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Die Scharii’ah-Normen (al-hukmusch-schar’i الحكم الشرعي)


Linguistische Bedeutung von al-hukmusch-schar’i

Al-hukm الحكم bezeichnet linguistisch “das gerechte Urteilen” und “das Verstehen”. Es bezeichnet damit linguistisch “das scharii’ah-konforme Urteil bzw. “die scharii’ah-konforme Norm”, “die Scharii’ah-Norm”.

Fachspezifische Definition von al-hukmusch-schar’i

خِطَابُ الشَّارِعِ، المُـتَعَلِقِ بِأَفْعَالِ المُكَلَّفِينَ، بِالإقْتِضَاءِ، أوِ التَّخْيِيرِ، أَوِ الوَضْعِ.

chitaabusch-schaari’i al-muta’al-liqi bi-af’aalil-mukal-lafiina bil-iqtidaa-i auit-tach-yiri auil-wad‘i.

Die Worte des Scharii’ah-Gebers, welche sich auf die Handlungen des Mündigen 1 nach der Scharii’ah beziehen, in der Aufforderungs-, Auswahl- oder Vorgabe-Form. 2
  • “Die Auffordrungs- bzw. Iqtidaa-Form إقتضاء” umfasst die Aufforderung zum Tun mit oder ohne Nachdruck (Iidschaab إيجاب: das Muss-Sein bzw. Nadb ندب: das Soll-Sein) sowie die Aufforderung zur Unterlassung, mit oder ohne Nachdruck (Tahriim تحريم: das Darf-Nicht-Sein bzw. Karaahah كراهة: das Soll-Nicht-Sein).
  • “Die Auswahl- bzw. Tachyiir-Form تخيير” umfasst die Gleichsetzung von Tun und Unterlassung. Man hat die Wahl zwischen beiden (Ibaahah إباحة: das Kann-Sein).
  • “Vorgabe- bzw. Wad‘-Form وضع” umfasst alle Vorgaben des Scharii’ah-Gebers, die als sabab سبب (Grund bzw. Voraussetzung), schart شرط (Bedingung), maani’ مانع (Hindernis), sahiih صحيح (das Scharii’ah-konforme) oder als faasid فاسد bzw. baatil باطل (das Nicht-Scharii’ah-konforme) gelten.

 Typen der Scharii’ahNormen

In Bezug auf das Handeln des Mündigen nach dem Islam unterscheidet man zwei Typen der Scharii’ah-Normen: Takliifi– und Wad‘i-Normen

Die Takliifi-Norm (al-hukmut-takliifi الحكم التكليفي)

Takliif تكليف bezeichnet linguistisch “eine Verpflichtung auferlegen, bzw. Belastung mit etwas Mühevollem”.
Fachspezifisch bezeichnen die Takliifi-Normen: Allaahs Worte, die sich auf Handlungen des Mündigen nach der Scharii’ah beziehen, in der Aufforderungs- oder Auswahl-Form. 3
Die Takliifi-Normen werden nach der Mehrheit der Gelehrten in fünf verschiedene Kategorien eingeteilt:

 

1. al-iidschaab الإيجاب bzw. al-fard الفرض (die Muss-Kategorie):
Es bezeichnet die nachdrückliche, aus Allaahs Worten sich ergebende, an den Mündigen gerichtete Aufforderung zur Durchführung, mit dem Verbot der Unterlassung; z. B. das Gebieten des rituellen Pflichtgebets und der Zakaah.
Jede Handlung in dieser Kategorie heißt al-waadschib الواجب bzw. al-fard الفرض – (Adjektiv: waadschib واجب bzw. fard 4 فرض.)
Nur die Hanafiiten unterscheiden zwischen al-waadschib und al-fard. Nach dieser Fiqh-Schule werden beide wie folgt definiert:

  • al-fard ist eine Handlung, deren Verpflichtung durch einen Qat’i-Beleg (daliil-qat‘i دليل قطعي) nachgewiesen wird, d. h. nur durch Quraan und Mutawaatir-Überlieferungen 5 der Sunnah; z. B. Ableit-ung der Quraan-Rezitation im rituellen Gebet von Aayah (73:20):

فَٱقۡرَءُواْ مَا تَيَسَّرَ مِنَ ٱلۡقُرۡءَانِۚ

faqra-uu ma ta-yas-sara minal-qur-aani

“So rezitiert das vom Quraan, wozu ihr imstande seid”

Die Hanafiiten nennen diese Fard-Handlung fard i’tiqaadi فرض اعتقادي. Wer diese Handlungen verleugnet, gilt als Kaafir / Nicht-Muslim.

