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Semantik des Quraan / adh-dhaahir und al-muauwal الظاهر والمؤول : Der Ausdruck mit einer der Höchstwahrscheinlichkeit nach präferierten Bedeutung und der Ausdruck mit einer der Wenigerwahrscheinlichkeit nach präferierten Bedeutung


I) adhdhaahir الظاهر: Der Ausdruck mit einer der Höchstwahrscheinlichkeit nach präferierten Bedeutung

A) Begriffsbestimmung von adhdhaahir الظاهر

Linguistisch bedeutet adhdhaahir “das Deutliche, das keiner Erläuterung bedarf”.
Fachspezifisch versteht man darunter jeden Ausdruck, der auf seine Bedeutung nur in höchstwahrscheinlicher Form (dhanni-Form) hinweist, wobei eine andere Bedeutung möglich sein kann.

Imaam Al-ghazaaliy definierte adhdhaahir als Ausdruck, der zwischen zwei Bedeutungen schwankt, wobei er bei einer von ihnen deutlicher zum Tragen kommt.

B) Beispiele von adhdhaahir الظاهر

– “Löwe” weist nach der Sprache auf das Tier hin, doch es kann nicht ausgeschlossen werden, dass mit diesem Wort “der tapfere Mann” gemeint sein kann.

– “al-ghaait الغائط” bedeutet umgangssprachlich “Exkremente” und ursprünglich wörtlich “der tiefe Ort”. Die wahrscheinlichere Bedeutung ist die Umgangssprachliche.

adhdhaahir wird als Beleg bei Scharii’ah-Geboten berücksichtigt.

II) al-muauwal المُؤَوّل: Der Ausdruck mit einer der Wenigerwahrscheinlichkeit nach präferierten Bedeutung

A) Begriffsbestimmung al-muauwal المُؤَوّل

Linguistisch ist al-muauwal المُؤَوّل das Partizip Passiv der Vergangenheit von au-wala أوّلَ au-wala bedeutet “etwas zum Anfang zurückbringen, zurückkommen” und stammt von “aala آلَ“. aala bedeutet “zurückkehren, zurückkommen”.
Fachspezifisch ist al-muauwal ein dhaahir-Ausdruck, bei dem nicht die höchstwahrscheinlichere Bedeutung präferiert wurde.

Die Präferierung einer weniger wahrscheinlicheren Bedeutung eines mehrdeutigen dhanni-Ausdrucks heißt at-tawiil التأويل.

B) Typen von at-tawiil التأويل

  • In Bezug auf “die Konformität mit der Scharii’ah oder nicht” wird at-tawiil eingeteilt in:
    at-tawiilus-sahiih التأويل الصحيح (sahiih bedeutet “richtig”)Darunter versteht man den Typ von at-tawiil, der mit einem authentischen Scharii’ah-Beleg belegt wird.- at-tawiilul-faasid التأويل الفاسد (faasid bedeutet “verdorben”)
    Darunter versteht man den Typ von at-tawiil, der mit einem Scharii’ah-Beleg belegt wird, der nach Meinung des Praktizierenden von at-tawiil ein Beleg sei, obwohl dies tatsächlich nicht der Fall ist.
    Beispiel:
    Das rituelle Gebet desjenigen, welcher der festen Überzeugung ist, dass er alle Modalitäten des rituellen Gebets berücksichtigt hat, gilt für ihn als sahiih (scharii’ah-konform), obwohl sein Gebet in der Tat nicht als sahiih zu bewerten ist.- at-tawiilul-baatil التأويل الباطل (baatil bedeutet “nichtig”)
    Darunter versteht man den Typ von at-tawiil, der ohne Scharii’ah-Beleg erfolgt.
  • In Bezug auf die Art der Belege wird at-tawiil eingeteilt in:
    at-ta’wiilul-qariib التأويل القريب (qariib قريب bedeutet “naheliegend”)
    Darunter versteht man den Typ von at-tawiil, bei dem die präferierte Bedeutung naheliegend ist und durch einen einfachen Scharii’ah-Beleg erkannt wird.- at-tawiilul-ba’iid التأويل البعيد (ba’iid بعيد bedeutet “weit hergeholt”)
    Darunter versteht man den Typ von at-tawiil, bei dem die präferierte Bedeutung weit hergeholt ist und nur durch einen komplizierten Scharii’ah-Beleg erkannt wird.

