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Semantik des Quran / al-mantuuq und al-mafhuum المفهوم والمنطوق Die aus dem Ausdruck direkt gewonnene Bedeutung und die aus dem Ausdruck indirekt gewonnene Bedeutung


Aus den sprachlichen Ausdrücken, die man hört oder liest, nimmt man unterschiedliche Bedeutungen wahr. Man erkennt entweder solche Bedeutungen, die der sprachliche Ausdruck rein inhaltlich ohne zusätzliche Indizien wiedergibt, oder solche Bedeutungen, die man aufgrund eines Nachdenkprozesses unter Berücksichtigung des Kontextes und anderer Indizien ableitet, ohne dass diese neuen Bedeutungen mit den wörtlichen aus dem sprachlichen Ausdruck direkt gewonnenen Bedeutungen übereinstimmen. Die ersten dieser Bedeutungen nennt man al-mantuuq المنطوق und die zusätzlich gewonnenen Bedeutungen nennt man al-mafhuum المفهوم.

I) al-mantuuq المنطوق: Die direkt gewonnene Bedeutung

A) Begriffsbestimmung von al-mantuuq

Linguistisch ist al-mantuuq das Ausgesprochene.
Fachspezifisch bezeichnet al-mantuuq die Bedeutung, auf die der ausgesprochene Ausdruck direkt aus der Sprache heraus hinweist.

Beispiel:

Es ist haraam/verboten, den Eltern uff 1 أف zu sagen. Diese Scharii’ah-Bestimmung wird aus folgender Aayah gewonnen:

وَقَضَىٰ رَبُّكَ أَلَّا تَعۡبُدُوٓاْ إِلَّآ إِيَّاهُ وَبِٱلۡوَٰلِدَيۡنِ إِحۡسَٰنًاۚ إِمَّا يَبۡلُغَنَّ عِندَكَ ٱلۡكِبَرَ أَحَدُهُمَآ أَوۡ كِلَاهُمَا فَلَا تَقُل لَّهُمَآ أُفّٖ وَلَا تَنۡهَرۡهُمَا وَقُل لَّهُمَا قَوۡلٗا كَرِيمٗا ٢٣

Dein Herr gebot, dass ihr niemanden außer Ihn anbetet 2 und den Eltern Güte 3 erweist. Sollten beide bei dir das hohe Alter erreichen – einer von ihnen oder beide -, so gib ihnen keine mürrische Antwort! (fala taqul lahumaa uffin: sage ihnen niemals uff!). Auch schelte sie nicht und sag ihnen schöne Worte. 4

Auf diese Bedeutung des Verbots von uff-Sagen weisen die Ausdrücke direkt hin. Man braucht keine zusätzlichen Indizien, um diese Bedeutung zu verstehen.

B) Typen von al-mantuuq

In al-mantuuq werden bezogen auf dessen Bedeutung drei Kategorien differenziert:

  • an-nass النص: Das Eindeutige
    Jeder sprachliche Ausdruck, der in seiner Bedeutung so eindeutig ist, dass eine andere Bedeutung ausgeschlossen wird. Damit besitzt an-anss nur eine einzige Bedeutung und bedarf keiner Interpretation.
    Beispiele:
    “Muhammad” im Ausdruck “der Gesandte Muhammad”. Hier kann nur Muhammad (sallal-laahu ‘alaihi wa sallam) gemeint sein.

قُلۡ هُوَ ٱللَّهُ أَحَدٌ ١

Sag: ‚Er ist Allaah, einzig. 5

وَإِن تُبۡتُمۡ فَلَكُمۡ رُءُوسُ أَمۡوَٰلِكُمۡ لَا تَظۡلِمُونَ وَلَا تُظۡلَمُونَ ٢٧٩

Wenn ihr bereut, so gehören euch nur eure Ausgangskapitale; ihr begeht kein Unrecht und euch wird kein Unrecht angetan. 6

  • adhdhaahir الظاهر: Das Mehrdeutige mit Bedeutungspräferenz
    Jeder sprachliche Ausdruck, der auf seine ursprünglich wörtliche Bedeutung hinweist, ohne dabei eine andere weniger wahrscheinliche Bedeutung auszuschließen.
    Beispiele: “Löwe” im Ausdruck “ich habe einen Löwen gesehen”: Durch Ausdifferenzierung im Gebrauch entstehen zwei Bedeutungen. Die erste Bedeutung, die man erkennt, wenn man das Wort “Löwe” hört, ist die ursprünglich sprachliche Bedeutung des Wortes, das Raubtier. Es ist aber auch nicht auszuschließen, dass man damit eine metaphorische Bedeutung meint, nämlich dass man “einen tapferen Mann” gesehen hat. Die zweite Bedeutung ist ohne Indizien weniger wahrscheinlich, da sie metaphorisch ist und nur dann zutrifft, wenn die ursprünglich sprachliche Bedeutung nicht gemeint sein kann und ausgeschlossen werden muss.

وَيَسۡ‍َٔلُونَكَ عَنِ ٱلۡمَحِيضِۖ قُلۡ هُوَ أَذٗى فَٱعۡتَزِلُواْ ٱلنِّسَآءَ فِي ٱلۡمَحِيضِ وَلَا تَقۡرَبُوهُنَّ حَتَّىٰ يَطۡهُرۡنَۖ فَإِذَا تَطَهَّرۡنَ فَأۡتُوهُنَّ مِنۡ حَيۡثُ أَمَرَكُمُ ٱللَّهُۚ إِنَّ ٱللَّهَ يُحِبُّ ٱلتَّوَّٰبِينَ وَيُحِبُّ ٱلۡمُتَطَهِّرِينَ ٢٢٢

Sie fragen dich nach der Menstruation. Sag: ‚Sie ist eine Beschwerlichkeit, so enthaltet euch (des Geschlechtsverkehrs mit den) Ehefrauen während der Menstruation, und vollzieht mit ihnen keinen Geschlechtsverkehr, bis sie sich rituell reinigen (taahir werden). Wenn sie sich rituell gereinigt haben, dann verkehrt mit ihnen da, wo Allaah es euch gebot.’ Gewiss, Allaah liebt die stets Reumütigen und die sich rituell Reinigenden. 7

taahir werden” könnte sowohl “Ende der Menstruation” als auch “sich durch wuduuء (Gebetswaschung) und ghusl (Ganzkörperwaschung) rituell reinigen” bedeuten; doch die zweite Bedeutung ist hier aufgrund weiterer Hadiithe die Wahrscheinlichere.

