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Exkurs: Geschichte der wahhabitischen Bewegung


Nadschd

Der historische Hintergrund der wahhabitischen Bewegung muss in direktem Zusammenhang mit dem Gebiet Nadschd, seinem Ursprungsland auf der Arabischen Halbinsel, gesehen werden. Aufgrund seiner isolierten geographischen Lage und der ungünstigen Bedingungen für die Herausbildung städtischer Zivilisationen war Nadschd bis in die Neuzeit fast immer nur ein Nebenschauplatz historischer Ereignisse. Mit dem Abschluss der großen Auswanderungswellen der arabischen Nomadenverbände zur Zeit der Eroberungen unter den ersten Nachfolgern des Propheten in die fruchtbareren Gebiete Syriens und des Iraks fiel Zentralarabien teils wieder zurück in Zustände, die an die politische Zersplitterung des vorislamischen Arabiens erinnerten. Viele der islamischen Großreiche verzichteten auf eine tatsächliche Kontrolle dieser Gebiete bzw. mussten aus realpolitischen Erwägungen davon Abstand nehmen und begnügten sich damit, die größeren Beduinenverbände von einer Plünderung der Handels- und vor allem der Pilgerkarawanen nach Makkah durch Schutzgeldzahlungen abzuhalten.

Die osmanische Chilaafah, in deren Schlussphase die Entstehung der wahhabitischen Bewegung und die Herausbildung des ersten saudischen Staates (ab 1744) fällt, stellt hier keine Ausnahme dar. Ihr Machtbereich beschränkte sich in Arabien auf die Kontrolle der Westküste entlang des Roten Meeres (Hidschaaz, Asiir bis Jemen) und in geringerem Maße der Ostküste (Arabischer Golf: späteres Kuwait, vereinzelte Festungen bis Qatar). Umso erstaunlicher ist die Dynamik der Entstehung des saudischen Staates in einem nomadischen Gebiet, das sich über Jahrtausende traditionell staatlichen Strukturen und Zentralisierungstendenzen gegenüber unempfänglich gezeigt hatte.

Muhammad Bnu-‘abdil-wahhaab (1703–1792)

Die Quellenlage für eine objektive Einschätzung der Anfangsstadien der wahhabitischen Bewegung ist dürftig. Erst als es zur tatsächlichen Konfrontation mit den Osmanen kam, erschienen erste – oft zu undifferenzierter Polemik neigende – anti-wahhabitische Streitschriften, auf die dann eine pro-wahhabische saudische Geschichtsschreibung reagierte: mitunter mit einer diametral entgegen gesetzten Darstellung und Deutung der Ereignisse.

Muhammad Bnu-‘abdil-wahhaab wurde 1703 in der kleinen Ortschaft ‘Uyainah, in der Nähe des später gegründeten Ar-riyaad (Riyad), geboren. Die Möglichkeiten des Wissenserwerbs waren im Nadschd denkbar ungünstig. So lernte er zuerst von seinem Vater ‘Abdul-wahhaab, der in ‘Uyainah das Richteramt bekleidete und begab sich bereits in jungen Jahren auf die Pilgerfahrt. In Al-madiinah lernte er von einem Gelehrten, der stark unter dem Einfluss von Schaich Ibnu-taimiyah (gest. 728/1328) stand. Zur Fortführung seiner Studien zog er weiter, unter anderem nach Baghdaad und Basra, wo er wegen seiner Predigten aus der Stadt verbannt wurde. Mit der Zeit verfestigte sich seine radikale Sicht auf die Lage der Ummah: Diese kenne den Islam nur noch dem Namen nach, befände sich aber längst wieder in vorislamischen Zuständen. 1740 ließ er sich wieder im Nadschd nieder, wo er sein Buch Kitaabut-tauhiid verfasste. Mit seinen leidenschaftlichen Predigten stieß er auch unter den lokalen Machthabern und den religiösen Gelehrten auf Unverständnis und Widerstand, sogar sein Vater und sein Bruder lehnten ihn dezidiert ab.

Ibnu-‘abdil-wahhaab floh und fand 1744 Aufnahme bei Muhammad Bnu-sa’uud (reg. 1735–1765), dem Anführer des Stammes der Aal-sa’uud in Ad-dir’iyyah. Der zwischen den beiden geschlossene Pakt legte die Keimzelle für den saudischen Staat und legitimiert dessen religiös-politischen Machtanspruch bis heute. In der Folge heiratete Ibnu-‘abdil-wahhaab auch dessen Tochter. Ibnu-sa’uud wurde nun für die politische Führung und Expansion des Staatsgebietes verantwortlich, während es Ibnu-‘abdil-wahhaab zukam, in den eroberten Gegenden sein Islam-Verständnis durchzusetzen. Interessanterweise hat sich diese Aufgabenteilung der beiden Familien bis heute bewahrt: Nicht nur, dass alle saudischen Könige aus derselben Familie abstammen, auch der heutige Großmufti, ‘Abdul-‘aziiz Bnu-‘abdil-laah, trägt den Beinamen Aalusch-schaich: aus der Familie des Schaich Ibnu-‘abdil-wahhaab stammend.

