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Semantik des Quraan / al-awaamir الأوامر (das Gebieten) und an-nawaahi النواهي (des Verbieten)


I) al-awaamir الأوامر (das Gebieten)

A) Begriffsbestimmung von al-amr

Linguistische Bedeutung von al-amr
al-amr الأمر (Plural al-awaamir الأوامر) bedeutet im wörtlichen Sinne “die Formel, mit der zum Vollziehen einer Handlung aufgefordert wird”. Im metaphorischen Sinne ist al-amr u. a. “das Gebieten, der Befehl, die Handlung, das Ding und die Angelegenheit”.
amara أمر ist das Verb.

Fachspezifische Definition von al-amr
Fachspezifisch versteht man unter al-amr Folgendes:

هو القول الطالب للفعل، بلا علو، ولا استعلاء.

huwal-qauluttaalibu lilfi’li, bila ‘uluwwin, wala sti’laaء

Es ist der Ausdruck, mit dem zum Vollziehen einer Handlung aufgefordert wird, unabhängig davon, ob dieser Ausdruck von einem Vorgesetzten stammt oder auf überhebliche Art und Weise erfolgt.

Erläuterung der Definition:

Mit Al-amr ist das gesprochene Wort für das Gebieten bzw. Befehlen (ohne Verneinung bzw. Prohibitiv) an sich gemeint, das aus den Buchstaben (أ م ر, a m r) zusammengesetzt wird. Damit ist weder die imperative Verbform noch das Beabsichtigte im Innern gemeint. Man bemerkt, dass Aufforderungen zur Unterlassung einer Handlung nicht zu al-amr sondern zu an-nahi النهي gehören.
Die Aufforderung zum Tun erfolgt entweder von einem Vorgesetzten (‘uluu علو) an den Untergebenen (von oben nach unten) oder auf überhebliche Art und Weise (isti’laa’ إستعلاء). Dabei spielt es keine Rolle, von welcher Person (arm oder reich, schwach oder stark) diese Aufforderung so erfolgt. Die Gelehrten der Logik-Disziplin bezeichnen im Gegensatz zu den Usuul-Gelehrten nur die Aufforderung als al-amr, die vom Vorgesetzten an den Untergebenen (von oben nach unten) gerichtet wird. Nach ihnen heißt die Aufforderung von Ebenbürtigen “iltimaas إلتماس: Bitte” und die Aufforderung von Untergebenen an den Vorgesetzten – also von unten nach oben – “du’aa´ دعاء: Frage bzw. Bittgebet”.
al-amr ist eine haqiiqah-Bedeutung bei jeder Aufforderung zum Vollziehen einer Handlung. Es stellt die ursprünglich wörtliche Bedeutung bei allen Wörtern dar, die zum Handeln auffordern (z. B.: wenn eine führende Person einen Befehl erteilt, dann macht sie dies mit einem dafür vorgesehenen Ausdruck).
al-amr stellt eine madschaaz-Bedeutung dar, d. h. eine Bedeutung im übertragenen Sinne, in al-amr in der Bedeutung von “die Handlung, die Angelegenheit”. Allaah (ta’aala) sagte:

فَٱعۡفُ عَنۡهُمۡ وَٱسۡتَغۡفِرۡ لَهُمۡ وَشَاوِرۡهُمۡ فِي ٱلۡأَمۡرِۖ

So verzeih ihnen, bitte um Vergebung für sie und berate dich mit ihnen über al-amr (die beabsichtigte Handlung). 1

وَمَآ أَمۡرُ فِرۡعَوۡنَ بِرَشِيدٖ

Jedoch amr (die Angelegenheit) des Pharaos war nicht vernünftig. 2

B) Die Beziehung zwischen al-amr الأمر und al-iraadah الإرادة

al-iraadah (wörtlich “das Wollen”) und al-amr unterscheiden sich nach Ahlus-sunnah wal-dschamaa’ah
أهل السنة والجماعة (Al-aschaa’irah الأشاعرة und Al-maturiidiyyah الماتريدية ) 3 im Gegensatz zu Al-mu’tazilah المعتزلة voneinander, denn:

– man kann zum Vollziehen einer Handlung auffordern, ohne diese zu wollen (z. B. diejenigen Offiziere an der Berliner-Mauer, die den Befehl erteilten, auf flüchtende DDR-Bürger zu schießen, obwohl sie dies nicht wollten);

– man kann etwas wollen, ohne zu seinem Vollziehen aufzufordern (z. B. Politiker, die den islamischen Religionsunterricht in Deutschland wollen, aber politisch zu feige sind, ihn anzuordnen);

– man kann etwas weder befehlen noch wollen (z. B. Politiker, die aus Überzeugung den islamischen Religionsunterricht in Deutschland verhindern); und

– man kann etwas befehlen und wollen (z. B. Politiker in Österreich, die aus Überzeugung den islamischen Religionsunterricht anordnen).

Diese Unterscheidung (bzw. Nicht-Unterscheidung) zwischen al-iraadah und al-amr hat weitgehende Konsequenzen in der ‘Aqiidah-Disziplin im Bereich der Attribute Allaahs und der Handlungen des Menschen und ihrer Bewertung. 4

C) Die grammatikalische Form von al-amr

Die grammatikalische Form, die auf al-amr im Arabischen hinweist, ist eine der folgenden Formen:

– die Imperativform ohne Verneinung des Verbs (z. B. “tue”),

– die Gegenwartsform des Verbs (Präsens) verbunden mit (li لِـ) (z. B. “لتفعل: Du musst es tun”) und

– das Verbalnomen (ismul-fi’l اسم الفعل wie sahin صه, nazaali نزال).

Diese Formen von al-amr weisen auf verschiedene andere Bedeutungen hin, u. a. auf:

al-wudschuub الوجوب (die Verpflichtung/ Muss-Handlung)

وَأَقِيمُواْ ٱلصَّلَوٰةَ وَءَاتُواْ ٱلزَّكَوٰةَ وَٱرۡكَعُواْ مَعَ ٱلرَّٰكِعِينَ ٤٣

Verrichtet ordnungsgemäß das rituelle Gebet, entrichtet die Zakaah und werft euch im Gebet nieder mit denen, die sich im Gebet niederwerfen! 5

an-nadb الندب (die Soll-Handlung)

وَٱلَّذِينَ يَبۡتَغُونَ ٱلۡكِتَٰبَ مِمَّا مَلَكَتۡ أَيۡمَٰنُكُمۡ فَكَاتِبُوهُمۡ إِنۡ عَلِمۡتُمۡ فِيهِمۡ خَيۡرٗاۖ

Diejenigen von denen, die euch gehören, wenn sie Mukaatabah 6 begehren, dann macht mit ihnen Mukaatabah, wenn ihr von ihnen Gutes wisst. 7

at-ta’diib التأديب (die Erziehung)
Der Gesandte Muhammad (sallal-laahu ‘alaihi wa sallam) sagte dem kleinen ‘Umar Bnu-abi-salamah: “Iß von
dem
, was dir am nächsten ist!”

al-irschaad الإرشاد (die Empfehlung)

يَٰٓأَيُّهَا ٱلَّذِينَ ءَامَنُوٓاْ إِذَا تَدَايَنتُم بِدَيۡنٍ إِلَىٰٓ أَجَلٖ مُّسَمّٗى فَٱكۡتُبُوهُۚ

Ihr, die den Iimaan verinnerlicht habt! Wenn ihr einander eine Schuld für eine festgesetzte Frist gewährt, dann schreibt sie nieder! 8

al-idhn الإذن (die Erlaubnis)
Jemand klopft an die Tür, dann sagt man: “Tritt ein!”

al-ikraam الإكرام (die Ehrung)