  • al-mudschmal المجمل: Das Mehrdeutige ohne Bedeutungspräferenz
    Jeder sprachliche Ausdruck, der über zwei unterschiedliche aber gleichwertige Bedeutungen verfügt. Bei einem Mudschmal-Ausdruck ist man auf äußere Indizien angewiesen, um eine Bedeutung zu präferieren.
    Beispiel:
    Jedes Polysem mit zwei gleichwertigen Bedeutungen gilt als mudschmal.

وَٱلۡمُطَلَّقَٰتُ يَتَرَبَّصۡنَ بِأَنفُسِهِنَّ ثَلَٰثَةَ قُرُوٓءٖۚ

Die geschiedenen Frauen warten mit sich drei quruuء ab. 8

al-quru القرء” ist Singular von “quruu قروء“. al-quruء ist ein Polysem, das gleichermaßen “den Zustand der Menstruation” und “den Zustand der Nicht-Menstruation” bedeutet. Mit Hilfe anderer Hadiithe haben die Gelehrten entweder die erste Bedeutung (wie Imaam Abu-haniifah) oder die zweite Bedeutung (wie Imaam Asch-schaafi’iy) präferiert.

C) Bedeutungstypen von al-mantuaq (dalaalatul-mantuuq دلالة المنطوق)

In manchen Fällen muss ein sprachlicher Ausdruck rekonstruiert bzw. mit zusätzlichen Wörtern ergänzt werden, damit er eine sinnvolle Bedeutung liefert, und manchmal weist er auf eine Bedeutung hin, die aus ihm direkt nicht gewonnen werden kann. Deshalb haben die Usuul-Gelehrten die Bedeutungen, auf die al-mantuuq hinweisen kann, in zwei Kategorien eingeteilt, in dalaalatul-iqtidaaء und dalaalatul-ischaarah:

  • dalaalatul-iqtidaa´ دلالة الاقتضاء
    Darunter versteht man den Hinweis von al-mantuuq auf eine verdeckte Bedeutung bzw. auf ein fehlendes Wort, die/das für die Einstufung des sprachlichen Ausdrucks als wahr bzw. für seine Konformität mit der Vernunft oder mit der Scharii’ah maßgeblich ist.
    Beispiele:
    – Beispiel für verdeckte Bedeutung bzw. Ergänzung eines Wortes, von der/dem die Einstufung eines Ausdrucks als wahr abhängt:

إِنَّ اللَّهَ وَضَعَ عَنْ أُمَّتِي الْخَطَأَ وَالنِّسْيَانَ وَمَا اسْتُكْرِهُوا عَلَيْهِ.

Die wörtliche Übersetzung lautet: “Gewiss, Allaah entlastete meine Gemeinschaft vom Versehentlichen, von der Vergesslichkeit und von dem, wozu sie (die Mitglieder der Ummah) gezwungen werden. (I)”

Die Mantuuq-Bedeutung des Hadiith sagt, dass die Muslime von dem Versehentlichen, der Vergesslichkeit und dem Zwang an sich entlastet sind. Diese Bedeutung ist unwahr und kann deshalb unmöglich gemeint sein, da diese Dinge sich ständig auch unter Muslimen ereignen. Doch die Mantuuq-Bedeutung weist auf eine wahre und sinnvolle Bedeutung hin, wenn ein fehlendes Wort im Text rekonstruiert wird, u. zw. “الإثم: die Sünde“. Nach Ergänzung dieses Wortes lautet die Übersetzung:
Gewiss, Allaah entlastete meine Gemeinschaft von der Sünde, die durch das Versehentliche, die Vergesslichkeit und den Zwang entsteht.

Das Weglassen rekonstruierbarer Wörter ist eine verbreitete Methode der arabischen Rhetorik und muss bei der Übersetzung ins Deutsche berücksichtigt werden, da Derartiges in der deutschen Sprache anzuwenden, eher selten ist.

– Beispiel für verdeckte Bedeutung bzw. Ergänzung eines Wortes, von der/dem die Einstufung eines sprachlichen Ausdrucks als konform mit der Vernunft abhängt:

وَسۡ‍َٔلِ ٱلۡقَرۡيَةَ ٱلَّتِي كُنَّا فِيهَا وَٱلۡعِيرَ ٱلَّتِيٓ أَقۡبَلۡنَا فِيهَاۖ وَإِنَّا لَصَٰدِقُونَ ٨٢

Und frage die Ortschaft, in der wir waren, und bei der Karawane, mit der wir zurückkamen. Wir sind gewiss wahrhaftig. 9

Die Vernunft schließt aus, dass eine Ortschaft (Straßen, Bäume, Häuser etc.) gefragt wird. So kann diese Mantuuq-Bedeutung sicher nicht gemeint sein. Gefragt werden die Menschen in der Ortschaft, deshalb muss hier das Wort “die Bewohner” ergänzt werden, damit der Inhalt dieses Satzes konform mit der Vernunft sein kann. Dieser Satz muss dann lauten: “Und frage die Bewohner der Ortschaft, …”.

– Beispiel für verdeckte Bedeutung bzw. Ergänzung eines Wortes, von der/dem die Einstufung eines sprachlichen Ausdrucks als konform mit der Scharii’ah abhängt:

وَٱلَّذِينَ يُظَٰهِرُونَ مِن نِّسَآئِهِمۡ ثُمَّ يَعُودُونَ لِمَا قَالُواْ فَتَحۡرِيرُ رَقَبَةٖ مِّن قَبۡلِ أَن يَتَمَآسَّاۚ ذَٰلِكُمۡ تُوعَظُونَ بِهِۦۚ وَٱللَّهُ بِمَا تَعۡمَلُونَ خَبِيرٞ ٣

Für diejenigen, die sich von ihren Ehefrauen durch die Formel “du bist mir verwehrt wie meine Mutter” scheiden, dann zurücknehmen, was sie sagten, gilt (als Sühne) die Befreiung eines Unfreien, bevor beide sich intim berühren. Damit werdet ihr ermahnt. Allaah ist dessen, was ihr tut, allkundig. 10

Die Sühne für die Verfehlung in der o. g. Aayah ist “die Befreiung eines Unfreien”. Damit diese Mantuuq-Bedeutung konform mit der Scharii’ah sein kann, müsste es weiter heißen: “die Befreiung eines Unfreien, der dir gehört.” Denn eine Befreiung ohne Eigentum ist nach der Scharii’ah nicht gültig.

