ihr jeweils als Vorsichtsmaßnahme der geringere Anteil angerechnet.
Fallbeispiel:
E: Mutter, Vollbruder, eine weiterer vermisster VollbruderDie Mutter würde als Quoten-Erbin ein Drittel erhalten, wenn sie alleine mit einem Vollbruder erbt. Ein Sechstel erhält sie hingegen, wenn neben ihr zwei Brüder vorhanden sind. Da die vermisste Person aber noch leben könnte, erhält die Mutter den geringeren Anteil, in diesem Fall ein Sechstel, bis rechtlich der Zustand der vermissten Person geklärt wurde. So erhält die Mutter vorerst ein Sechstel.
Die zwei Brüder erhalten gemeinsam den Rest. Da der vermisste Bruder nicht anwesend ist, erhält sein Bruder genau zwei Sechstel, d. h. den geringeren Anteil als Vorsichtsmaßnahme.
Der Rest, drei Sechstel, wird solange zurückgehalten, bis bekannt ist, ob der vermisste Bruder lebt oder verstorben ist. Wenn er lebt, erhält die Mutter keinen weiteren Anteil mehr. Der anwesende Bruder würde noch die Hälfte von einem Sechstel, ein Zwölftel, zusätzlich erhalten, und der vermisste Bruder die restlichen fünf Zwölftel, so dass beide Brüder genau die Hälfte von fünf Sechstel erhalten. Sollte aber der vermisste Bruder verstorben sein, erhält die Mutter darüber hinaus einen weiteren Teil vom zurückgehaltenen drei Sechstel, also insgesamt zwei Sechstel, und der Bruder erhält weitere zwei Sechstel, also insgesamt vier Sechstel.