ٱدۡخُلُوهَا بِسَلَٰمٍ ءَامِنِينَ ٤٦

Tretet hinein heil und sicher! 9

iraadatul-imtithaal إرادة الامتثال (das Verlangen nach Erfüllung)
Ein Durstiger verlangt nach Wasser und sagt: “Gib mir zu trinken!”

at-tahdiid التهديد (die Androhung) und al-indhaar الإنذار (die Warnung)

إِنَّ ٱلَّذِينَ يُلۡحِدُونَ فِيٓ ءَايَٰتِنَا لَا يَخۡفَوۡنَ عَلَيۡنَآۗ أَفَمَن يُلۡقَىٰ فِي ٱلنَّارِ خَيۡرٌ أَم مَّن يَأۡتِيٓ ءَامِنٗا يَوۡمَ ٱلۡقِيَٰمَةِۚ ٱعۡمَلُواْ مَا شِئۡتُمۡ إِنَّهُۥ بِمَا تَعۡمَلُونَ بَصِيرٌ ٤٠

Diejenigen, die Unsere Zeichen entstellen, bleiben Uns nicht verborgen. Ist etwa derjenige, der ins Feuer geworfen wird, besser oder derjenige, der am Tage der Auferstehung sicher kommt?(!) Tut, was ihr wollt! Er ist gewiss dessen, was ihr tut, allsehend. 10

قُلۡ تَمَتَّعُواْ فَإِنَّ مَصِيرَكُمۡ إِلَى ٱلنَّارِ

Sag: ‚Lasst euch nur vergnügen. Denn euer Werden führt unweigerlich ins Feuer!’ 11

al-ihaanah الإهانة (die Erniedrigung)

خُذُوهُ فَٱعۡتِلُوهُ إِلَىٰ سَوَآءِ ٱلۡجَحِيمِ ٤٧ ثُمَّ صُبُّواْ فَوۡقَ رَأۡسِهِۦ مِنۡ عَذَابِ ٱلۡحَمِيمِ ٤٨ ذُقۡ إِنَّكَ أَنتَ ٱلۡعَزِيزُ ٱلۡكَرِيمُ ٤٩

“Ergreift ihn, dann schleift ihn inmitten der Hölle, (48) dann gießt über seinen Kopf von der Peinigung des Siedenden.” (49) “Koste! Du bist angeblich der Würdige, der Edle!” 12

al-ibaahah الإباحة (die Kann-Handlung)    

يَٰٓأَيُّهَا ٱلرُّسُلُ كُلُواْ مِنَ ٱلطَّيِّبَٰتِ وَٱعۡمَلُواْ صَٰلِحًاۖ إِنِّي بِمَا تَعۡمَلُونَ عَلِيمٞ ٥١

Ihr Gesandte! Esst von den guten Speisen 13 und tut Gutes! 14

ad-du’aa’ الدعاء (das Bittgebet)
Man spricht ein Bittgebet und sagt: “Allaah! Vergib mir!”
Imaam Ibnus-subkiy hat noch weitere 14 Bedeutungen für al-amr aufgezählt. Diese lauten:

al-imtinaan الامتنان (Erinnerung an das Gute und Wohltaten, die für jemanden geleistet wurden) wie in (5:88),

al-ihtiqaar الاحتقار (die Verachtung) wie in (10:80),

at-tas-chiir التسخير (das Nieder-Machen) wie in (2:65),

at-takwiin التكوين (die Erschaffung) wie in (2:117),

at-ta’dschiiz التعجيز (das Zu-Schaffen-Machen) wie in (2:23),

at-taswiyyah التسوية (das Gleich-Machen) wie in (52:16),

at-tamanni التمني (das Wünschen) wie in (32:12),

al-chabar الخبر (die Mitteilung) wie in (9:53, 82, 2:126, 34:18, 89:29-30),

al-in’aam الإنعام (Erinnerung an die Gaben und Wohltaten) wie in (2:57),

at-tafwiid التفويض (die Bevollmächtigung) wie in (20:72),

at-ta’adsch-dschub التعجب (die Verwunderung) wie n (25:48),

at-takdhiib التكذيب (das Leugnen) wie in (3:93),

al-maschuurah المشورة (die Beratung) wie in (37:102) und

al-i’tibaar الاعتبار (eine Lektion nehmen) wie in (6:99).