Sehr deutlich auf diese frühe Phase zurückgeführt werden kann auch die Institution der heutigen saudischen “Religionspolizei”, welche für die konkrete Durchsetzung des Prinzips von al-aru bil-ma’ruufi wan-nahyu ‘anil-munkar (“das Gute gebieten und das Schlechte verwehren”) verantwortlich ist. Das Prinzip ist zweifellos ein fester Bestandteil des Islams. Seine konkrete Ausformung gestaltete sich jedoch in jeder Epoche der islamischen Geschichte und in jedem Gebiet unterschiedlich: Meistens waren es keine festen Institutionen, die sich der Durchführung annahmen, sondern es wurde als ein moralisches Kennzeichen eines jeden überzeugten Muslims – und vor allem der Gelehrten – verstanden, welche in der Gesellschaft tätig sein sollten.

Die Werke Ibnu-‘abdil-wahhaabs sind ein Spiegelbild seiner auf praktische Reformen abzielenden Bewegung. Keine komplizierten Abhandlungen zu Usuulul-fiqh oder Hadiith-Wissenschaft stehen bei ihm im Vordergrund, sondern einfache Werke, welche vor dem Rückfall in den Schirk (Polytheismus) und unerlaubte Neuerungen warnen. Am bekanntesten darunter ist die kurze Schrift Kitaabut-tauhiid. Viel mehr als Überschriften zu einer Auswahl von Aayaat und Ahadiith enthält dieses Buch nicht an Eigenständigem. Die Sammlung der Belege beschäftigt sich mit dem Tauhiid-Bekenntnis und allem, was dieses Bekenntnis zunichte werden lässt.

Der 1. Saudische Staat

1786 hatte der Stamm Aal-sa’uud den gesamten Nadschd erobert, mittlerweile spricht man vom 1. Saudischen Staat. Da sich dieser Staat auf das Innere der arabischen Halbinsel beschränkte, wurde diese Entwicklung bei den benachbarten Mächten – vor allem den Osmanen – kaum ernsthaft registriert. Trotz aller Kritik an dem kompromisslosen Vorgehen der Bewegung in den eroberten Gebieten, muss auch zugestanden werden, dass mit der staatlichen Expansion erstmals wieder seit Jahrhunderten größere Gebiete in einem sozialen Zusammenhang vernetzt wurden, der das einfache Stammessystem mit seinen ständigen Fehden und Rachefeldzügen überlagerte und zeitweise in den Hintergrund treten ließ. Aus Sicht der saudischen Geschichtsschreibung wird als Verdienst der wahhabitischen Bewegung eben nicht nur die Rückkehr zu einem (angeblich) bid’ah-freien Islam beschworen sondern auch die Vorstellung, dass öffentliche Sicherheit vor willkürlichen Raubüberfällen, wirtschaftlicher Aufschwung und die Grundlagen der Zivilisation in diesem Gebiet erst mit dem Pakt von 1744 Einzug gehalten hätten.

Kritisch eingewandt werden muss, dass gerade bei der Modernisierung Saudi-Arabiens im 20. Jh. die spezielle Auslegung der saudischen Gelehrten auch immer einen Hemmschuh darstellte (zeitweise Fatwa gegen technische Errungenschaften, Fahrverbot für Frauen, Ablehnung von Verfassung, Parlament, Frauenwahlrecht). Andererseits fand auch die Vereinigung der Beduinen-Stämme Nadschds ihre Kehrseite in der blutigen Auseinandersetzung mit der Bevölkerung des Hidschaaz, die sich folgendermaßen entwickelte:

Expansion und Zusammenbruch (1744-1818)

Muhammad Ibnu-‘abdil-wahhaab starb 1792 in hohem Alter. Die politischen Nachfolger expandierten außerhalb ihres traditionellen Herrschaftsgebietes in den Hidschaaz, der mit Makkah und Al-madiinah Gelehrtenzentren beherbergte, welche sich völlig vom Beduinen-Milieu des Nadschd unterschieden. Aus Sicht der wahhabitischen Bewegung wurden diese Zentren als dekadent und dem einfachen Islam der Frühzeit entfremdet betrachtet: Vor allem die Sufi-Orden mit ihren eigenständigen Riten und die über Jahrhunderte entstandenen Grabbauten für Sahaabah und Gelehrte boten immer wieder Anlass zur Kritik. Auch aus Sicht des sunnitischen Islams sind übertriebene Grabbauten eindeutig abzulehnen, die Gefahr einer übertriebenen Verehrung von Gräbern ist bekannt. Mindestens genauso gefährlich ist es jedoch, hier bereits von Schirk zu sprechen und die Besucher solcher Gräber mit den vorislamischen Muschrikuun gleichzusetzen.

