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Die Milchverwandtschaft


Das Stillen von Säuglingen und Kleinkindern hat neben der Zufuhr von Nahrung und der damit verbundenen körperlichen Nähe und Zuwendung auch weitreichende Folgen im Bereich der zwischenmenschlichen Be-ziehungen. Der Islam trägt dieser Tatsache Rechnung und hat Regeln erlassen für diese besondere Beziehung. Eine der wichtigsten Folgen ist die Entstehung einer Verwandtschaft aufgrund der Versorgung mit der lebensnotwendigen Muttermilch. Diese Verwandtschaft steht zwar nicht auf der gleichen Ebene wie eine Blutverwandtschaft, hat jedoch Auswirkungen, die in vielen Fällen mit denen der Blutverwandtschaft vergleichbar sind.

Bedingungen zur Entstehung der Milchverwandtschaft

Damit eine scharii’ah-konforme Milchverwandtschaft entstehen kann, müssen folgende Bedingungen erfüllt werden:

  • Die Milch muss von einer Frau 1 stammen. Die Hanbaliten verlangen, dass die Milch aufgrund einer Schwangerschaft produziert wird.
  • Die Milch muss durch den Mund bzw. durch die Nase in den Magen des Kindes gelangen, unabhängig davon, ob dies durch Saugen an der Brust, durch ein Fläschchen, eine Sonde oder auf andere Art erfolgt.
  • Nach der Hanafiitischen und Maalikiitischen-Schule darf die Milch nicht mit einer anderen Flüssigkeit so vermischt werden, dass der Anteil der Muttermilch unter 50% gerät. Nach Imaam Abu-haniifah wird jegliche Art vermischter Muttermilch nicht berücksichtigt.
    Erfolgt die Vermischung mit der Milch einer anderen Frau, dann entsteht die Milchverwandtschaft zu beiden Frauen. Imaam Abu-haniifah erkennt die Milchverwandtschaft nur mit der Frau an, die den höheren Mischungsanteil hat.
    Heutzutage gibt es sog. Muttermilchbanken, in denen Muttermilch gesammelt und anonym weitergegeben wird. Diese Banken wurden von den zeitgenössischen Fiqh-Gelehrten als Haraam eingestuft. 2
  • Das gestillte Kind darf nicht älter als zwei Lunarjahre 3 sein. Alle Fiqh-Schulen berufen sich hierbei auf die beiden Aayaat:

وَفِصَٰلُهُۥ فِي عَامَيۡنِ

(..) und seine Entwöhnung erfolgt in zwei Jahren. 4

وَحَمۡلُهُۥ وَفِصَٰلُهُۥ ثَلَٰثُونَ شَهۡرًاۚ

Die Zeit der Schwangerschaft mit ihm und sein Entwöhnen zählen dreißig Monate. 5

  • Das Kind muss nach den Schaafi’iten und den Hanbaliten mindestens fünf Mal 6 mit der gleichen Muttermilch gestillt worden sein. Sie berufen sich hinsichtlich der Anzahl auf ein Hadiith von ‘Aischah (radial-laahu ‘anha), wonach anfangs noch von zehnmaligem Stillen zur Begründung einer Milchverwandtschaft die Rede war, das jedoch noch vor Ableben des Gesandten (sallal-laahu ‘alaihi wa sallam) abrogiert und auf fünf-maliges Stillen reduziert wurde. Die Hanafiten und die Maalikiten verlangen zur Begründung der Milchverwandtschaft nur ein einmaliges Stillen, weil sie folgende Aayah

وَأُمَّهَٰتُكُمُ ٱلَّٰتِيٓ أَرۡضَعۡنَكُمۡ

(..) eure Ammen, die euch gestillt haben. 7

als allgemein verfasst und ohne nähere Spezifizierung verstehen, wo-raus folgt, dass auch ein einmaliges Stillen angenommen werden kann.