D) Verschiedene Aspekte zu al-amr

  • al-amr-Formen sind nach der Mehrheit der Gelehrten haqiiqah nur in der Muss-Kategorie. In allen anderen Kategorien (Soll-, Kann-, Soll-Nicht- und Darf-Nicht-Kategorie) sind sie madschaaz.

قَالَ مَا مَنَعَكَ أَلَّا تَسۡجُدَ إِذۡ أَمَرۡتُكَۖ قَالَ أَنَا۠ خَيۡرٞ مِّنۡهُ خَلَقۡتَنِي مِن نَّارٖ وَخَلَقۡتَهُۥ مِن طِينٖ ١٢

Er sagte: “Was hinderte dich daran, dich zu verbeugen, als Ich es dir angewiesen habe (amartuka)?(!)” Er sagte: “Ich bin besser als er. Du hast mich aus Feuer, aber ihn aus Lehm erschaffen.” 15

Hätte al-amr nicht die Verpflichtung zur Folge, hätte es keine Sanktion und keine Konsequenzen für den Satan gegeben.

  • Sollten keine Hinweise festgestellt werden, die al-amr von der Muss-Kategorie in eine andere Kategorie versetzen, dann geht man von der Muss-Kategorie aus.
    Manche Usuul-Gelehrte lehnen dies mit der Begründung ab, dass die Usuul als Fundamente nur einen eindeutig definitiven (qat‘iy und nicht dhanniy) Charakter haben müssen, denn das Nicht-Feststellen solcher Hinweise bedeutet nicht, dass diese nicht vorhanden sein können.
  • Wenn etwas verboten war und dann durch al-amr geboten wurde, dann gehört al-amr in diesem Falle zur Kann-Kategorie.

يَٰٓأَيُّهَا ٱلَّذِينَ ءَامَنُوٓاْ إِذَا نُودِيَ لِلصَّلَوٰةِ مِن يَوۡمِ ٱلۡجُمُعَةِ فَٱسۡعَوۡاْ إِلَىٰ ذِكۡرِ ٱللَّهِ وَذَرُواْ ٱلۡبَيۡعَۚ ذَٰلِكُمۡ خَيۡرٞ لَّكُمۡ إِن كُنتُمۡ تَعۡلَمُونَ ٩ فَإِذَا قُضِيَتِ ٱلصَّلَوٰةُ فَٱنتَشِرُواْ فِي ٱلۡأَرۡضِ وَٱبۡتَغُواْ مِن فَضۡلِ ٱللَّهِ وَٱذۡكُرُواْ ٱللَّهَ كَثِيرٗا لَّعَلَّكُمۡ تُفۡلِحُونَ ١٠

Ihr, die den Iimaan verinnerlicht habt! Wenn zum Freitagsgebet gerufen wird, dann strebt zum Gedenken Allaahs und lasst vom Geschäftsbetrieb ab. Das ist besser für euch, würdet ihr es wissen. (10) Wenn das rituelle Gebet beendet wird, dann zerstreut euch im Lande, strebt von Allaahs Gunst an und gedenkt Allaahs viel, damit ihr erfolgreich werdet. 16

So ist der Geschäftsbetrieb nach dem Freitagsgebet keine Muss-Handlung, sondern eine Kann-Handlung.