C) Anwendung von at-ta’wiil

at-ta’wiil ist zulässig sowohl bei den Scharii’ah-Geboten, d. h. bei allen praxisbezogen Angelegenheiten, als auch in der ‘Aqiidah.
at-ta’wiil bezüglich der Scharii’ah-Gebote ist im Gegensatz zu at-ta’wiil in ‘Aqiidah nicht umstritten.
In der ‘Aqiidah wird at-ta’wiil insbesondere bei den Texten angewendet, welche die Attribute von Allaah (ta’aala) beschreiben.

Beispiel:
In Bezug auf die Ausdrücke yadul-laah يد الله, wadsch-hul-laah وجه الله etc.), vertreten die Gelehrten folgende unterschiedliche Meinungen:

  • Eine Gruppe der Gelehrten lässt diese Texte ohne ta’wiil bzw. Interpretation, jedoch unter Ausschluss jeglicher Art von Ähnlichkeiten mit dem Geschaffenen sowie unter Ausschluss jeglicher Vermenschlichung. Zu dieser Gruppe gehören die Sahaabah und die ersten Muslime, da es bei ihnen keinen Bedarf gab, sich mit solchen Texten sprachlich auseinanderzusetzen.
  • Eine andere Gruppe der Gelehrten praktiziert ta’wiil mit diesen Texten unter Berücksichtigung der eindeutigen Aussagen und Grundlagen der ‘Aqiidah, der Vollkommenheit Allaahs und der Bedingungen von at-tawiilussahiih التأويل الصحيح.
    Sie argumentieren damit, dass es idschmaa’ (Konsens) unter allen islamischen Gelehrten über die Anwendung von ta’wiil bei bestimmten Texten gab und immer noch gibt. So kann at-ta’wiil bei ähnlichen Texten, wenn dies notwendig ist, auch genau so praktiziert werden.
    Im deutschsprachigen Raum und aufgrund der Übertragung dieser Texte in die deutsche Sprache ist es unbedingt notwendig, bei diesen Texten ta’wiil anzuwenden, um keine Vermenschlichung oder Verkörperung von Allaahs Attributen hervorzurufen. Erst nach Anwendung von ta’wiil bei diesen Texten und Feststellung einer ‘aqiidah-konformen Bedeutung sollten sie ins Deutsche übertragen werden.
    Eine so genannte wortwörtliche Übertragung der Bedeutung solcher Texte ins Deutsche, wie dies die so genannten Salafiten und ihre deutschen Ableger verlangen, ist unmöglich und deshalb falsch.
    Diese kleine Randgruppe von Muslimen vertritt die Meinung, dass diese Attribute Allaahs unbedingt übersetzt werden müssten und zwar im ursprünglich wörtlichen Sinne der Ausdrücke, d. h. entsprechend der haqiiqah-Bedeutung, und nicht interpretiert bzw. mit ta’wiil belegt werden dürften.
    Diese Meinung ist in Bezug auf die Nicht-Interpretation richtig, da die Attribute Allaahs zu den dem Menschen verborgenen Dingen gehören, welche dieser nur so verstehen und annehmen darf, wie sie ihm durch den Quraan und die Sunnah überliefert wurden. Diese Haltung entspricht auch der Ansicht von Ahlus-sunnah wal-dschamaa’ah 1.
    Was jedoch die Forderung nach einer wörtlichen Übersetzung dieser Attribute angeht, so ist dies entschieden zurückzuweisen. In diesem Zusammenhang stellt sich folgende Frage: Ist die Forderung nach Übersetzung der o. g. gewünschten haqiiqah-Bedeutung ins Deutsche, islamisch zu verantworten; und welche Bedeutung haben diese Attribute im ursprünglich wörtlichen Sinne in Bezug auf Allaah (ta’aala) auf Arabisch?
    Im Quraan wird an mehreren Stellen z. B. der Begriff “yadd” verwendet. Die deutschsprachigen so genannten Salafiten beharren darauf, diesen Begriff ausnahmslos mit dem deutschen Wort “Hand” zu übersetzen, da sie behaupten, dass dies die ursprünglich wörtliche bzw. wortwörtliche Bedeutung (haqiiqah-Bedeutung) von “yadd” sei.Eine einfache Überprüfung dieser Behauptung mittels eines Standardwörterbuchs führt jedoch zu einem anderen Ergebnis:
    Richtig ist, dass “yadd” im Arabischen sowohl Bedeutungen im ursprünglich wörtlichen Sinne (haqiiqah-Bedeutung) als auch im übertragenen Sinne (madschaaz-Bedeutung) hat. Die Bedeutungen im wörtlichen Sinne hängen jedoch vom betroffenen Objekt ab. “yadd” ist ein Polysem und lautet ursprünglich als Singular “yadi-yun يَدْيٌ“; der Plural davon ist “aydin أيْدٍ” und “yudi-yun يُدِيٌ“; Plural des Plurals lautet “ayaadin أيادٍ“. Die Verkleinerungsform davon ist “yudaiyah يُدَيَّـة“.Beispiele für die Bedeutung von yadd im wörtlichen Sinne (haqiiqah) mit der passenden deutschen Übersetzung: in Bezug auf
    – den Menschen (yadul-insaan) heißt yaddkaff كف” also “Hand” oder “dhiraa’ذراع ” “Arm”,
    – den Schießbogen (yadul-qausيد القوس ) ist yadd “der obere Teil des Bogens”,
    – das Schwert (yadus-saif يد السيف) ist yadd der “Griff/ Knauf”,
    – die Steinmühle (yadur-raha يد الرحى ) ist yadd “der Stock zum Drehen des Steins”,