Auswirkungen der Milchverwandtschaft

Nach der Begründung der Milchverwandtschaft gilt die Amme als Milchmutter und ihr Ehemann, von dem ihr eigenes Stillkind stammt, als Milchvater des gestillten fremden Kindes, was folgende Konsequenzen hat:

  • Verbot der Heirat: Das gestillte Kind hat in Sachen ‘Aurah, Verlobung, Ehe, Chalwah 8 und Mahram-Sein den gleichen Status wie das leibliche Kind der Milcheltern. Die leiblichen Kinder 9 der Milchmutter werden seine Milchgeschwister. Das Stillen begründet keinerlei Verwandtschaft zwischen der Milchfamilie (Milchmutter, Milchvater, Milchgeschwister und allen ihren Blutverwandten) und den Blutverwandten des gestillten Kindes. Davon ausgenommen ist seine eigene Nachkommenschaft.
  • Die Milchverwandtschaft begründet keine Unterhaltsverpflichtung, keinen Erbschaftsanspruch und keine Einschränkung des Zeugnisses vor Gericht zwischen den Milchverwandten.

Nachweis einer Milchverwandtschaft

Der Nachweis einer Milchverwandtschaft erfolgt über zwei Wege, durch Anerkenntnis (Al-iqraar الإقرار) und Al-bay-yinah البينة.

Die Anerkenntnis

Die Zulässigkeit der Anerkenntnis zum Nachweis einer Milchverwandtschaft ist in allen Schulen begründet. Diese kann jedoch widerrufen werden, wenn die anerkennende Person sie nicht bezeugen ließ.

  • Wenn ein Mann und eine Frau gemeinsam oder einzeln ihre Milchverwandtschaft vor der Eheschließung anerkennen, dann entsteht für sie ein uneingeschräktes Verbot für eine gemeinsame Ehe.
  • Erfolgt die Anerkenntnis beider Personen nach der Eheschließung, wird diese Ehe (gegebenenfalls richterlich) annulliert. Der Frau steht jedoch die vereinbarte Brautgabe bzw. Mahrul-mithl zu.
  • Erfolgt die Anerkenntnis nach der Eheschließung, einseitig durch den Mann, wird die Ehe annulliert und der Frau steht die vereinbarte Braut-gabe zu und sie hat Anspruch auf Unterhalt und Wohnung während der ‘Iddah-Zeit.
  • Erfolgt die Anerkenntnis in der Ehe allein und einseitig durch die Frau, ohne Bestätigung des Ehemanns, beeinträchtigt dies die Ehe nicht.

Die Bezeugung vor dem Richter

Konsens besteht unter allen Fiqh-Schulen, dass die Bezeugung von zwei männlichen Zeugen oder von einem männlichen Zeugen und zwei Zeuginnen eine Milchverwandtschaft belegt.
Die Schaafi’iten akzeptieren auch die Bezeugung von vier Frauen.
Die Maalikiten lassen auch einen Mann und eine Frau bei öffentlich bekannter Milchverwandtschaft zu.

 

Notes:

  1. „Von einer lebenden Frau“ nach den Schaafi’iten.
  2. Internationaler Fiqh-Rat der OIC (Organisation der Islamischen Konferenz).
  3. Die Dhaahiriten sehen von dieser Bedingung ab, da der Gesandte (sallal-laahu ’alaihi wa sallam) die Milchverwandtschaft für ein älteres Kind anerkannte. Imaam Maalik legt das Alter bei 26 und Imaam Abu-haniifah bei 30 Mondmonaten für Kinder fest, die noch nicht entwöhnt wurden.
  4. Quraan (31:14)
  5. Quraan (46:15)
  6. Sollte das Kind während des Stillens eine kleine Pause einlegen bzw. die Brust wechseln, dann gilt diese gesamte Stillzeit als Einmal-Stillzeit.
  7. Quraan (4:23)
  8. Siehe dazu Chalwah
  9. Dabei spielt es keine Rolle, ob diese leiblichen Kinder aus der gemeinsamen Ehe oder aus einer anderen Ehe kommen.