  • al-amr nach der Bitte um Erlaubnis weist ebenfalls auf eine Kann- und nicht auf eine Muss-Handlung hin.
    Beispiel: “Soll ich eintreten?” Antwort: “Tritt ein!” So kann man zwar, muss aber nicht eintreten.
  • al-amr an sich und ohne Indizien erfordert weder den einmaligen Vollzug der angewiesenen Handlung noch ihre Wiederholung, noch schließt es beide aus. Dass
    die geforderte Handlung einmal vollzogen wird, hat mit der Notwendigkeit der Umsetzung zu tun und nicht mit dem Wesen von al-amr.
  • Wenn al-amr von einem Attribut oder von einer Bedingung abhängt, dann weist es auf Wiederholung hin, doch nur dann, wenn das Attribut oder die Bedingung eine ‘illah علة (Grund bzw. sabab) darstellen.
    Beispiel für ‘illah:

وَإِن كُنتُمۡ جُنُبٗا فَٱطَّهَّرُواْۚ

Wenn ihr dschunub 17 seid, dann stellt die rituelle Reinheit wieder her. 18

Beispiel für Nicht-‘illah: Wenn Ramadaan kommt, spende in meinem Namen 10 €.

  • Nach der Mehrheit der Usuul-Gelehrten weist al-amr an sich ebenfalls weder auf die sofortige Umsetzung der angewiesenen Handlung noch auf ihre Verzögerung hin. al-amr weist nur auf die Aufforderung zum Vollziehen der Handlung hin, ohne dabei die Zeit der Vollziehung zu bestimmen; deshalb muss man keine Absicht fassen, wenn man z. B. das rituelle Gebet nicht am Anfang seiner Zeit verrichtet, sondern dies erst in der Mitte der Zeit oder kurz vor deren Ende tun möchte.
    Die sofortige Vollziehung bzw. die Verzögerung der Umsetzung der angewiesenen Handlung wird nur durch
    äußere Umstände bzw. Indizien bestimmt.
  • Da durch al-amr die angesprochene Person dazu aufgefordert wird, eine bestimmte Handlung zu vollziehen, schlussfolgert al-amr keine Verpflichtung, wenn es zu Handlungen auffordert, die von der angesprochenen Person sowieso aus Eigeninteresse vollzogen werden.
    Beispiel: Der Gesandte (sallal-laahu ‘alaihi wa sallam) sagte:

مَنِ اسْتَطَاعَ الْبَاءَة فَلْيَتَزَوَّجْ

“Wer die Eheverpflichtungen erfüllen kann, der soll heiraten!” (B, M)

Das Heiraten wird von den Fiqh-Gelehrten nicht in die Muss-Kategorie erhoben, da dies sowieso ein menschliches Bedürfnis darstellt.

  • Wenn al-amr beinhaltet, dass anderen etwas geboten werden sollte, dann stellt es für diese anderen kein Gebot dar.
    Beispiel: Der Gesandte (sallal-laahu ‘alaihi wa sallam) sagte:

مُرُوا أَوْلَادَكُمْ بِالصَّلَاةِ

“Fordert eure Kinder zum rituellen Gebet auf!” (A)

Aus dieser Aufforderung kann man nicht ableiten, dass das rituelle Gebet für die Kinder eine Muss-Handlung (waadschib) ist.

  • Wenn al-amr zum adaa’ (Vollzug zu einer vorgegebenen Zeit) auffordert, beinhaltet dies nicht automatisch die Verpflichtung zum qadaa’ (Nachholen); dafür benötigt man eine neue Aufforderung.
  • Nur wenn die durch al-amr angewiesene Handlung scharii’ah-konform unter Berücksichtigung ihrer Bedingungen bzw. Voraussetzungen (schuruut), elementaren Teile (arkaan) und Art der Durchführung (sifah) vollzogen wird, gilt al-amr als erfüllt.
  • Diejenige Person, die zu etwas auffordert, ist selbst davon betroffen.
    Beispiel: Der Gesandte Muhammad (sallal-laahu ‘alaihi wa sallam) ist grundsätzlich (Ausnahmen müssen belegt werden) wie jedes Mitglied der Ummah angehalten, alles zu vollziehen, was er gebietet.