  • dalaalatul-ischaarah دلالة الإشارة
    Darunter versteht man den Hinweis von al-mantuuq auf eine Bedeutung, die von seiner ursprünglich wörtlichen Bedeutung so nicht gemeint ist.
    Beispiel:

أُحِلَّ لَكُمۡ لَيۡلَةَ ٱلصِّيَامِ ٱلرَّفَثُ إِلَىٰ نِسَآئِكُمۡۚ هُنَّ لِبَاسٞ لَّكُمۡ وَأَنتُمۡ لِبَاسٞ لَّهُنَّۗ عَلِمَ ٱللَّهُ أَنَّكُمۡ كُنتُمۡ تَخۡتَانُونَ أَنفُسَكُمۡ فَتَابَ عَلَيۡكُمۡ وَعَفَا عَنكُمۡۖ فَٱلۡـَٰٔنَ بَٰشِرُوهُنَّ وَٱبۡتَغُواْ مَا كَتَبَ ٱللَّهُ لَكُمۡۚ وَكُلُواْ وَٱشۡرَبُواْ حَتَّىٰ يَتَبَيَّنَ لَكُمُ ٱلۡخَيۡطُ ٱلۡأَبۡيَضُ مِنَ ٱلۡخَيۡطِ ٱلۡأَسۡوَدِ مِنَ ٱلۡفَجۡرِۖ

Für erlaubt wurde euch erklärt, in der Nacht nach der Fastenzeit mit euren Ehefrauen intim zu sein. Sie sind wie eine Bekleidung für euch und ihr seid wie eine Bekleidung für sie. Allaah wusste, dass ihr euch selbst gegenüber untreu wart, so nahm Er eure Reue an und erließ es euch. Jetzt verkehrt mit ihnen und erstrebt das, was Allaah euch geboten hat. Esst und trinkt, bis für euch der weiße Faden der Dämmerung vom schwarzen Faden der Nacht unterscheidbar wird. 11

Der erste Satz in der Aayah weist darauf hin, dass der Beginn des rituellen Fastens im Dschanaabah-Zustand 12 scharii’ah-konform ist. Dieses Scharii’ah-Gebot wird von der Tatsache abgeleitet, dass man bis zur letzten Sekunde vor der Morgendämmerung die das rituelle Fasten annullierenden Handlungen wie Geschlechtsakt vollziehen darf (“Esst und trinkt, bis für euch der weiße Faden der Dämmerung vom schwarzen Faden der Nacht unterscheidbar wird“), so dass das Vollziehen der rituellen Ganzkörperwaschung (Ghusl) vor der Morgendämmerung unmöglich ist. Anders ausgedrückt, sollte diese Handlung nicht scharii’ah-konform sein, müsste der Geschlechtsverkehr nur bis zu einer bestimmten Zeit vor der Morgendämmerung erlaubt sein, so dass man noch vor Anbruch der Morgendämmerung die rituelle Ganzkörperwaschung vollziehen kann, um nicht im Dschanaabah-Zustand das rituelle Fasten anzufangen. Doch diese Einschränkung ist weder im Quraan, noch in der Sunnah belegt.

D) Regel zum Umgang mit al-mantuuq

Jeder Mantuuq-Ausdruck, der weder nach der Scharii’ah, noch nach der Sprache bestimmbar ist, wird gemäß der Umgangssprache (al-‘urf العرف) verstanden”.

Erläuterung der Regel

  • Alle Ausdrücke, die sowohl eine haqiiqah schar’iyyah als auch eine haqiiqah lughawiyyah als auch eine haqiiqah ‘urfiyyah haben, werden zuerst nach der haqiiqah schar’iyyah verstanden, wenn sie vom Scharii’ah-Geber stammen, weil der Scharii’ah-Geber die Scharii’ah-Gebote erläutert.
  • Alle Ausdrücke, die keine haqiiqah schar’iyyah haben, oder über eine solche verfügen, die nicht zum Tragen kommen kann, werden nach deren haqiiqah ‘urfiyyah zur Zeit des Gesandten (sallal-laahu ‘alaihi wa sallam) verstanden, da die Menschen im Alltag gewöhnlich die Umgangssprache verwenden. Sollte diese umgangssprachliche Bedeutung ebenfalls nicht zum Tragen kommen können, dann werden diese Ausdrücke nach deren haqiiqah lughawiyyah verstanden.
    Dieses gilt logischerweise dann, wenn die haqiiqah schar’iyyah und haqiiqah ‘urfiyyah öfters verwendet werden, so dass sie der haqiiqah lughawiyyah vorangestellt werden.
  • Sollten die o. g. Fälle nicht zutreffen, dann hat man es mit einem Polysem (muschtarak مشترك) zu tun, bei dem man auf ein Indiz angewiesen ist, um eine der möglichen Bedeutungen zu präferieren.
  • Ausdrücke, die sowohl eine haqiiqah schar’iyyah als auch haqiiqah lughawiyyah als auch haqiiqah ‘urfiyyah haben, werden zuerst nach der haqiiqah lughawiyyah und dann nach der haqiiqah ‘urfiyyah verstanden, wenn sie nicht vom Scharii’ah-Geber stammen.
  • Bei den Eiden (aimaanأيمان ) und Gelübden (nudhuur نذور) wird zuerst die haqiiqah ‘urfiyyah berücksichtigt, da die Menschen dabei üblicherweise die Umgangssprache verwenden.

II) al-mafhuum المفهوم: Die indirekt gewonnene Bedeutung

A) Begriffsbestimmung von al-mafhuum

Linguistisch ist al-mafhuum das Verstandene bzw. Wahrgenommene.
Fachspezifisch bezeichnet al-mafhuum die nicht aus der Sprache heraus direkt gewonnene Bedeutung, auf die der ausgesprochene Ausdruck hinweist.

Beispiel: Das Verbot, die Eltern zu schlagen, leitet man aus der Aayah (17:23) ab, in der es heißt:
“(fala taqul lahumaa uffin: sage ihnen niemals uff (Unmutsäußerung)! Auch schelte sie nicht und sag ihnen schöne Worte.”

Dieses Scharii’ah-Gebot mit diesem Verbot wurde nicht aus dem wörtlichen Bedeutungsgehalt des o. g. Satzes direkt gewonnen, sondern durch folgende vernünftige Überlegung: wenn das Sprechen von “uff” verboten ist, dann muss das Schlagen, das viel schlimmer als uff-Sagen ist, logischerweise noch strenger verboten sein.