1802 kam es zu anti-schiitischen Massakern und zur Zerstörung des Mausoleums von Husain Bnu-‘aliy in Karbala, das als schiitischer Pilgerort im Süden des Irak genau am Übergang zu den osmanisch kontrollierten Gebieten lag. 1803 wurden Makkah und Al-madiinah erobert, woraufhin die Osmanen, Muhammad ‘Ali 1, den äußerst energischen Gouverneur Ägyptens, mit der Rückeroberung der Pilgerstätten beauftragten. 1811 eroberte eine Armee unter ‘Alis Sohn, Ibraahiim Pascha, den Hidschaaz und marschierte 1816 bis in den Nadschd. 1818 war die wahhabitische Bewegung geschlagen und der saudische Staat vernichtet. Die ägyptisch-osmanische Armee zerstörte Ad-dir’iyyah, die damalige Hauptstadt und nahm Abdul-laah I. Bnu-sa’uud (1814-18) gefangen. Er wurde nach Istanbul gebracht und aufgrund der Anklagepunkte “Fasaad (Zerstörung) auf Erden”, “Spaltung von Muslimen” und “Rebellion gegen den Chaliifah” hingerichtet.

Spätestens seit dieser Zeit galt im Osmanischen Reich die wahhabitische Bewegung als eine gefährliche gegen die Einheit der Muslime gerichtete Sekte. Mit dem Zerbrechen der türkisch-arabischen Einheit im Ersten Weltkrieg wurde auch dieses Thema immer wieder genutzt, um pauschal anti-arabische Vorurteile zu bestärken.

Das zweite Saudische Reich

1818 war das erste Reich zerstört. Das brutale Vorgehen der Osmanen, welches nicht auf Versöhnung angelegt war, sondern mit einer Politik der verbrannten Erde ein Gebiet überzog, das es bis dahin nie kontrolliert hatte, war kein Beitrag zur Lösung dieses strukturellen Problems. Der osmanische Staat besaß (genauso wenig wie seine Vorgänger) ein Patentrezept, dieses unbotmäßige und kulturell völlig isolierte Gebiet an das Niveau der islamischen Welt anzuschließen. Die wirtschaftlich-technischen Ressourcen waren nicht gegeben, um in diesem Winkel eine städtische Kultur aufzubauen, welche über geeignete Bildungsinstitutionen eine Mäßigung im Islamverständnis hätte hervorbringen können.

Daher verwundert es nicht, dass sich mit dem Abzug der Armee aus den Trümmern der zweite Saudische Staat zu formieren begann. Bereits 1824 hatte sich der Staat wieder regeneriert und es folgte bis 1891 eine Reihe von Herrschern, die ihre Macht hauptsächlich auf den Nadschd erstreckten. Da das entwickeltere Gebiet des Hidschaaz nicht einbezogen war, gibt es auch wenige Berichte, die uns einen Eindruck vom Leben im damaligen 2. Saudischen Staat liefern.

Ab den 1870er Jahren folgte eine Zeit der Thronwirren, bis es 1887 dem konkurrierenden Beduinenstamm der Aal-raschiid, welche mit den Osmanen verbündet waren, gelang, die Familie von Aal-sa’uud aus dem Nadschd zu verdrängen. 1891 flüchtet die Familie ins Exil nach Kuwait.

Der Dritte Saudische Staat

Um die Jahrhundertwende erschien eine Regenerierung der alten Macht aus dem Exil heraus unvorstellbar. Umso erstaunlicher sind die Leistungen des ‘Abdul-‘aziiz Bnu-sa’uud (1880-1953), der es schaffte, mit einer kleinen Anhängerzahl buchstäblich vom Rücken seiner Pferde aus, das Reich seiner Vorväter den Händen der konkurrierenden Aal-raschiid zu entreißen. Er begab sich 1902 mit einigen Dutzend Kämpfern von Kuwait nach Riyad, wo er im Handstreich die Festung eroberte. Die Keimzelle des 3. Staates und des heutigen Saudi-Arabiens war damit gelegt. In den folgenden Jahren erstreckte sich die Herrschaft wieder auf den gesamten Nadschd, wo eine prinzipielle Zustimmung der Bevölkerung zu den wahhabitischen Prinzipien vorausgesetzt werden kann.