Imaam Al-dschuwainiy verlangt dafür klare Indizien, welche darauf schließen lassen.

 
II) an-nawaahi النواهي (das Verbieten) 19

A) Begriffsbestimmung von an-nahi

Linguistische Bedeutung von an-nahi
an-nawaahi النواهي ist ein Plural von an-nahi النهي. an-nahi ist das Gegenteil von al-amr und bedeutet “das Verbieten”. “naha” نهى ist das Verb und bedeutet “verbieten”.

Fachspezifische Definition von an-nahi
Fachspezifisch versteht man unter an-nahi folgendes:

هو القول الطالب للترك، بلا علو، ولا استعلاء.

an-nahyu huwal-qauluttalibu lit-tarki, bila ‘uluwwin, wala sti’laaء

Es ist der Ausdruck, mit dem zur Unterlassung einer Handlung aufgefordert wird, unabhängig davon, ob dieser Ausdruck von einem Vorgesetzten stammt oder auf überhebliche Art und Weise erfolgt.

B) Die grammatikalische Form von an-nahi

Die grammatikalische Form, die auf an-nahi im Arabischen hinweist, ist eine der folgenden Formen:

– die Gegenwartsform des Verbs (Präsens) mit la an-naahiyah لا الناهية (la für das Verbieten), wie la taf’al لا تفعل (du, nicht tun! bzw. du darfst nicht tun!) wie in den Aayaat (6:151-153, 17:31-34). Diese Form nennt man inschaa’إنشاء .

– Nomen verbunden mit la an-naafiyah لا النافية (la für die Verneinung), wie in der Aayah (2:197) “فَلَا رَفَثَ وَلَا فُسُوقَ وَلَا جِدَالَ فِي الْحَجِّ: so gibt es weder Intimitäten noch Übertretung, noch Streitigkeit während der Haddsch-Vollziehung”. Diese Form nennt man chabar خبر.

– das Verbalnomen in der Bedeutung des Verbietens (ismul-fi’l اسم الفعل wie sahin صه in der Bedeutung “schweig” und mahin مه in der Bedeutung “tue es nicht”).

– Verwendung von Verben, die ein Verbot ausdrücken, naha نهى (hat verboten), harram حرم (hat für haraam erklärt), idschtanib اجتنب (meide), dhar ذر (unterlasse), usw.

Diese Formen von an-nahi weisen auf verschiedene andere Bedeutungen hin, u. a. auf:

at-tahriim التحريم (das Verbieten/ die Darf-Nicht-Kategorie)

Ÿوَلَا تَقۡرَبُواْ ٱلزِّنَىٰٓۖ إِنَّهُۥ كَانَ فَٰحِشَةٗ وَسَآءَ سَبِيلٗا ٣٢

Auch nähert euch nicht der Unzucht! Sie ist zweifelsohne eine schändliche Tat und erbärmlich ist dieser Weg! 20

al-karaahah الكراهة (das Verpönt-Sein/ die Soll-nicht-Kategorie)

Der Gesandte Muhammad (sallal-laahu ‘alaihi wa sallam) sagte:

إِذَا بَالَ أَحَدُكُمْ فَلَا يَأْخُذَنَّ ذَكَرَهُ بِيَمِينِهِ.