B) Typen von al-mafhuum

Da das aus der Mafhuum-Bedeutung abgeleitete Scharii’ah-Gebot mit dem aus der Mantuuq-Bedeutung gewonnene Scharii’ah-Gebot konform oder nicht konform sein kann, wird al-mafhuum in zwei Kategorien: in mafhuumul-muwaafaqah مفهوم الموافقة und mafhuumul-muchaalafah مفهوم المخالفة eingeteilt:

  • mafhuumul-muwaafaqah مفهوم الموافقة
    Darunter versteht man die abgeleitete Mafhuum-Bedeutung, deren Scharii’ah-Gebot mit dem aus dem gleichen Mantuuq-Ausdruck gewonnenen Scharii’ah-Gebot konform ist.
    mafhuumul-muwaafaqah wird wiederum in zwei unterschiedliche Kategorien: in fahwal-chitaab فحوى الخطاب und lahnul-chitaab لحن الخطاب eingeteilt:
    fahwal-chitaab فحوى الخطاب
    Darunter versteht man mafhuumul-muwaafaqah, dessen Scharii’ah-Gebot vorrangige Geltung im Vergleich zu dem aus der Mantuuq-Bedeutung gewonnenen Scharii’ah-Gebot hat.
    Beispiel: Das abgeleitete Verbot des Schlagens der Eltern aus der Aayah (17:23) hat selbstverständlich vorrangige Geltung in der Kategorie der verbotenen Handlungen (in der Haraam-Kategorie) vor dem Verbot des Sprechens von “uff“.
    lahnul-chitaab لحن الخطاب
    Darunter versteht man mafhuumul-muwaafaqah, dessen Scharii’ah-Gebot gleichwertige Geltung im Vergleich zu dem aus der Mantuuq-Bedeutung gewonnenen Scharii’ah-Gebot hat.
    Beispiel:

إِنَّ ٱلَّذِينَ يَأۡكُلُونَ أَمۡوَٰلَ ٱلۡيَتَٰمَىٰ ظُلۡمًا إِنَّمَا يَأۡكُلُونَ فِي بُطُونِهِمۡ نَارٗاۖ وَسَيَصۡلَوۡنَ سَعِيرٗا ١٠

Diejenigen, die das Vermögen der Waisen zu Unrecht aufbrauchen, verzehren in ihren Bäuchen nur Feuer! Sie werden in die Gluthitze geworfen. 13

Das Scharii’ah-Gebot in dieser Aayah verbietet das scharii’ah-widrige Aufbrauchen des Vermögens der Waisen und damit verbietet sie zu-gleich auch die Vernichtung dieses Vermögens. Das bedeutet, dass jede scharii’ah-widrige Handlung, welche die Vernichtung des Vermögens der Waisen (wie z. B. das Verbrennen dieses Vermögens bzw. seine Veruntreuung) genauso verboten sein muss und die gleiche Sanktion verdient.

  • mafhuumul-muchaalafah مفهوم المخالفة

-) Begriffsbestimmung von mafhuumul-muchaalafah

Darunter versteht man die abgeleitete Mafhuum-Bedeutung, deren Scharii’ah-Gebot mit dem aus dem gleichen Mantuuq-Ausdruck gewonnenen Scharii’ah-Gebot nicht konform ist.
Beispiele:

يَٰٓأَيُّهَا ٱلَّذِينَ ءَامَنُوٓاْ إِن جَآءَكُمۡ فَاسِقُۢ بِنَبَإٖ فَتَبَيَّنُوٓاْ أَن تُصِيبُواْ قَوۡمَۢا بِجَهَٰلَةٖ فَتُصۡبِحُواْ عَلَىٰ مَا فَعَلۡتُمۡ نَٰدِمِينَ ٦

Ihr, die den Iimaan verinnerlicht habt! Wenn euch ein Übertreter 14 eine Nachricht übermittelt, so vergewissert euch, damit ihr keine Menschen durch Unwissen verletzt und dann für das reuig werdet, was ihr getan habt. 15

Aus dieser Aayah kann man ableiten, dass wenn ein Nicht-Faasiq etwas mitteilt bzw. überliefert, dieses nicht überprüft werden muss. So gilt diese Aayah als ein Beleg dafür, dass eine Überlieferung einer einzelnen vertrauenswürdigen Person (Ahaad-Überlieferung) anzunehmen ist.

Der Gesandte Muhammad (sallal-laahu ‘alaihi wa sallam) sagte:

إِنَّ الْمَاءَ لَا يُنَجِّسُهُ شَيْءٌ إِلَّا مَا غَلَبَ عَلَى رِيحِهِ وَطَعْمِهِ وَلَوْنِهِ.

Gewiss, das Wasser wird durch nichts rituell verunreinigt (nadschis), es sei denn durch etwas, das seinen Geruch, seinen Geschmack und seine Farbe verändert. (I)

إِذَا كَانَ الْمَاءُ قُلَّتَيْنِ لَمْ يَحْمِلِ الْخَبَثَ.

Wenn die Wassermenge zwei qullah 16 ausmacht, dann wird sie von ritueller Unreinheit nicht beeinträchtigt. (T, N)

Die Mantuuq-Bedeutung im obigen Hadiith besagt, dass eine Wassermenge von zwei qullah (ca. 204 Liter) nicht rituell verunreinigt wird, auch dann nicht, sollte sie mit einer rituellen Unreinheit in Berührung kommen. Dabei gilt selbstverständlich die Bedingung, dass sich beim Wasser weder Farbe noch Geschmack noch Geruch ändert, so wie der zweite Hadiith verlangt.
mafhuumul-muwaafaqah مفهوم الموافقة besagt, dass eine Wassermenge von ca. 204 Litern und mehr nicht rituell verunreinigt wird, auch dann nicht, sollte sie unter der o. g. Bedingung mit einer rituellen Unreinheit in Berührung kommen.

mafhuumul-muchaalafah مفهوم المخالفة besagt, dass eine rituell verunreinigte Wassermenge von weniger als 204 Litern unter allen Umständen (auch bei Nicht-Veränderung von Farbe, Geschmack und Geruch) rituell unrein wird. Dieses Scharii’ah-Gebot von mafhuumul-muchaalafah ist nicht konform mit dem aus der Mantuuq-Bedeutung gewonnenen Scharii’ah-Gebot, das besagt, dass eine Wassermenge von ca. 204 Litern und mehr nicht rituell unrein wird, auch dann nicht, sollte sie mit einer rituellen Unreinheit in Berührung kommen.

Diese muchaalafah-Bedeutung (das Wasser wird rituell unrein) stellt den Gegensatz von der Mantuuq-Bedeutung (das Wasser wird nicht rituell unrein) dar.