  • al-waadschib ist eine Handlung, deren Verpflichtung durch einen Dhanni-Beleg (daliil-dhanni دليل ظني) nachgewiesen wird.
    Ein Dhanni-Beleg kann entweder der Bedeutung nach wie die durch Analogieschluss/Qiyaas/قياس gewonnenen Normen (dhan-niy-yud-dalaalah ظني الدلالة) oder dem Überlieferungsweg nach wie die Aahaad-Überlieferung 6  (dhan-niy-yuthubuut ظني الثبوت) nicht eindeutig sein. Ein Beispiel dafür ist die Rezitation von der ersten Suurah Al-faatihah im rituellen Gebet. Diese wird von folgendem mehrdeutigem Hadiith abgeleitet: “لا صَلاةَ لِمَنْ لمْ يَقْرأ بِفَاتِحَةِ الكِتَابِ, kein rituelles Gebet gilt für denjenigen, der Al-faatihah nicht rezitiert; bzw. kein vollständiges rituelles Gebet gilt …” (B, M).
    Wer al-waadschib verleugnet gilt nach den Hanafiiten als Faasiq, aber nicht als Kaafir.

 

2. an-nadb الندب (Soll-Kategorie):

Es bezeichnet die nicht nachdrückliche, aus Allaahs Worten sich ergebende, an den Mündigen gerichtete Aufforderung zur Durchführung, mit der Erlaubnis der Unterlassung; z. B. das Gebieten vom Adduha-Gebet, von der As-salaamu-‘alaikum-Begrüßung.
Jede Handlung dieser Kategorie heißt al-manduub المندوب (Adjektiv: manduub مندوب).

 

3. al-karaahah الكراهة (Soll-Nicht-Kategorie):

Es bezeichnet die nicht nachdrückliche, aus Allaahs Worten sich ergebende, an den Mündigen gerichtete Aufforderung zur Unterlassung, mit der Erlaubnis der Durchführung; z. B. die Aufforderung zur Unterlassung des Trinkens im Stehen, des Sitzens in der Moschee vor dem Moschee-Begrüßungsgebet.
Jede Handlung in dieser Kategorie heißt al-makruuh المكروه (Adjektiv: makruuh مكروه).

 

4.    at-tahriim التحريم (Darf-Nicht-Kategorie):

Es bezeichnet die nachdrückliche, aus Allaahs Worten sich ergebende, an den Mündigen gerichtete Aufforderung zur Unterlassung, mit dem Verbot der Durchführung; z. B. Verbot der Unzucht und der Lüge.
Jede Handlung in dieser Kategorie heißt al-haraam الحرام (Adjektiv: haraam حرام).
Nur die hanafiitische Fiqh-Schule unterscheidet zwischen al-haraam und al-makruuhu tahriiman. Nach ihr werden beide wie folgt definiert:

  • al-haraam ist eine Handlung, deren Verbot durch einen daliil-qat’i دليل قطعي, d. h. durch Quraan und Mutawaatir-Überlieferungen der Sunnah nachgewiesen wird; z. B. Weinverbot durch den Quraan.
  • al-makruuhu tahriiman ist eine Handlung, deren Verbot durch einen daliil-dhanni دليل ظني nachgewiesen wird wie mittels Aahaad-Überlieferung oder Analogieschluss/Qiyaas (z. B.: Das Tragen von Seide und Gold für die Männer durch den Aahaad-Hadiith “diese (Seide und Gold) sind haraam für die Männer meiner Gemeinschaft, aber halaal für deren Frauen”).
    Das gewöhnliche al-makruuh nennen die Hanafiiten al-makruuhu tanzihan.

 

5. al-ibaahah الإباحة (Kann-Kategorie):

Es bezeichnet Allaahs Worte, die weder eine Aufforderung zur Durchführung noch zur Unterlassung beinhalten, sondern die Wahl dem Mündigen überlassen haben; z. B. Essen und Trinken zur Ernährung im Normalfall.
Jede Handlung in dieser Kategorie heißt al-mubaah المباح (Adjektiv: mubaah مباح).
Trotz dieser unterschiedlichen Definitionen der Fiqh-Schulen, sind die Normen im Endeffekt gleich, da die anderen Schulen auch zwischen den Qat’i- und Dhanni-Belegen unterscheiden, ohne dafür eigene Definitionen zu vereinbaren.

Die Wadi-Normen (al-hukul-wad‘i الحكم الوضعي)

Wad‘i bedeutet wörtlich “gesetzt, vorgegeben”.
Wad‘i-Normen sind fachspezifisch: Allaahs Worte, die etwas als sabab, schart, maani‘, sahiih oder faasid definieren.

 

1. as-sabab السبب

Wörtlich bezeichnet as-sabab alles, was zum Erstrebten führt, z. B. Straße oder Seil.
Fachspezifisch ist as-sabab ein Charakteristikum, das erkennbar, beständig und auf die Norm hinweisend ist; z. B. die Reise im Ramadaan ist ein sabab zum Aussetzen des rituellen Fastens.