“Wenn jemand von euch uriniert, dann soll er sein Glied nicht mit der rechten Hand festhalten.” (B, M)

ad-du’aa’ الدعاء (das Bittgebet)

رَبَّنَا لَا تُزِغۡ قُلُوبَنَا بَعۡدَ إِذۡ هَدَيۡتَنَا وَهَبۡ لَنَا مِن لَّدُنكَ رَحۡمَةًۚ إِنَّكَ أَنتَ ٱلۡوَهَّابُ ٨

(Sie sagen auch:) Unser Herr! Lasse in unseren Herzen keine Falschheit entstehen, nachdem Du uns rechtgeleitet hast, und schenke uns von Dir aus Gnade! Gewiss, Du bist der großzügigste Schenker! 21

al-irschaad الإرشاد (das Empfehlen)

يَٰٓأَيُّهَا ٱلَّذِينَ ءَامَنُواْ لَا تَسۡ‍َٔلُواْ عَنۡ أَشۡيَآءَ إِن تُبۡدَ لَكُمۡ تَسُؤۡكُمۡ وَ

Ihr, die den Iimaan verinnerlicht habt! Fragt nicht nach Dingen, die, wenn sie euch verdeutlicht würden, euch unangenehm wären. 22

al-ihtiqaar الإحتقار (die Verachtung)

Ÿلَا تَمُدَّنَّ عَيۡنَيۡكَ إِلَىٰ مَا مَتَّعۡنَا بِهِۦٓ أَزۡوَٰجٗا مِّنۡهُمۡ

Richte deine Augen nicht auf das, was Wir manchen von ihnen an vergänglichen Verbrauchsgütern zur Verfügung stellten. 23

Denn dies ist verächtlich verglichen mit dem, was Allaah (ta’aala) hat.

al-ya’s اليأس (die Verzweiflung)

يَٰٓأَيُّهَا ٱلَّذِينَ كَفَرُواْ لَا تَعۡتَذِرُواْ ٱلۡيَوۡمَۖ إِنَّمَا تُجۡزَوۡنَ مَا كُنتُمۡ تَعۡمَلُونَ ٧

Ihr, die leugneten! Entschuldigt euch heute nicht! Euch wird nur vergolten, was ihr zu tun pflegtet. 24

Denn eure Entschuldigung, hättet ihr sie geäußert, wird in keiner Weise angenommen.

bayaanul-‘aaqibah بيان العاقبة (das Aufzeigen des Endes)

Ÿوَلَا تَحۡسَبَنَّ ٱلَّذِينَ قُتِلُواْ فِي سَبِيلِ ٱللَّهِ أَمۡوَٰتَۢاۚ بَلۡ أَحۡيَآءٌ عِندَ رَبِّهِمۡ يُرۡزَقُونَ ١٦٩

Denkt nicht, dass diejenigen, die auf Allaahs Weg getötet wurden, Tote seien. Nein, sondern Lebendige sind sie! Bei ihrem Herrn werden ihnen Gaben gewährt. 25

C) Typen von an-nahi

an-nahi betrifft entweder eine bestimmte Person bzw. eine spezifische Handlung bzw. Sache oder mehrere Personen bzw. Dinge oder Handlungen:

  • Ein Verbot (nahi), das etwas Spezifisches bzw. eine einzige Handlung oder Angelegenheit betrifft, erfordert unweigerlich seine bzw. ihre Unterlassung.
  • Ein Verbot (nahi), das gleichzeitig verschiedene Handlungen betrifft, hat zwei verschiede Möglichkeiten:
    – entweder das Verbot, all diese Handlungen gleichzeitig zu vollziehen, obwohl sie einzeln erlaubt sind, wie das Heiraten von zwei Schwestern gleichzeitig: diese Ehe ist verboten, obwohl das Heiraten von jeder Schwester alleine erlaubt ist.
    – oder das Verbot, all diese Handlungen gleichzeitig zu vollziehen, wobei ihre Durchführung auch einzeln verboten ist, wie das Verbot von Diebstahl, zina und Alkohol-Trinken. Diebstahl, zina und Alkohol sind gemeinsam, aber auch einzeln verboten.

D) Verschiedene Aspekte zu an-nahi

  • an-nahi-Form ist nach der Mehrheit der Gelehrten haqiiqah (Bedeutung im ursprünglich wörtlichen Sinne) nur in der Darf-Nicht-Kategorie (at-tahriim). In allen anderen Kategorien ist sie madschaaz.