    – die Axt (yadul-faءs يد الفأس) ist yadd der “Stiel/Schaft”,
    – den Vogel (yaduttaa-ir يد الطائر) ist yadd der “Flügel”,
    – das Kleid (yaduth-thaub يد الثوب) ist yadd der “Ärmel”Beispiele für die Bedeutung von yadd im metaphorischen Sinne (madschaaz-Bedeutung) mit der passenden deutschen Übersetzung:
    – “taribat yadaah تربت يداه” bedeutet “er gewann bzw. soll gewinnen”;
    – “lahu ‘alaiya yadun له عليَّ يَدٌ” bedeutet “er tat mir einen Gefallen bzw. er gewährte mir Gaben”;
    – “a’taituhu ‘an dhahri yadin أعطيته عن ظهر يد” bedeutet: ich schenkte es ihm;
    – “haadha fi yadi هذا في يدي” bedeutet “dies gehört mir”;
    – “baa-ya’tuhu yadan bi-yadin بايعته يداً بيد” bedeutet “ich kaufte es von ihm gegen Bar”;
    – “naza’a yadahu ‘anittaa’ah نزع يده عن الطاعة” bedeutet “er ist nicht mehr gehorsam”;
    – “ay-yadahul-laahu أيده الله” bedeutet “er stärkte ihn”, so bedeutet yadd “Macht, Stärke”;
    – “ma li bifulaanin yadaan ما لي بفلان يَدان” bedeutet “ich bin ihm gegenüber machtlos”;
    – “hum yadun ‘alaihi هم يَدٌ عليه” bedeutet: “sie treten gemeinsam gegen ihn auf”;
    – “al-yadul-‘uliya chairun minal-yadis-sufla اليَدُ العُلْيا خَيْرٌ من اليَدِ السُّفْلى” bedeutet “der Spender ist besser als der Bettler”;
    – “fulaanun tawiilul-yad فلان طَوِيلُ اليَد” bedeutet “dieser Mensch ist großzügig”;
    – “tab-bat yadaahu تبت يداه” bedeutet “er möge verlieren; er ist dem Niedergang geweiht”;
    – “suqita fi yadihi سُقِط في يده” bedeutet “er bereut es”;
    – “baina yadaihi بين يَدَيْهِ” bedeutet “vor ihm”; 2
    Nach dieser ausführlichen Darstellung der wortwörtlichen und metaphorischen Bedeutungen von yadd lautet die Frage nun:
    Welche Bedeutung hat der Ausdruck “yadul-laah“?
    Die wortwörtliche Bedeutung von yadd in Bezug auf Allaah (ta’aala) ist unbekannt, da dies das Wissen über Sein Wesen erfordert, was wiederum keinem Menschen zugänglich ist.
    Aber auch die Verwendung der metaphorischen Bedeutung für yadd in Bezug auf die Attribute Allaahs hat die Qualität einer Spekulation, und bekanntlich darf man über die Attribute von Allaah (ta’aala) nicht spekulieren.
    Die Antwort müsste sodann lauten, dass der Ausdruck “yadul-laah” weder wörtlich noch metaphorisch übersetzbar ist.
    Allerdings stellt sich dann die Frage nach dem Sinn solcher Sätze, deren Bedeutungen keinem Menschen bekannt sein können, oder anders formuliert: Kann es sein, dass Allaah (ta’aala) den Menschen mit etwas anspricht, dessen Bedeutung ihm verborgen bleibt?
    Die Antwort von Ahlus-sunnah wal-dschamaa’ah darauf war einfach: Da uns die wortwörtliche Bedeutung verborgen ist, bleibt uns darunter nur das zu verstehen, was die Sprache im jeweiligen Kontext erfordert (laazimul-ma’na لازم المعنى), so versteht man z. B. unter “yadul-laahi ‘alal-dschama’ah يَدُ اللهِ عَلى الجَمَاعَة” “Allaahs Schutz gilt der Gemeinschaft”, dies ist tawiil und ist konform mit der Sprache und mit den Grundsätzen der Islamologie.
    Die Forderung der so genannten Salafiten nach einer Standardübersetzung des Ausdrucks “yadul-laah” als “Allaahs Hand” wäre eine eindeutige Bestimmung der Bedeutung von yadd in Bezug auf Allaah (ta’aala) und zwar analog zum menschlichen Körperglied. Damit käme es aber zu einer Vermenschlichung und Verkörperlichung der Attribute Allaahs, was echte Salafiten wie Ahlus-sunnah wal-dschamaa’ah vermeiden wollen und immer vermieden haben. Mit ihrem Beharren auf der Übersetzung “yadd = Hand” erreichen die deutschsprachigen Möchtegern-Salafiten folglich genau das Gegenteil dessen, was sie vorgeben, verhindern zu wollen, nämlich die genaue Bestimmung der Attribute Allaahs, die aber durch den Menschen nicht bestimmbar sind.
    Die Ursache für diesen offensichtlichen Widerspruch und das Auseinanderklaffen zwischen Anspruch und Wirklichkeit und die Ungereimtheiten in den Äußerungen dieser muslimischen Randgruppe sind mangelnde islamologische Qualifikation auf allen relevanten Fachgebieten und fehlende Sach- und vor allem Sprachkenntnisse. Diese so genannten Salafiten führen mit ihrer offensichtlich mangelnden Qualifikation und unter Missachtung wichtigster Grundsätze und Regeln der Islamologie und ihrer Terminologie einen fachspezifischen Diskurs auf Deutsch, der aufgrund der sprachlichen Besonderheiten auf diese Weise ausschließlich nur auf Arabisch geführt werden kann und darf.