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Verwendung von mafhuumul-muchaalafah

Imaam Abu-haniifah lehnt mafhuumul-muchaalafah gänzlich ab, doch die Mehrheit der Gelehrten von Usuulul-fiqh akzeptiert seine Verwendung unter folgenden Bedingungen:

  • Das Scharii’ah-Gebot aus der durch mafhuumul-muchaalafah abgeleiteten Bedeutung – diese Bedeutung nennt man al-maskuutu ‘anh المسكوت عنه – darf keine vorrangige Geltung im Vergleich zu dem aus der Mantuuq-Bedeutung gewonnenen Scharii’ah-Gebot haben.
    Beispiel:
    Aus der Aayah (17:23) kann man nicht die Erlaubnis ableiten, die Eltern zu schlagen, weil “Schlagen” nicht identisch mit “uff-Sagen” sei, denn “Schlagen” hat in der Haraam-Kategorie vorrangige Geltung vor dem Sprechen von “uff“.
  • Die durch mafhuumul-muchaalafah ableitbare Bedeutung darf nicht aus Angst oder aus Unwissenheit zurückgehalten worden sein.
    Beispiel:
    Ein neuer muslimischer Konvertit gibt jemandem Geld und sagt ihm: “Spendet es an die Muslime”.
    mafhuumul-muchaalafah bedeutet hier, dass man von diesem Geld an Nicht-Muslime nicht spenden darf. Doch es kann sein, dass dieser Konvertit auch an die Nicht-Muslime spenden möchte, aber dies nicht äußerte, weil er nicht genau wusste, ob er an Nicht-Muslime spenden darf, oder vielleicht damit niemand ihm unterstellt, er sei noch kein richtiger Muslim, da er immer noch in erster Linie an Nicht-Muslime denkt. In diesem Fall handelt man nicht nach mafhuumul-muchaalafah.
  • Die Mantuuq-Bedeutung darf nicht etwas Vorwiegendes beschreiben bzw. darstellen; Beispiel:

حُرِّمَتۡ عَلَيۡكُمۡ أُمَّهَٰتُكُمۡ وَبَنَاتُكُمۡ وَأَخَوَٰتُكُمۡ وَعَمَّٰتُكُمۡ وَخَٰلَٰتُكُمۡ وَبَنَاتُ ٱلۡأَخِ وَبَنَاتُ ٱلۡأُخۡتِ وَأُمَّهَٰتُكُمُ ٱلَّٰتِيٓ أَرۡضَعۡنَكُمۡ وَأَخَوَٰتُكُم مِّنَ ٱلرَّضَٰعَةِ وَأُمَّهَٰتُ نِسَآئِكُمۡ وَرَبَٰٓئِبُكُمُ ٱلَّٰتِي فِي حُجُورِكُم مِّن نِّسَآئِكُمُ ٱلَّٰتِي دَخَلۡتُم بِهِنَّ فَإِن لَّمۡ تَكُونُواْ دَخَلۡتُم بِهِنَّ فَلَا جُنَاحَ عَلَيۡكُمۡ وَحَلَٰٓئِلُ أَبۡنَآئِكُمُ ٱلَّذِينَ مِنۡ أَصۡلَٰبِكُمۡ وَأَن تَجۡمَعُواْ بَيۡنَ ٱلۡأُخۡتَيۡنِ إِلَّا مَا قَدۡ سَلَفَۗ إِنَّ ٱللَّهَ كَانَ غَفُورٗا رَّحِيمٗا ٢٣

Euch wurden für verboten (zum Heiraten) erklärt: eure Mütter, eure Töchter, eure Schwestern, eure Tanten väterlicherseits und mütterlicherseits, die Töchter des Bruders und der Schwester, eure Ammen, die euch gestillt haben, eure Milchschwestern, die Mütter eurer Ehefrauen, eure Stieftöchter, die in eurem Haushalt leben, die zu euren Ehefrauen gehören, mit denen ihr bereits intim wart, und wenn ihr mit ihnen noch nicht intim wart (und euch von ihnen getrennt habt), dann ist es für euch keine Verfehlung, (diese Stieftöchter zu heiraten), und die Ehefrauen eurer leiblichen Söhne, und dass ihr zwei Schwestern gleichzeitig heiratet, es sei denn, was bereits geschehen ist. Gewiss, Allaah bleibt immer allvergebend, allgnädig. 17

mafhuumul-muchaalafah darf in dieser Aayah nicht verwendet werden.
Man darf seine Stieftochter niemals heiraten, auch dann nicht, sollte diese nicht in seinem Haushalt leben, da die Einschränkung “die in eurem Haushalt leben” eine zusätzlich Erläuterung und nur die Dokumentation einer vorwiegenden Sitte darstellt, dass Stieftöchter meistens mit der Mutter leben.

يَٰٓأَيُّهَا ٱلَّذِينَ ءَامَنُواْ لَا تَأۡكُلُواْ ٱلرِّبَوٰٓاْ أَضۡعَٰفٗا مُّضَٰعَفَةٗۖ وَٱتَّقُواْ ٱللَّهَ لَعَلَّكُمۡ تُفۡلِحُونَ ١٣٠

Ihr, die den Iimaan verinnerlicht habt! Nehmt keine Zinsen 18 (und besonders nicht) in vervielfacht verdoppelter Höhe, und erweist euch ehrfürchtig 19 Allaah gegenüber, damit ihr erfolgreich werdet. 20

Die Einschränkung “in vervielfacht verdoppelter Höhe” beschreibt eine vorwiegende Handlung im Riba-Geschäft und ist keine wirksame Einschränkung. Denn die Menschen zahlen am Ende inklusive Riba ein Vielfaches von ihrer Schuld ab. Die Aayaat und die Hadiithe machen jedoch keinen Unterschied in Bezug auf die Riba-Höhe. Ein Muslim darf keinerlei Riba nehmen oder zahlen, unabhängig davon, in welcher Höhe dies vereinbart werden kann.

  • Die Mantuuq-Bedeutung darf nicht das Erweisen von Gunst beschreiben.
    Beispiel:

وَهُوَ ٱلَّذِي سَخَّرَ ٱلۡبَحۡرَ لِتَأۡكُلُواْ مِنۡهُ لَحۡمٗا طَرِيّٗا

Er ist Derjenige, Der euch das Meer gratis fügbar machte, damit ihr von ihm saftiges Fleisch speist. 21

Man kann aus der Aayah nicht ableiten, dass man nicht saftiges/zähes Fleisch nicht essen darf, da die Beschreibung in der Aayah eine Betonung und eine Erinnerung an Allaahs Gunst den Menschen gegenüber darstellt.