Ab 1913 kommt es zu Eroberungen in Ostarabien. Die zum Osmanischen Reich gehörende Provinz Al-hasa wurde erobert. Ein Rückeroberungsversuch durch die Osmanen musste wegen des nahenden Weltkriegs ausgesetzt werden; die osmanischen Truppen wurden an anderen Frontabschnitten benötigt. Mit Al-hasa kamen größere schiitische Gebiete unter saudische Herrschaft. Zugeständnisse wurden hier kaum gemacht: die schiitische Bevölkerung wurde meist wie eine nicht-muslimische Minderheit behandelt (Zahlung von Sondersteuern, Verbot eigener Publikationen oder öffentliche Praktizierung ihrer Riten). Bis heute hat sich das schiitisch-wahhabitische Verhältnis kaum grundsätzlich verändert und führt in den östlichen Provinzen häufig zu Aufständen, Niederschlagung und einer Verhärtung der Positionen. Beide Seiten stehen sich mit einer Haltung der Kompromisslosigkeit, des Unverständnisses und schonungsloser Polemik gegenüber. Für den Mainstream der Nadschd-Gelehrten sind 12er Schiiten oft Nicht-Muslime, die den Islam mit einer Reihe von unislamischen Vorstellungen und Riten entstellt hätten. Die schiitische Polemik kontert, indem man die Wahhabiten als Gegner der Prophetenfamilie (Ahlul-bait), als Nawaasib 2, bezeichnet oder schlicht als Feinde des Islam, die den Islam jeglicher innerer Bedeutung berauben und ihn in Zusammenarbeit mit den ehemaligen Kolonialmächten auf ein System starrer, menschenfeindlicher Riten reduzieren wollten.

Die erneute Expansion in den Hidschaaz hinein wurde der Saud-Familie durch den Zusammenbruch der Osmanischen Chilaafah ermöglicht. 1915 kam es zu einem Freundschaftsvertrag mit Großbritannien, das während des 1. Weltkriegs versuchte, die arabischen Stammesführer gegen die Chilaafah zu gewinnen, indem bewusst die Entfremdung der Araber von den Türken ausgenutzt wurde. Mit dem Rückzug der osmanischen Truppen aus dem Hidschaaz 1918 übernahm der Schariif von Makkah (ein weiterer Verbündeter der Engländer, aber Konkurrent der Saudis) kurzzeitig die Herrschaft, konnte sich aber nicht, wie gewünscht, zum König aller Araber in einem panarabischen Großreich ausrufen. 1924 erobern die Saudis Makkah und Attaif und 1925 Al-madiinah.

1932 wurde das Königreich Saudi-Arabien ausgerufen. Unter der Oberfläche wurde jedoch der Gegensatz zwischen den alteingesessenen Gelehrten- und Händlerfamilien des Hidschaaz und den neuen Eliten aus dem Nadschd, welche vor allem durch die Anbindung an die Herrscherfamilie protegiert werden, weiterhin ausgetragen.

Nachdem in der Türkischen Republik auch die nominelle Chilaafah 1924 abgeschafft worden war, erhoben sich Stimmen, die eine Neubelebung – möglicherweise durch Saudi-Arabien als Herrscher von Makkah und Al-madiinah – favorisierten. Das saudische Königtum zeigte jedoch deutlich, dass ihm an einer solchen Einheit nicht gelegen war. Saudi-Arabien stellte mit den letzten Kriegen im südlichen Arabien und dem Jemen in den 30er Jahren (Eroberung von ‘Aiisr, Nadschran…) seine territoriale Expansion ein und machte sich an eine innenpolitische Stabilisierung.

Die Beziehungen zu den europäischen Großmächten waren von Anfang an besonders privilegiert. Auch als sich die letzte Chilaafah im 1. Weltkrieg gegen Großbritannien verteidigen musste, kam von Saudi-Arabien keinerlei Unterstützung. Die Zusammenarbeit mit Großbritannien wurde nach dem zweiten Weltkrieg durch eine Annäherung an die USA ergänzt.

Mit der Vergabe der Ölförderrechte an die ARAMCO entwickelte sich Saudi-Arabien in den 50er Jahren zum bedeutendsten Ölproduzenten.

Es braucht daher nicht zu verwundern, dass seitdem in der anti-wahhabitischen Polemik der Vorwurf erhoben wird, dass es dieser Bewegung nie um eine Stärkung der islamischen Einheit, sondern stets um die Durchsetzung sektiererischer Interessen zur eigenen Machtstabilisierung gegangen sei.