D) Bedingungen von at-tawiilussahiih

ta’wiil muss mit der arabischen Sprache oder mit al-‘urf konform sein.

– Es muss ein Beleg für die auf den Ausdruck übertragene Bedeutung vorliegen. Ohne Beleg ist at-ta’wiil zurückzuweisen.

– Sollte der Beleg für die auf den Ausdruck übertragene Bedeutung durch Analogieschluss (qiyaas) zustande kommen, muss dieser eindeutig sein.

at-ta’wiil darf den höchstwahrscheinlichen Inhalt (dhaahir-Bedeutung) des Textes nicht annullieren.

Beispiel: “Für je 40 Schafe ist ein Schaf als Zakaah abzugeben”

Die Hanafiten erlauben die Abgabe des Wertes eines Schafs. Dies führt dazu, dass der o. g. Text nicht mehr beachtet wird und als ob er nicht mehr existieren würde.

Notes:

  1. ahlus-sunnah wal-dschamaa’ah أهل السنة والجماعة ist eine Bezeichnung für die Aschaa’irah und Maatuuriidiyyah. Diese sind die Anhänger jener ’Aqiidah-Schulen, die auf der Basis des Quraan und der Sunnah und dann der menschlichen Vernunft unter Berücksichtigung verbreiteter wissen­schaftlicher Begriffe anderer Disziplinen die Iimaan-Inhalte und insbesondere die Attribute Allaahs artikulieren. Diese beiden Schulen waren die Antwort auf die Randgruppe der Mu’tazilah, die diese Inhalte in erster Linie auf der Basis der menschlichen Vernunft verstehen wollten. Die absolute Mehrheit der Muslime gehört heute zu diesen beiden Schulen, nämlich die Anhänger der schaafi’itischen, maalikitischen und viele der hanbalitischen Schule zu den Aschaa’irah und die der hanafitischen Schule zu den Maatuuriidiyyah. Zu den Mu’tazilah zählen heute insbesondere viele Schi’iten.
  2. Weitere Beispiele siehe Lexikon „lisaanul-’arab“.