  • Die Mantuuq-Bedeutung darf nicht eine Antwort auf eine spezifische Frage oder Angelegenheit sein.
    Beispiel:
    Sollte jemand auf die Frage: “Soll der Haddsch-Pilger das rituelle ‘Iid-Gebet verrichten?” antworten: “Der Haddsch-Pilger soll das rituelle ‘Iid-Gebet verrichten!”, kann man daraus keinerlei mafhuumul-muchaalafah ableiten.
  • Die Mantuuq-Bedeutung darf keine Übertreibung bzw. Betonung eines bestimmten Zustandes beschreiben.
    Beispiel:
    Der Gesandte (sallal-laahu ‘alaihi wa sallam) sagte:

لَا يَحِلُّ لِامْرَأَةٍ تُؤْمِنُ بِاللَّهِ وَالْيَوْمِ الْآخِرِ تُسَافِرُ مَسِيرَةَ يَوْمٍ إِلَّا مَعَ ذِي مَحْرَمٍ.

Es ist nicht erlaubt für eine Frau, die den Iimaan an Allaah und an den Jüngsten Tag verinnerlicht, dass
sie eine Tagesreise antritt, es sei denn mit einem Mahram 22. (B, M, T, I, A, Maalik und Ahmad)

Aus dem Hadiith kann man nicht ableiten, dass die Frau, die keinen Iimaan an Allaah und an den Jüngsten Tag verinnerlicht, diese Handlung (das Reisen) ohne Mahram tun darf. Denn diese strenge Ausdrucksweise stellt nur eine Betonung der Wichtigkeit der Angelegenheit dar.

  • Die Mantuuq-Bedeutung muss unabhängig, d. h., für sich allein sinnvoll sein;
    Beispiel:

Ÿوَلَا تُبَٰشِرُوهُنَّ وَأَنتُمۡ عَٰكِفُونَ فِي ٱلۡمَسَٰجِدِۗ

Werdet nicht intim mit ihnen, während ihr euch in die Moscheen (für die Anbetung) zurückzieht 23. 24

Aus der Aayah kann man nicht ableiten, dass man mit der Ehefrau intim sein darf, wenn man i’tikaaf außerhalb der Moschee vollzieht. Denn der Ausdruck “in den Moscheen” hat allein keine sinnvolle Bedeutung. Er ist abhängig vom Satz.

  • Die Mantuuq-Bedeutung darf keine Verallgemeinerungen beschreiben bzw. darstellen;
    Beispiel:

إِنَّ ٱللَّهَ عَلَىٰ كُلِّ شَيۡءٖ قَدِيرٞ ١٦٥

Allaah ist über alles (alle Dinge) allmächtig! 25

Aus der Aayah kann man nicht ableiten, dass Allaah über die Nicht-Dinge nicht allmächtig wäre. Die Aussage in der Aayah beschreibt nur etwas im Allgemeinen.

  • Die durch mafhuumul-muchaalafah ableitbare Bedeutung darf keinem eindeutigen Scharii’ah-Beleg (nass) widersprechen.
    Beispiel:
    Der Gesandte (sallal-laahu ‘alaihi wa sallam) sagte zum Nachholen von versäumten rituellen Pflichtgebeten:

إِذَا رَقَدَ أَحَدُكُمْ عَنِ الصَّلَاةِ أَوْ غَفَلَ عَنْهَا فَلْيُصَلِّهَا إِذَا ذَكَرَهَا.

Wenn einer von euch das rituelle Gebet verschläft oder vergisst, dann soll er es verrichten, wenn er sich daran erinnert. (M)

Man kann aus dem Hadiith nicht ableiten, dass man das rituelle Gebet nicht nachzuholen braucht, wenn man es bewusst unterlässt, da das Nicht-Nachholen eindeutigen Hadiithen widerspricht. Denn als der Gesandte (sallal-laahu ‘alaihi wa sallam) über das Nachholen vom Fasten und von der Haddsch-Pilgerfahrt für Verstorbene gefragt wurde, sagte er:

فَدَيْنُ اللَّهِ أَحَقُّ أَنْ يُقْضَى.

Die Schuld Allaah gegenüber hat mehr Anrecht getilgt zu werden. (B)

Resümee

Man kann aus den o. g. Bedingungen folgende Regel ableiten:
Erst wenn bei der Einschränkung des Nomens, über das etwas mitgeteilt wird bzw. dem etwas zugeschrieben wird, keine zusätzliche nützliche Bedeutung festgestellt wird, kann mafhuumul-muchaalafah abgeleitet und verwendet werden.

-) Typen von mafhuumul-muchaalafah

mafhuumul-muchaalafah wird u. a. in fünf Kategorien eingeteilt:

  • mafhuumussifah مفهوم الصفة (assifah الصفة: wörtlich “das Attribut”)
    Darunter versteht man “das Übertragen des gegenteiligen Scharii’ah-Gebots für gleiche Wesen, bei denen das Wesensattribut fehlt, von dem das ursprüngliche Scharii’ah-Gebot abhängt.”
    Somit handelt es sich bei mafhuumussifah im Grunde um ein bekanntes Scharii’ah-Gebot, die von einem Wesensattribut so abhängt, dass dieses Scharii’ah-Gebot für das betroffene Wesen nicht mehr gilt und wegfällt, wenn dieses Wesensattribut unterbleibt;
    Beispiele:

يَٰٓأَيُّهَا ٱلَّذِينَ ءَامَنُوٓاْ إِن جَآءَكُمۡ فَاسِقُۢ بِنَبَإٖ فَتَبَيَّنُوٓاْ أَن تُصِيبُواْ قَوۡمَۢا بِجَهَٰلَةٖ فَتُصۡبِحُواْ عَلَىٰ مَا فَعَلۡتُمۡ نَٰدِمِينَ ٦

Ihr, die den Iimaan verinnerlicht habt! Wenn euch ein Übertreter eine Nachricht übermittelt, so vergewissert euch, damit ihr keine Menschen durch Unwissen verletzt und dann für das reuig werdet, was ihr getan habt. 26

Aus dieser Aayah kann man u. a. ableiten, dass wenn ein Nicht-Faasiq etwas mitteilt bzw. überliefert, dieses nicht überprüft werden muss.

Der Gesandte Allaahs (sallal-laahu ‘alaihi wa sallam) sagte:

فِي سَائِمَةِ الْغَنَمِ زَكَاةٌ.