Begriffsbestimmung: Sunniten – Wahhabiten – Salafiyyah

Die Bestimmung der drei Begriffe gestaltet sich hier nicht so eindeutig, wie es ein vorwissenschaftliches Alltagsverständnis erwartet. Im Gegensatz zu einer Gruppierung wie der Schii’ah, welche sich explizit auch als solche bezeichnet, eigene Prinzipien definiert und dementsprechend wissenschaftlich beschrieben werden kann, treffen im Falle der Anhänger Ibnu-‘abdil-wahhaabs verschiedene Deutungsmöglichkeiten aufeinander.

Eigenbild und Eigendefinitionen der Anhänger

a.) Oft beschreiben sich Anhänger der Bewegung Ibnu-‘abdil-wahhaabs schlicht als Sunniten. Vielen Einwohnern Saudi-Arabiens mag heute auch nichts anderes im Bewusstsein sein. Ibnu-‘abdil-wahhaab erscheint (subjektiv) als einer in einer langen Reihe von sunnitischen Gelehrten, welcher sich lediglich durch die besonders konsequente Durchsetzung islamischer Prinzipien hervorgetan habe.

b.) Gleichzeitig aber findet sich bei manchen Vertretern eine ausgeprägte Tendenz, das Sunnitentum zu monopolisieren und sich als die einzigen “wahren” Vertreter von Ahlus-sunnah wal-dschamaa’ah zu positionieren. In der Vergangenheit wurde daher oft der Name Muwahhiduun (Tauhiid-Bekenner) verwendet, um auf das (vorgeblich) Besondere der Bewegung, das “besonders reine Bekenntnis und Ausleben des Tauhiid”, zu verweisen.

c.) Weiterhin gibt es verschiedene Strömungen, welche bewusst eine Abgrenzung vornehmen, indem sie sich (ca. seit Mitte des 20. Jhs.) als Salafi/Salafiyyah bezeichnen und diese Bezeichnung auch offensiv propagieren. Hier sollte jedoch beachtet werden, dass der Begriff Salafi keinesfalls aus der ursprünglichen Bewegung des Ibnu-‘abdil-wahhaab stammt, sondern aus der ägyptischen Reformbewegung zu Beginn des 20. Jhs. Diese, um Muhammad ‘Abduh (gest. 1905) und seinen Schüler Raschiid Rida (gest. 1935), entstandene Bewegung ist jedoch nur oberflächlich mit der Wahhabiyyah vergleichbar. Beiden mag die Betonung der “as-salafussaalih” (der “rechtschaffenen Vorfahren”: der Sahaabah und der folgenden zwei vorbildlichen Generationen) zentral zu eigen sein, sie werden aber mit unterschiedlichen Motiven vereinnahmt: Für die Wahhabiyyah sind die Salaf ein für alle Ewigkeit vorgegebenes Ideal, denen man möglichst in allen Lebensbereichen und möglichst buchstabengetreu nacheifern sollte, für ‘Abduh bot sich hingegen durch den Rückgriff auf die Salaf die argumentative Möglichkeit, die später entstandenen Wissenschaften und Denkstrukturen der Chalaf (der “nachfolgenden Gelehrten”) zur Seite zu schieben, um die Übernahme westlicher Institutionen und Denkmuster zu ermöglichen.

Definitionen der Gegenseite

Auf der anderen Seite findet sich die Gegenpolemik, welche schlicht von “Wahhabiten” spricht – ein Name, der zwar nie von dieser Gruppe als Eigenbezeichnung verwendet wurde, sich jedoch als Fremdbezeichnung seit den saudisch-osmanischen Kriegen durchgesetzt hat. Suggeriert wird damit, dass es sich um eine eindeutig definierbare Gruppe außerhalb des sunnitischen Islams handle, was im Einzelfall jedoch nicht immer so leicht ist. Denn viele, als “wahhabitisch” charakterisierte Positionen, finden sich durchaus in einzelnen Richtungen des sunnitischen (vor allem des hanbalitischen) Islam. Oft handelt es sich nur um spezielle Neigungen, die pointiert und abgrenzend in den Vordergrund gestellt werden. Spezifisch “wahhabitisch” ist hier vor allem der absolutistisch vertretene Anspruch, dass es sich bei diesen Idschtihaad-Meinungen um die einzig denkbare Form von Islam handle und die Bemühung, diese Ansichten nötigenfalls auch mit Gewalt durchzusetzen – egal, wie sehr die Einheit der Ummah darunter leidet.

