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Begriffsbestimmung von al-qadaa’ القضاء und al-qadar القدر


Bei der Begriffsbestimmung von al-qadaa’ und al-qadar vertreten die Gelehrten unterschiedliche Meinungen: manche definieren beide Begriffe als einen einheitlichen Begriff, und manche definieren al-qadaa’ wie andere al-qadar definieren, und manche definieren al-qadar wie andere al-qadaa’ definiert haben. Dies stellt keinen Widerspruch dar, da die gleichen Inhalte bei allen Definitionen vorkommen.

al-qadaa’ القضاء

al-qadaa’ bedeutet linguistisch “Beschluss und Bestimmung”.
Fachspezifisch ist al-qadaa’ nach vielen Gelehrten “Allaahs anfangsloses allumfassendes Vorauswissen über die definitiv in der Wirklichkeit eintreffende Zukunft aller Geschöpfe”.
Der Begriff al-qadaa’ hängt mit dem Attribut des Allwissens von Allaah (ta’aala) zusammen.

al-qadar القدر

al-qadar bedeutet linguistisch “das genau Maß”.
Fachspezifisch ist al-qadar die Verwirklichung von al-qadaa’ durch Allaahs Allmacht entsprechend Seinem Willen.
Der Begriff al-qadar hängt dadurch mit dem Attribut der Allmacht und des Willens von Allaah (ta’aala) zusammen.

In der islamischen Fachliteratur wird dieser Iimaan im allgemeinen nur mit “al-qadar” bezeichnet, was hier auch übernommen wird.

Eine allgemeine Definition von al-qadar lautet:
al-qadar umfasst das weise System, das Allaah (ta’aala) für das Dasein bestimmt hat, die allgemeinen Gesetze und die Naturgesetze, mit denen Allaah (ta’aala) Aktion und Reaktion verknüpft hat.

Imaam An-nawawiy definierte al-qadar wie folgt:
“Allaah (ta’aala) bestimmte die Dinge nach einem genauen Maß und wusste, dass diese sich zu bekannten Zeiten und mit bestimmten Eigenschaften ereignen werden, und sie ereignen sich so, wie Er sie vorsah.” 1

Aus allen vorherigen Defintionen wird ersichtlich, dass der Iimaan an al-qadaa’ und al-qadar bedeutet, dass man den Iimaan daran verinnerlicht, dass Allaah (ta’aala) alles vor der Erschaffung der Geschöpfe wusste, und dass alle Dinge sich danach so ereignen, wie Allaah (ta’aala) es vorher wusste.

Zum richtigen Verständnis des Iimaan an al-qadaa’ und al-qadar muss man zunächst zwischen zwei Ebenen unterscheiden:

– der göttlichen Ebene und

– der Ebene von Geschöpfen (u. a. Menschen).

a) Die göttliche Ebene

Allaah (ta’aala) ist Der allwissende und allmächtige Schöpfer aller noch nicht existenten, existenten und nicht mehr existenten Geschöpfe. Er ist Der Schöpfer der absoluten Totalität und damit auch Der Schöpfer der Zeit, d. h. der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft. Er unterliegt keinen Gesetzen der Zeit, anderes gesagt: Seine Attribute hängen weder von der Vergangenheit, noch von der Gegenwart, noch von der Zukunft ab.

Er ist außerdem auch Der Schöpfer des freien Willens von Menschen und Dschinn. Bezogen auf diese Willens-, Entscheidungs- und Handlungsfreiheit folgt daraus, dass Allaah (ta’aala) im voraus bereits wusste, wie diese Geschöpfe sich entscheiden werden, und wie sie aufgrund dieser Entscheidung handeln werden, aber Er nimmt ihnen die Entscheidung nicht ab und zwingt ihnen keine Handlungen in diesem Bereich auf.

b) Die Ebene der Geschöpfe/Menschen

Diese Geschöpfe verfügen im Gegensatz zu Allaah (ta’aala), ihrem Schöpfer, nur über sehr begrenzte Kenntnisse und Erkenntnisfähigkeit.
Entscheidend bei der Beurteilung der Willensfreiheit ist, dass diese Geschöpfe keinerlei Kenntnisse über ihre eigene Zukunft oder die Zukunft der übrigen Schöpfung haben. Daraus folgt, dass sie ausnahmslos alle ihre Entscheidungen völlig frei und unbeeinflusst auf der Basis ihres begrenzten Wissens und ihres eingeschränkten Horizonts treffen, und nicht weil sie von al-qadaa’ und al-qadar dazu gezwungen werden. Sie haben also die Wahlfreiheit bei ihren Entscheidungen und damit ebenfalls die Handlungsfreiheit bei ihren Taten. Gleichzeitig wusste Allaah (ta’aala) bereits im voraus, wie diese Geschöpfe sich entscheiden werden und wie sie handeln werden.
Aufgrund dieser Entscheidungs- und Handlungsfreiheit tragen diese Geschöpfe die alleinige Verantwortung für ihre freiwillig verrichteten Taten und werden deswegen für diese Taten von Allaah (ta’aala) am Tag der Auferstehung zur Rechenschaft gezogen.