Für die weidenden Schafe ist Zakaah zu entrichten. (Al-baihaqiy)

Schafe ist eine Wesensbezeichnung. Dieses Wesen kann in Bezug auf sein Futter zwei Attribute haben: entweder weidend oder gefüttert. Der Scharii’ah-Geber hat die Verpflichtung zur Entrichtung der Zakaah von einem dieser Attribute abhängig gemacht, nämlich weidend. So gibt es keine Zakaah beim Fehlen dieses Attributs. Das bedeutet, dass es keine Zakaah in Form von Schafen bei gefütterten Schafen gibt.

  • mafhuumusch-schart مفهوم الشرط (asch-schart الشرط: wörtl. “die Bedingung”)
    Darunter versteht man “das Übertragen des gegenteiligen Scharii’ah-Gebots beim Fehlen der Bedingung, von der das ursprüngliche Scharii’ah-Gebot abhängt”.
    Beispiel:

شَهۡرُ رَمَضَانَ ٱلَّذِيٓ أُنزِلَ فِيهِ ٱلۡقُرۡءَانُ هُدٗى لِّلنَّاسِ وَبَيِّنَٰتٖ مِّنَ ٱلۡهُدَىٰ وَٱلۡفُرۡقَانِۚ فَمَن شَهِدَ مِنكُمُ ٱلشَّهۡرَ فَلۡيَصُمۡهُۖ وَمَن كَانَ مَرِيضًا أَوۡ عَلَىٰ سَفَرٖ فَعِدَّةٞ مِّنۡ أَيَّامٍ أُخَرَۗ

Es ist der Monat Ramadaan, in dem der Quraan hinabgesandt wurde als Rechtleitung für die Menschen und als deutliches Zeichen von der Rechtleitung und den Unterscheidungsrichtlinien 27. Wer von euch diesen Monat erlebt, so soll er darin fasten! Wer krank oder auf Reisen war, (fastet) an anderen Tagen die gleiche Anzahl. 28

Aus dieser Aayah leitet man ab, dass man das rituelle Fasten nicht aussetzen darf, wenn man weder krank ist, noch sich auf der Reise befindet.

  • mafhuumul-ghaayah مفهوم الغاية (al-ghaayah الغاية: wörtlich “das Ende” bzw. “das Ziel”)
    Unter mafhuumul-ghaayah versteht man den Hinweis des Ausdrucks, in dem das Scharii’ah-Gebot mit einer festgelegten Frist bzw. mit einem festgelegten Ende eingeschränkt wurde, auf das gegenteilige Scharii’ah-Gebot nach dem Erreichen der festgelegten Frist bzw. des festgelegten Endes.
    Beispiel:

وَٱشۡرَبُواْ حَتَّىٰ يَتَبَيَّنَ لَكُمُ ٱلۡخَيۡطُ ٱلۡأَبۡيَضُ مِنَ ٱلۡخَيۡطِ ٱلۡأَسۡوَدِ مِنَ ٱلۡفَجۡرِۖ ثُمَّ أَتِمُّواْ ٱلصِّيَامَ إِلَى ٱلَّيۡلِۚ

(…) Esst und trinkt, bis für euch der weiße Faden der Dämmerung vom schwarzen Faden der Nacht unterscheidbar wird, dann vollendet das Fasten bis zur Nacht! (…) 29

Aus dieser Aayah leitet man ab, dass man nach der Morgendämmerung nicht mehr essen darf.

  • mafhuumul-‘adad مفهوم العدد (al-‘adad العدد: wörtlich “die Zahl”)
    Darunter versteht man den Hinweis des Ausdrucks, in dem das Scharii’ah-Gebot mit einer bestimmten Zahl eingeschränkt wurde, auf das gegenteilige Scharii’ah-Gebot für alle Fälle, bei denen diese bestimmte Zahl nicht vorkommt.
    Beispiel:
    Der Gesandte (sallal-laahu ‘alaihi wa sallam) sagte:

إِذَا وَلَغَ الْكَلْبُ فِي إِنَاءِ أَحَدِكُمْ فَلْيُرِقْهُ ثُمَّ لِيَغْسِلْهُ سَبْعَ مِرَارٍ.

Wenn der Hund den Topf eines von euch ableckt, dann soll er ihn ausgießen und dann siebenmal waschen. (M)

Aus dem Hadiith leitet man ab, dass man seinen Topf nicht weniger als siebenmal waschen darf.

  • mafhuumul-laqab مفهوم اللقب (al-laqab اللقب: wörtlich “der Name”)
    Es bedeutet, dass das Scharii’ah-Gebot von einem Namen oder von einer Bezeichnung abhängt;
    Beispiel:

مُّحَمَّدٞ رَّسُولُ ٱللَّهِۚ

“Muhammad ist Allaahs Gesandter”. 30

Sollte dieser Typ von mafhuumul-muchaalafah berücksichtigt werden, dann hieße es, dass es keine Gesandten außer Muhammad (sallal-laahu ‘alaihi wa sallam) gibt, was eindeutig falsch ist, deshalb gilt dieser Mafhuum-Typ nicht.

III) Bedeutungen der Ausdrücke bei den Hanafiten

Die Hanafiten haben eine andere Einteilung der Bedeutungen der Ausdrücke als die Einteilung der Bedeutungstypen von al-mantuaq und al-mafhuum bei den Schaafi’iten, Maalikiten und Hanbaliten. Sie teilen die Bedeutungen der Ausdrücke in Sprachliche und Nicht-Sprachliche:

A) Die sprachlichen Bedeutungen der Ausdrücke

Diesen Typ unterteilen die Hanafiten in vier Typen:

a) ‘ibaaratun-nass عبارة النص: Darunter versteht man die offenkundige Bedeutung, auf die der Ausdruck direkt aus der Sprache heraus (mantuuq) direkt (asaalah أصالة) oder indirekt (taba’ تبع) hinweist.

Beispiel:

فَٱنكِحُواْ مَا طَابَ لَكُم مِّنَ ٱلنِّسَآءِ مَثۡنَىٰ وَثُلَٰثَ وَرُبَٰعَۖ

so heiratet diejenigen, die euch lieb sind von den (sonstigen) Frauen, zwei, drei oder vier. 31

Aus der Aayah leitet man direkt ab, dass man mehrere Frauen gleichzeitig islamisch heiraten darf, und indirekt, dass die Ehe erlaubt ist.

b) ischaaratun-nass إشارة النص: Darunter versteht man den Hinweis des Ausdrucks auf eine bestimmte Bedeutung durch seine Syntax, ohne dass der Ausdruck weder direkt noch indirekt für diese Bedeutung verwendet wird.