Die Bereitschaft, an-nahyu ‘anil-munkar (“Vom Schlechten abzuhalten” – zweifellos in seinem Kern eine islamische Pflicht), ohne Kompromisse auch gegenüber Muslimen durchzusetzen, welche eine andersartige, aber gleichwohl begründbare islamische Ansicht vertreten, ist letztlich auch mit der Herkunft aus dem beduinischen Milieu zu erklären. Bereits in der Siirah-Zeit unterscheidet sich der beduinische Zugang zum Islam beträchtlich von dem Verständnis der Sahaabah – was auch im Quraan an zahlreichen Stellen (Suurah: At-taubah, Al-hudschuraat) hervorgehoben wird. Der rauhen nomadischen Lebenswelt entsprachen eher Charaktereigenschaften wie Unbeugsamkeit, Starrsinnigkeit, Ausdauer, Rachsucht und nicht der Hang zu differenziertem Denken, wie es der Prophet (sallal-laahu ‘alaihi wa sallam) den Sahaabah in jahrelanger Erziehung vermittelt hatte.

Deswegen verwundert es nicht, dass bereits die erste radikale Abspaltung der frühen Ummah, die Charidschiten (Chawaaridsch), mit ihrer vereinfachten Neigung, jede Sünde als Abfall vom Islam einzustufen und ihrer Bereitschaft, sich für ihre eigene Überzeugung in sinnlosen Kämpfen gegen die Mehrheit der Muslime aufzureiben, unter den Beduinen ihren stärksten Rückhalt gefunden hatte. Die Sahaabah konnten diesem Fanatismus, der auf einem einseitigen fehlgeleiteten Verständnis von Islam beruhte, nichts abgewinnen. Kein Sahaabiy fand sich daher in den Reihen der Chawaaridsch. In der Folgezeit gab es kaum bedeutende Gelehrten, die aus dem Nadschd hervorgegangen oder dort gewirkt hätten.

Da sich an der Lebenswelt der Beduinen zwischen dem 7. und 18. Jh. in soziologischer und kultureller Perspektive strukturell nichts Entscheidendes geändert hatte, war es für die Gelehrten, welche sich in den entwickelteren Nachbarländern mit der wahhabitischen Bewegung auseinander setzen mussten, augenfällig hier von einer Neuauflage des Charidschitentums zu sprechen. Auch wenn die Anhänger Ibnu-‘abdil-wahhaabs diesen Vorwurf aufs Schärfste zurückwiesen und zurückweisen, zeigen sich aus religionsvergleichender Sicht doch erstaunliche Parallelen:

  • Die vehemente Ablehnung der Errungenschaften vieler Gelehrter, welche als inkompatibel mit den eigenen Prinzipien angesehen werden und der Unwille, dem intellektuellen Gegner Redlichkeit und seinen Argumenten Plausibilität zuzusprechen,
  • die Neigung, auf der wörtlichen Bedeutung eines Textes (nass) aufbauend schwerwiegende Aussagen abzuleiten, welche den Großteil der Ummah entweder als Kuffar oder zumindest als “Muslime auf Abruf” erscheinen lässt,
  • die Neigung, das eigene Verständnis von Diin mit dem Diin selbst gleichzustellen (“Ich kenne Allaahs Willen!”)
  • Bereits den Charidischiten wurde vorgeworfen, unter Hintanstellung des Kontexts die im Quraan auf Nichtmuslime bezogenen Aayaat pauschal und undifferenziert auf Muslime zu übertragen.

Was unterscheidet die wahhabitische Bewegung vom Islam der Ahlus-sunnah wal-dschamaa’ah? Grundlegend ist ihm eine hanbalitische Ausrichtung zu Eigen, die sich durchaus noch im Rahmen des sunnitischen Denkens bewegen kann. Kennzeichnend für die Hanbaliyyah ist vor allem: die Skepsis gegenüber philosophischem Denken, Spekulation und Ta’wiil, eine vorsichtige bis ablehnende Haltung gegenüber dem Qiyaas (Analogieschluss), das Beharren auf einer möglichst wörtlichen Umsetzung des Hadiith und der Überlieferungen der Sahaabah und ein sehr eng gezogener Rahmen für die Definition von Bid’ah (Neuerungen) – besonders im Bereich des Tasawwuf und Tariiqah-Wesens. Diese Tendenzen sind zu akzeptieren, wenn es sich um eine persönliche Einstellung eines Gelehrten handelt. Sie können dann gefährlich werden, wenn sie verabsolutiert werden und in der Auseinandersetzung mit dem Gegner den Nährboden für vorschnellen Takfiir bereiten. Bei der Ableitung von Fiqh-Normen aus den Quellen findet sich daher folgendes Muster, auch wenn es sich durchaus bei jedem einzelnen Gelehrten in unterschiedlicher Schärfe zeigt und immer wieder in Veränderung begriffen ist:

  • die Neigung, vorschnell Mustahab (Soll-Handlungen) zu Fard (Pflicht) zu erklären;
  • die Neigung, vorschnell Makruuh-Handlungen (Soll-Nicht-Handlungen) zu Haraam (Darf-Nicht-Handlungen) zu erklären;
  • die Neigung, vorschnell mögliche/notwendige Neuerungen als unerwünschte Neuerungen (Bid’ah) einzustufen;
  • die Neigung, unerwünschte Bid’ah als einen Abfall vom Islam anzusehen;
  • die Neigung, möglichen Ta’wil in Aqiidah-Fragen als Kufr einzustufen.

Betrachtet man dieses Muster vor dem Hintergrund des beduinischen Milieus wird klar, welche Gefahren entstehen, wenn eine solche Haltung eine Symbiose mit dem Willen zu Herrschaft und territorialer Ausbreitung eines Staates eingeht. Nach der Gründung des 3. Saudischen Staates kann man jedoch auch gegenläufige Tendenzen feststellen. In dem Maße, wie sich die Herrschaft von ihrem beduinischen Trägermilieu löste, wurden extreme Deutungen entschärft. Auslöser hierfür war die Zerschlagung der beduinischen Ichwan, die hier kurz dargestellt werden soll:
Bereits in den ersten Jahren seiner Herrschaft hatte der König die Sesshaftmachung der Beduinen-Stämme eingeleitet, um die durch das Nomadenleben hervorgerufene Unberechenbarkeit einzudämmen. Denn die Mobilität der Beduinen und ihre Ungebundenheit hatten sie stets dazu gebracht, im entscheidenden Augenblick gemeinsame Sache mit dem Gegner zu machen. Diese ständig wechselnde Solidarität und Bündnispolitik machten eine geplante Entwicklung des Landes unmöglich. Den Beduinen wurden daher Siedlungsgebiete zugewiesen, in denen das Leben streng nach den islamischen Prinzipien wahhabitischer Auslegung gestaltet werden sollte. Durch diese bewaffneten Wehrdörfer konnte der expandierende Staat auch stets auf eine große Anzahl von loyalen Kämpfern bauen. Die Kämpfer nannte man Ichwaan (“Brüder”), was jedoch in keinem Zusammenhang mit der weitaus bekannteren Bewegung der Al-ichwaanul-muslimuun, der 1928 von Hasan Al-banna (1906-1949) in Ägypten gegründeten Muslimbruderschaft steht.
Im Zuge der Modernisierung des Staatswesens und der Übernahme technischer Errungenschaften artikulierte sich unter den saudischen Ichwan-Truppen zunehmen der Protest. 3 Der saudische Staat erkannte das gefährliche Potential, das entstanden war durch die Verquickung von enger Islam-Auslegung, Unduldsamkeit und dem Gefühl, bei der Modernisierung an den Rand gedrängt zu werden. 1929 kam es zur offenen Rebellion der technikfeindlich eingestellten Ichwaan und einer offenen Feldschlacht, welche mit dem Sieg des Königs endete. 4 Mit der Ausschaltung dieser strengsten Anhänger der wahhabitischen Lehre begann eine Phase der Mäßigung in der Gelehrtenschaft, die durch die Kontakte mit islamischen Bewegungen in den Nachbarstaaten seit den 30er Jahren noch verstärkt wurde. Saudi-Arabien öffnete sich neuem Gedankengut und radikale Takfiir-Tendenzen gegenüber den Anhängern der sunnitischen Schulen wurden aus dem offiziellen Islam-Diskurs verbannt. Letztlich scheint sich hier ein Prozess zu wiederholen, den auch die Ummah in ihrer Frühzeit mitgemacht hatte: Mit der Verkomplizierung der Lebensverhältnisse durch die Ausbreitung des Islams in den Kulturländern der eroberten Gebiete (Syrien, Irak, Ägypten, Iran) war es zu einer Differenzierung des Denkens gekommen. Die Ausbreitung der islamischen Disziplinen, die Entwicklung verzweigter Fachterminologien und komplexer Instrumente wissenschaftlicher Welterfassung und die unablässige Auseinandersetzung mit Gegenmeinungen sind nichts anderes als eine islamisch adäquate Antwort auf die neuen Lebensumstände mit ihren andersartigen gesellschaftlichen Strukturen. Neben dieser Reintegration in die Ummah kann jedoch das frühe Gedankengut der Wahhabiyyah immer dort virulent werden, wo kleine isolierte Gruppen meinen, das Rad der Geschichte zurückdrängen und mit Gewalt Zustände eines idealisierten frühen Islams erzwingen zu können, die mehr ihren eigenen Vorstellungen, als der historischen Wirklichkeit entspringen. Eine interessante Einschätzung über die Widersprüchlichkeit der wahhabitischen Bewegung gibt Asad (Leopold Weiss 1900-92), der in den 30er Jahren unter den Beduinen lebte. Auf der einen Seite hatte er große Sympathie für die Bewegung und war auch in aufrichtiger Freundschaft dem Gründer ‘Abdul-‘aziiz Bnu-sa’uud zugetan. Lange Zeit hatte er Hoffnung, dass aus diesem Gebiet eine wirkliche Rückkehr des Islams zu seinen Wurzeln möglich sei. Kritisch weist er jedoch auch auf die Schattenseiten hin:
“So kommt es auch, daß die Leute aus dem Süden, dem Herzlande des Wahhabismus, nur sich selber als die wahren Vertreter des Islam und alle anderen Muslims als Ketzer betrachten. (…) In seiner Klarheit und Unbedingtheit war dies zweifellos ein großartiges Unternehmen, das mit der Zeit eine Befreiung des Islam von allem Aberglauben und mancher törichten Zersplitterung hätte bewirken können. (…) Aber die nedschdische Entwicklung seiner Lehrer krankt an zwei Übeln, die einem vollen Erreichen ihrer Ziele im Wege stehen. Das eine liegt in der Einseitigkeit der wahhabitischen Auffassung, welche nur in der buchstabengetreuen Befolgung des Glaubensgesetzes, nicht aber auch in der Durchdringung seines geistigen Gehalts den Sinn alles Strebens sieht. Das andere ist im Wesen des arabischen Menschen begründet, in jener zelotischen, rechthaberischen Einstellung des Gefühls, die dem Nebenmenschen kein Recht zugesteht, anderer Meinung zu sein (…). Der geistige Sinn des Wahhabismus – das Streben nach innerer Erneuerung der islamischen Welt – zerbrach fast im gleichen Augenblick, da sein äußeres Ziel – gesellschaftliche und staatliche Macht – im Nedschd erreicht wurde. Sobald Ibnu-‘abdil-wahhaabs Anhänger zur Macht gelangten, wurde seine Idee zur Mumie. (…) Die Geschichte des wahhabitischen Nedschd ist die Geschichte einer religiösen Idee, welche rauschend,(…) begann und schließlich – um dem Zwiespalt zwischen Geist und Macht zu entgehen – aus der Sphäre kämpferischer Sehnsucht ins Flachland pharisäischer Selbstbewunderung versank und damit ihren Wert verlor. (…)” (Der Weg nach Mekka, S. 199f.)