 

2. asch-schart الشرط

Wörtlich ist asch-schart “Zeichen, Merkmal, Bedingung”.
Fachspezifisch bezeichnet asch-schart das, dessen Abwesenheit die von ihm abhängige Norm (das Bedingte) verhindert, aber seine Anwesenheit an sich keinerlei Auswirkung weder auf das Zustandekommen der Norm noch auf ihre Annullierung hat, und im Gegensatz zum rukn nicht als Teil der erfolgten Handlung ist.
Ein Beispiel dafür ist die wuduu’/ die rituelle Gebetswaschung und salaah/ das rituelle Gebet: Wenn die rituelle Gebetswaschung nicht vollzogen wurde, kann man das rituelle Gebet nicht verrichten. Doch wenn die Gebetswaschung vollzogen wurde, muss das rituelle Gebet weder zustande kommen noch annulliert werden, da man zwar wuduu’ haben kann, aber nicht beten muss. Außerdem ist die wuduu’ eine separate Handlung, die nicht Teil des rituellen Gebets ist.
Manchmal erfolgen sabab und schart bzw. schart und maani’ gemeinsam, sodass die Existenz von schart das Zustandekommen der Norm bewirkt bzw. annulliert, jedoch nicht aus eigener Kraft, sondern aufgrund des begleiteten sabab bzw. maani’, wie bei der Verpflichtung zur Entrichtung der Zakaah: Damit die Zakaah zur Pflicht wird, muss ein Lunarjahr vergehen (schart) und die Zakaah-Erhebungsgrenze (sabab) vorhanden sein. Beim Fehlen der Zakaah-Erhebungsgrenze (sabab) oder beim Vorhandensein von Schulden (maani’) gibt es keine Pflicht zur Zakaah trotz Vorhandenseins des schart.

 

3. al-maani’ المانع

Wörtlich ist al-maani’ “Trennung zwischen zwei Dingen”.
Fachspezifisch ist al-maani’ ein Charakteristikum, das existent, erkennbar, beständig und das Gegenteil der Norm aufzeigend ist, z. B. die Menstruation als maani’/Hindernis für das Verrichten des rituellen Gebets.

 

4. assih-hah الصحة

Wörtlich ist assih-hah das “Gegenteil von der Krankheit”.
Fachspezifisch bezeichnet assih-hah die Übereinstimmung einer Handlung mit zwei Durchführungsmöglichkeiten gemäß der Scharii’ah; z. B. korrektes Verrichten des rituellen Gebets.

 

5. al-fasaad الفساد bzw. al-butlaan البطلان

Wörtlich und fachspezifisch ist al-fasaad und al-butlaan “das Gegenteil von assih-hah”. 7
Eine Handlung im Bereich von al-fasaad bzw. al-butlaan heißt faasid bzw. baatil.
Die Hanafiiten unterscheiden fachspezifisch grundsätzlich zwischen al-faasid und al-baatil:

  • al-baatil bezeichnet alles, bei dem weder Ursprung noch Spezifikation von der Scharii’ah gedeckt sind; z. B. Verkauf von noch nicht geborenen Tieren.
  • al-faasid bezeichnet alles, dessen Ursprung zwar von der Scharii’ah gedeckt, jedoch aufgrund der Spezifikation verboten wird; z. B. der Verkauf von 1 g Gold gegen 2 g Gold. 8
    Alles, was faasid bzw. baatil ist, gilt bei den anderen Schulen als nichtig. Dagegen gilt bei den Hanafiiten nur al-baatil als nichtig jedoch nicht al-faasid. Ein Beispiel dafür ist das Kaufen von Fischen im Meer; dieser Kaufvertrag ist nichtig, im Gegensatz zum Kaufen von 1 g Gold gegen 2 g Gold, denn dies ist faasid und zieht nach sich eine Sünde, aber der Vertrag an sich bleibt gültig mit allen Konsequenzen.

Notes:

  1. Der Mündige nach der Scharii’ah ist jede Person, die geschlechtsreif, zurechnungsfähig, von der Botschaft des Gesandten erreicht wurde und imstande ist, ALLAAHs Worte aufzunehmen.
  2. Definition des Gelehrten Abu-‘amr Bnul-haadschib إبن الحاجب (570 – 646 n. H.), siehe auch Imaam Saifud-diin Al-aamidi سيف الدين الآمدي: „al-ihkaamu fi usuulil-ahkaam الإحكام في أصول الأحكام“.
  3. Siehe Imaam ‘aabidiin, Muhammad Amiin: „Haaschiyatu ibni-‘aabidiin“
  4. Siehe Imaam Al-ansaariy Al-laknawiy,’Abdul-’aliyi Muhammad: „fawaatihur-rahamuut bi-scharhi musal-lamith-thubuut فواتح الرحموت بشرح مسلم الثبوت”.
  5. Hadiithe, die in jeder Tradentengeneration – vom Anfang bis zum Ende der Überlieferungs­kette – von einer großen Anzahl von Tradenten überliefert werden, die gewohnheitsgemäß eine Falsch­aussage nicht haben absprechen können.
  6. Alle Hadiithe, die nicht Mutawaatir-Überlieferungen sind, gehören zu dieser Kategorie.
  7. Definitionen siehe Imaam Ibnu-taimiyah: „al-musauwadah fi usuulil-fiqhالمسودة في أصول الفقه “
  8. Siehe At-taftaazaani, Sa’dud-diin: „scharhut-talwiihi ‘alat-taudihi li-matnit-tanqiihشرح التلويح على التوضيح لمتن التنقيح“