وَمَآ ءَاتَىٰكُمُ ٱلرَّسُولُ فَخُذُوهُ وَمَا نَهَىٰكُمۡ عَنۡهُ فَٱنتَهُواْۚ

Was der Gesandte euch gab, so nehmt es! Und was er euch verbot, so lasst davon ab! 26

Hier wird den Muslimen geboten, durch al-amr alles zu unterlassen, was der Gesandte (sallal-laahu ‘alaihi wa sallam) ihnen verboten hat, so ist diese Aufforderung zur Unterlassung eine Muss-Handlung.

  • an-nahi bedeutet das Vollziehen vom Gegenteil dessen, zu dessen Unterlassung aufgefordert wird.
  • an-nahi nach al-amr, d. h. wenn etwas verboten wird, nachdem es geboten war, dann weist es auf eine Darf-Nicht-Handlung hin.
  • an-nahi nach der Bitte um Erlaubnis zum Vollziehen einer Handlung weist ebenfalls auf eine Darf-Nicht-Handlung hin.
  • an-nahi weist im Gegensatz zum al-amr auf die Aufforderung zu sofortiger Unterlassung der verbotenen Handlung und auf die Wiederholung der Unterlassung hin, es sei denn, es gibt eine eindeutige Einschränkung dieser Unterlassung.
  • Wenn an-nahi eine rituelle Handlung (‘ibaadah) betrifft, dann widerspricht der Vollzug dieser Handlung der Scharii’ah, d. h., sie ist faasid.
    Beispiel: Das rituelle Gebet der Wöchnerin.
  • Wenn an-nahi eine vertragliche Vereinbarung (mu’aamalah معاملة) betrifft, dann ist der Vollzug dieser mu’aamalah faasid, es sei denn, an-nahi bezieht sich auf etwas, das nicht zum Wesen dieser mu’aamalah selbst gehört. (Nach Imaam Ahmad weist an-nahi immer auf fasaad فساد hin.)
    Beispiel: “Das Verbot während des Freitagsgebet, etwas zu verkaufen”.
    Sinn des Verbots ist, das Freitagsgebet nicht zu verpassen, und nicht weil das Verkaufen an sich verboten wäre.

Notes:

  1. Quraan (3:159)
  2. Quraan (11:97)
  3. Siehe dazu die ’Aqiidah-Schulen im Band 2 der Islamologischen Enzyklopädie.
  4. Siehe Band 2 der Islamologischen Enzyklopädie Al-’aqiidah-Einführung in die Iimaan-Inhalte
  5. Quraan (2:43)
  6. Mukaatabah war eine Vereinbarung zwischen dem Herrn und seinem Sklaven zur Freilassung.
  7. Quraan (24-33)
  8. Quraan (2:282)
  9. Quraan (15:46)
  10. Quraan (41:40)
  11. Quraan (14:30)
  12. Quraan (44:47-49)
  13. Ursprünglich: „Attaiyibaat“. Es sind Speisen, die für den normalen Geschmack genießbar sind und weder durch den Quraan, noch durch die Sunnah, idschmaa’ (Konsens) oder qiyaas (Analogie­schluss) als haraam eingestuft werden.
  14. Quraan (23:51)
  15. Quraan (7:12)
  16. Quraan (62:9-10)
  17. Dschunub bezeichnet eine Person im „Zustand des Nichtvorhandenseins der rituellen Reinheit“. In diesen Zustand kommt man durch den Geschlechtsakt oder einen Samenerguss.
  18. Quraan (5:6)
  19. Die Themen von an-nawaahi ähneln denen von al-amr, deshalb wird auf diese Bezug genommen.
  20. Quraan (17:32)
  21. Quraan (3:8)
  22. Quraan (5:101)
  23. Quraan (15:88)
  24. Quraan (66:7)
  25. Quraan (3:169)
  26. Quraan (59:7)