Anmerkung:

Wenn im Islam von Handlungen gesprochen wird, gilt folgendes Prinzip:
Handlungen und Taten der Geschöpfe müssen vor Allaah (ta’aala) nur dann verantwortet werden, wenn sie aufgrund einer freien Entscheidung, im Vollbesitz der geistigen Kräfte und unter normalen Umständen, bewusst, wissentlich und willentlich begangen werden, d. h. ohne Zwang, ohne besondere Notlage und ohne Einschränkung der Urteils- und Entscheidungsfreiheit.
Handlungen und Taten, die diese Kriterien nicht erfüllen, werden nicht verantwortet.

Die Muslime verinnerlichen den Iimaan an al-qadar, an seine guten und schlechten Aspekte. Der Gesandte Muhammad (sallal-laahu ‘alaihi wa sallam) sagte zu ‘Abdul-laah Bnu-‘abbaas 2 (radial-laahu ‘anh):

يَا غُلَامُ إِنِّي أُعَلِّمُكَ كَلِمَاتٍ: احْفَظْ اللَّهَ يَحْفَظْكَ، احْفَظْ اللَّهَ تَجِدْهُ تُجَاهَكَ، إِذَا سَأَلْتَ فَاسْأَلِ اللَّهَ، وَإِذَا اسْتَعَنْتَ فَاسْتَعِنْ بِاللَّهِ، وَاعْلَمْ أَنَّ الْأُمَّةَ لَوِ اجْتَمَعَتْ عَلَى أَنْ يَنْفَعُوكَ بِشَيْءٍ لَمْ يَنْفَعُوكَ إِلَّا بِشَيْءٍ قَدْ كَتَبَهُ اللَّهُ لَكَ، وَلَوِ اجْتَمَعُوا عَلَى أَنْ يَضُرُّوكَ بِشَيْءٍ لَمْ يَضُرُّوكَ إِلَّا بِشَيْءٍ قَدْ كَتَبَهُ اللَّهُ عَلَيْكَ، رُفِعَتِ الْأَقْلَامُ وَجَفَّتِ الصُّحُفُ.

Junge! Ich bringe dir Worte bei: Bewahre Allaahs (diin), dann bewahrt Er dich. Bewahre Allaahs (diin), dann findest du Ihn bei dir. Wenn du um etwas bitten willst, dann bitte (nur) Allaah darum! Wenn du Hilfe suchst, dann suche nur bei Allaah Hilfe! Und wisse, dass, wenn die Gemeinschaft sich versammeln würde, dir in einer Sache zu nutzen, sie dir nur in etwas nutzen kann, das Allaah für dich bereits niederschrieb, und dass, wenn sie sich versammeln würde, dir in einer Sache zu schaden, sie dir nur in etwas schaden kann, das Allaah für dich bereits niederschrieb. Die Schreibfedern sind hochgehoben und die Blätter getrocknet. (T, AH, Al-haakim)

Die Iimaan-Inhalte von al-qadar können nach Imaam Ibnu-taimiyah 3 in zwei Kategorien unterteilt werden:

a) Der Iimaan daran, dass Allaah (ta’aala) als Quelle und Zentrum allen Seins aufgrund Seines Allwissens genaueste Kenntnis über die Zukunft aller Geschöpfe besitzt, und der Iimaan daran, dass diese Vorherkenntnis Allaahs über die wirklich eintreffende Zukunft auf al-lauhul-mahfuudh اللوح المحفوظ niedergeschrieben ist.