Notes:

  1. Geb. 1769 in Kavala (Nordgriechenland) machte er rasch Karriere in der osmanischen Armee. In seiner Zeit entwickelte sich Ägypten fast autonom unter osmanischer Oberherrschaft. Der reformfreudige und aufgeschlossene Muhammad ’Aliy setzte auf erste Übernahmen europäischer Errungenschaften in der Bürokratie, dem Militärwesen und Bildungswesen. So griffen die Osmanen auch bei der Be­kämpfung der griechischen Aufstände im Balkan auf seine Truppen zurück. Ebenso wurde eine erste Industrialisierung in Angriff genommen, die Ägypten im 19. Jh. eine wirtschaftliche Blüte bescherten. Unter seinen Nachfolgern konnte dieser erste Boom jedoch nicht fortgesetzt werden und Ägypten geriet immer mehr unter britischen Einfluss, bis es hochverschuldet als Kolonie übernommen wurde.
  2. Name einer ausgestorbenen Strömung unter den Umayyaden, welche die Verdienste von Mu’aawiyah (radial-laahu ’anh) und seinen Nachfolgern vorhebend, ihre politischen Gegner, die Familie des ’Aliy, angriff bzw. als abgeirrt bezeichnete. Eine solche Haltung wurde allerdings nie von den Gelehrten der Ahlus-sunnah gebilligt: Das Unrecht welches in den politischen Verwicklungen des ersten Jahrhun­derts der Prophetenfamilie angetan worden war, ist islamischerseits nicht zu rechtfertigen.
  3. Asad gibt hierfür eine persönliche Erfahrung aus dem Saudi-Arabien der 30er Jahre wieder: Ein Beduine aus den Ichwan war in den 30er Jahren über den Anblick seiner Kamera so verärgert, dass es mit ihm fast zum Einsatz von Schusswaffen gekommen wäre. „Der Weg nach Mekka“, S. 57f.
  4. Der Weg nach Mekka, S. 270f.