Beispiel:

’وَعَلَى ٱلۡمَوۡلُودِ لَهُۥ رِزۡقُهُنَّ وَكِسۡوَتُهُنَّ بِٱلۡمَعۡرُوفِۚ

Demjenigen, dem geboren wurde, obliegt ihre Versorgung und ihr Bekleiden nach dem Üblichen. 32

Aus dieser Aayah leitet man durch Selbsturteilsfindung und Nachdenken ab, dass die Abstammung des Menschen nach dem Vater erfolgt. Man bemerkt, dass die sprachliche Syntax diese Bedeutung nicht wiedergibt, sondern nur die Unterhaltspflicht des Vaters beinhaltet.

Man stellt dazu ebenfalls fest, dass ‘ibaaratun-nass عبارة النص stärker als ischaaratun-nass إشارة النص ist. Deshalb wird ‘ibaaratun-nass beim Vorliegen eines Widerspruchs zu ischaaratun-nass zuerst berücksichtigt.

c) dalaalatun-nass دلالة النص: Darunter versteht man den Hinweis eines Ausdrucks auf eine bestimmte Bedeutung, die aus der wörtlichen Mantuuq-Bedeutung ohne viel Nachdenken abgeleitet wird. Dieser Typ ist identisch mit mafhuumul-muwaafaqah bei den anderen Usuul-Gelehrten.

d) dalaalatul-iqtidaa´ دلالة الاقتضاء: Dieser Typ ist identisch mit dalaalatul-iqtidaa´ دلالة الاقتضاء bei den anderen Usuul-Gelehrten

B) Die nicht sprachlichen Bedeutungen der Ausdrücke

Die Hanafiten nennen diesen Typ “bayaanud-daruurah بيان الضرورة“, weil hier durch Schweigen etwas erläutert wird und nicht durch Sprechen. Sie erkennen dabei vier Gründe, die sie dazu veranlassen, das Schweigen als maßgeblich für die Erläuterung einer Bedeutung zu berücksichtigen:

– Ausformulierung eines Satzes derart, dass die beabsichtigte Bedeutung zunächst allgemein erwähnt wird. Danach wird ein Teil der Bedeutung detailliert dargestellt, was dann ermöglicht, die verschwiegene Bedeutung abzuleiten.

Beispiel: “Wenn man jedoch keine Kinder hat und (nur) seine Eltern ihn beerben, dann bekommt seine Mutter das Drittel.” Man kann daraus ableiten, dass der Vater zwei Drittel erhält.

– Schweigen, das bei Bedarf eine Art Erläuterung darstellt, wenn nichts vorliegt, das die abgeleitete Bedeutung zurückweist.

Beispiel: Das Schweigen der Jungfrau, wenn sie nach der Ehe mit einem bestimmten Mann unter bestimmten Bedingungen gefragt wird, wird als eine Zustimmung gedeutet, wenn nichts vorliegt, was diese Deutung relativiert und verhindert.

– Schädigung von Menschen durch Nichtdeutung vom Schweigen.

Beispiel: Wenn ein Geschäftspartner beim Verkauf der Anteile seines Geschäftspartners schweigt und keinen Gebrauch von seinem Vorrecht zum Kauf (asch-schuf’ah الشفعة) macht, dann wird sein Schweigen als Verzicht gedeutet. Er kann sich danach nicht mehr auf asch-schuf’ah berufen, um den Verkauf zu verhindern. Damit schützt man den Käufer vor Schädigung.

– Syntaktische Verbindung im Satz mit etwas, das nicht direkt erwähnt wird, aber gewöhnlich erkannt wird.

Beispiel: Man kauft etwas für fünfzig und zwei Euros. Man zahlt demnach 52 Euros.

Resümee

Man stellt fest, dass dieser Typ der nicht sprachlichen Bedeutungen der Ausdrücke bei den Nicht-Hanafiten unter al-mantuuq subsumiert wird, da diese o. g. Bedeutungen, die man ebenfalls so anerkennt und annimmt, untrennbar mit al-mantuuq verbunden sind.

Der eigentliche Unterschied zwischen Hanafiten und Nicht-Hanafiten liegt somit bei der Anerkennung bzw. der Nicht-Anerkennung von mafhuumul-muchaalafah.

Notes:

  1. Mit uff äußert man auf Arabisch seinen Unmut über eine Sache.
  2. Ursprünglich: „’ibaadah vollzieht“.
  3. Ursprünglich: „ihsaan“. ihsaan bedeutet, anderen auf schöne Art noch mehr als das zukommen lassen, das ihnen zusteht. Im Bezug auf Allaah (ta’aala) ist ihsaan ein Synonym für Gnade.
  4. Quraan (17:23)
  5. Quraan (112:1)
  6. Quraan (2:279)
  7. Quraan (2:222)
  8. Quraan (2:228)
  9. Quraan (12:82)
  10. Quraan (58:3)
  11. Quraan (2:187)
  12. Dschanaabah-Zustand ist der Zustand nach dem Geschlechtsakt. Danach muss man zuerst die Ghusl-Waschung vollziehen, bevor man das rituelle Gebet verrichten kann.
  13. Quraan (4:10)
  14. Ursprünglich: faasiq. Jeder Muslim oder kaafir, der bewusst Allaahs Gebote verletzt.
  15. Quraan (49:6)
  16. Die Maßeinheit 1 qullah قلة entspricht etwa 102 Liter.
  17. Quraan (4:23)
  18. Ursprünglich: „riba“.
  19. Ursprünglich: „taqwa-gemäß“.
  20. Quraan (3:130)
  21. Quraan (16:14)
  22. Mahram ist ein Verwandter der Frau, mit dem die Ehe für immer verboten ist; Vater, Bruder, etc.
  23. Ursprünglich „’aakifuun“, d.h. um i’tikaaf zu vollziehen. i’tikaaf ist das Sich-Zurückziehen in die Al-haram-Moschee, um ausschließlich ’Ibaadah zu vollziehen und Allaahs zu gedenken.
  24. Quraan (2:187)
  25. Quraan (3:165)
  26. Quraan (49:6)
  27. Ursprünglich: al-furqaan. al-furqaan ist die Unterscheidung zwischen Gut und Böse.
  28. Quraan (2:185)
  29. Quraan (2:187)
  30. Quraan (48:29)
  31. Quraan (4:3)
  32. Quraan (2:233)