مَآ أَصَابَ مِن مُّصِيبَةٖ فِي ٱلۡأَرۡضِ وَلَا فِيٓ أَنفُسِكُمۡ إِلَّا فِي كِتَٰبٖ مِّن قَبۡلِ أَن نَّبۡرَأَهَآۚ إِنَّ ذَٰلِكَ عَلَى ٱللَّهِ يَسِيرٞ ٢٢ لِّكَيۡلَا تَأۡسَوۡاْ عَلَىٰ مَا فَاتَكُمۡ وَلَا تَفۡرَحُواْ بِمَآ ءَاتَىٰكُمۡۗ وَٱللَّهُ لَا يُحِبُّ كُلَّ مُخۡتَالٖ فَخُورٍ ٢٣

Weder trifft ein Unheil die Erde, noch euch selbst, ohne dass es in einer Schrift ist, bevor Wir es erschufen. Dies ist für Allaah gewiss etwas Leichtes. (23) Dies, damit ihr nicht trauert um das, was euch entgangen ist, und euch nicht übermäßig freut über das, was euch gewährt wurde. Allaah liebt nicht jeden wichtigtuenden Prahler. 4

أَلَمۡ تَعۡلَمۡ أَنَّ ٱللَّهَ يَعۡلَمُ مَا فِي ٱلسَّمَآءِ وَٱلۡأَرۡضِۚ إِنَّ ذَٰلِكَ فِي كِتَٰبٍۚ إِنَّ ذَٰلِكَ عَلَى ٱللَّهِ يَسِيرٞ ٧٠

Weißt du etwa nicht, dass Allaah alles kennt, was im Himmel und auf der Erde ist?(!) Es ist gewiss in einem Register. Dies ist für Allaah leicht! 5

Allaah (ta’aala) kennt z. B. alle Angelegenheiten der Geschöpfe: den Zeitpunkt von Geburt und Tod und die Zeitspanne ihres Lebens; alle Geschehnisse, welche Entscheidungen erfordern; alle Umstände, welche Entscheidungen beeinflussen; alle Entscheidungsfindungsprozesse, alle bewusst und unbewusst gefällten Entscheidungen; alle daraus resultierenden Handlungen und ihre Auswirkungen; alle weiteren Entscheidungen aufgrund dieser Handlungen, usw.

b) Der Iimaan an den Willen Allaahs, den Er definitiv, unvermeidlich und absolut autonom durchsetzt, und der Iimaan an Seine absolute Allmacht. Dies beinhaltet:

– dass durch den Willen Allaahs alles, was Er will, aufgrund Seiner Allmacht unausweichlich geschieht und geschehen wird,

– dass absolut nichts geschehen kann und wird, das nicht Seinem Willen entspricht.

 

Bezogen auf die Handlungsebene der Geschöpfe bedeutet dies, dass Allaah (ta’aala) der Schöpfer

– aller Geschöpfe und ihrer Handlungen und

– des freien Willens aller Menschen und Dschinn ist.

Daraus folgt, dass

– die Menschen und Dschinn von Allaah (ta’aala) die Fähigkeit erhielten, eigenverantwortlich und frei Entscheidungen zu treffen, und aufgrund dieser Entscheidungsfreiheit auch frei und uneingeschränkt agieren können;

– alle Menschen und Dschinn ohne Ausnahme den von Allaah (ta’aala) erschaffenen Gesetzmäßigkeiten von al-qadar freiwillig oder unfreiwillig, bewusst oder unbewusst unterworfen sind;

– alle Geschöpfe, Iimaan-Bekennende und Kaafir, Anbeter Allaahs sind:
Die Iimaan-Bekennenden beten Allaah (ta’aala) bewusst und freiwillig in allen Bereichen an, in denen, die ihrer Entscheidungsfreiheit und auch in denen, die nicht ihrer Entscheidungsfreiheit unterliegen (wie Leben, Tod, usw.).
Die Kaafir beten Allaah (ta’aala) unbewusst und unfreiwillig nur in den Bereichen an, die nicht ihrer Entscheidungsfreiheit unterliegen (wie Leben, Tod, usw.). Die Anbetung Allaahs in diesem Bereich im Sinne von unbewusster Unterwerfung wird nicht belohnt.

Notes:

  1. Siehe al-’aqaaidul-islaamiyyah, Scheich Saiyid Saabiq.
  2. Abdul-laah Bnu-’abbaas, Vetter des Gesandten, Tardschumaanul-quraan: Der Exeget des Quraan genannt, überlieferte viele Hadiithe, (gest. 68/688)
  3. Imaam Ahmad Bnu-’abdil-haliim Al-harraaniy aus Harraan bei Damaskus, (661/1263 – 728/ 1328). Einer der großen Gelehrten der Hanbalitischen Fiqh-Schule.
  4. Quraan (57:22-23)
  5. Quraan (22:70)