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Exkurse: Sunniten und Schiiten (ahlus-sunnah versus asch-schii’ah)


In der Realität trennten sich in der Person von Al-hasan (radial-laahu ‘anh) zum ersten Mal die Wege der tatsächlichen Chilaafah und des von Schiiten konstatierten Imamats. Dennoch bestand nach späterer schiitischer Sicht der Anspruch bzw. die Rechtmäßigkeit der Chilaafah von Al-hasan bis zu seinem Tode fort, unabhängig davon, dass er auf die tatsächliche Machtausübung verzichtete 1.
Die Überlieferungen des Herrschaftsverzichts werden überdies von den späteren schiitischen Quellen nicht als echt anerkannt, und sein Tod wird mit einem angeblich erfolgreichen Giftanschlag seitens Mu’aawiyahs als Beleg dafür angeführt, dass er weiterhin Ambitionen auf die praktische Chilaafah gehabt habe.
Die Schiiten interpretieren Hadiithe des Gesandten (sallal-laahu ‘alaihi wa sallam) und behaupten danach, dass er ‘Aliy zu seinem Nachfolger bestimmte.
Die treuesten Anhänger von ‘Aliy waren – neben den Ansaar – die in der Lagerstadt von Kufah angesiedelten Stammeskrieger, die in geschlossenen Verbänden unter ihren eigenen Anführern kämpften. Aus diesem Grunde hatte ‘Aliy auch die Hauptstadt zu seiner Chilaafah-Zeit dorthin verlegt, während die meisten Angehörigen seiner Familie weiterhin in Al-madiinah blieben.

Nach Al-hasans Verzicht auf die Chilaafah regierten syrische Statthalter im Irak. In Kufah schlug ihnen jedoch offener Widerstand entgegen. Im Jahr 51/671 ließ der Chaliifah Mu’aawiyah deshalb einige Wortführer der Stammeskrieger verhaften, nach Damaskus bringen und dort öffentlich hinrichten. Zum Aufstand kam es dennoch, als Mu’aawiyah seinen Sohn Yaziid als Nachfolger einsetzte und damit de facto eine erbliche Dynastie schaffen wollte.

Als ‘Aliy (radial-laahu ‘anh) starb, war Al-husain (radial-laahu ‘anh) 34 Jahre alt und lebte in Al-madiinah. Um Yaziid nicht durch die Bai’ah anerkennen zu müssen, wich er nach Makkah aus, das nach wie vor als unantastbares Asyl galt. Von dort aus nahm er heimlich Verbindung zur anti-umayyadischen Opposition in Kufah auf. Diese luden ihn eigens ein und machten ihm Hoffnung, sich – mit ihm an der Spitze – am Widerstand zu beteiligen. So brach er im Dhul-hiddschah 60/September 680 mit etwa 50 weiteren Personen in den Irak auf.
Unterwegs erreichte ihn die Nachricht, dass die Gegner der Umayyaden in Kufah die Hoffnung aufgegeben hätten, und ungefähr zeitgleich wurde ihm der Weg von einer Reitertruppe der Umayyaden versperrt, die ihn an einem Weiterzug nach Kufah genauso wie an einer Rückkehr nach Al-madiinah bzw. Makkah hinderten. Nach verschiedenen Tradierungen soll sich der Reiterkommandant geweigert haben, Al-husain direkt anzugreifen oder zu verhaften. So hatte sich Al-husain offen gegen die Regierung von Yaziid gestellt, aber konnte sich dennoch keine Hoffnung mehr auf einen Sieg machen. So zog er mit vereinzelten Reitern aus Kufah, die sich ihm anschlossen, weiter in Richtung Norden, den Euphrat hinauf, während die Regierungstruppen sie beschatteten und verfolgten. Der Statthalter von Kufah forderte ihn auf, Yaziid als rechtmäßigem Chaliifah Folge zu leisten, was er verweigerte. Darauf schnitten die vielfach überzähligen Regierungstruppen ihn und seine Schar vom Fluss und dem Trinkwasser ab und belagerten sie. So kam es in der Ebene von Karbalaa’ am 10. Muharram 61/10.10.680 zur letzten Schlacht, in der alle Männer einschließlich Al-husain getötet wurden. Der Statthalter von Kufah, ‘Ubaidul-laah Bnu-ziyaad, war auch anderweitig durch unverhältnismäßige Grausamkeit aufgefallen und pflegte jeglichen Widerstand gegen die umayyadische Herrschaft blutig zu unterdrücken und seine Gegner zu entwürdigen.
Die Angehörigen Al-husains, die an dem Kampf nicht teilgenommen hatten, wurden verschont und nach Al-madiinah entlassen.

Die Tötung von Al-husain (radial-laahu ‘anh) führte zum Erstarken der Anhänger von ‘Aliy und seiner Kinder und zur allgemeinen Abscheu gegenüber den Umay-yaden, auch denjenigen gegenüber, die Yaziid folgten. Eine bemerkenswerte Ausnahme bildete ‘Umar Bnu-‘abdil-‘aziiz, der sich – im Gegensatz zu den übrigen Herrschern – stets eine Würdigung der Gelehrten und der frühen Regierungsgegner beibehielt. Er einigte sich weitgehend mit den gemäßigten Nachfolgern der Muhakkimah und verfolgte auch die Schiiten nicht. Das war ein Gegensatz zur sonstigen Herrscherpraxis, die auch vor der Hinrichtung von Sahaabah und ihren Nachfolgern nicht zurückschreckte.
Die Auffassung, dass dem Hause Banu-haaschim – und damit zwangsweise den Nachkommen von Al-hasan und Al-husain – eine zumindest geschätzte Rolle zukomme, wenn es um das praktische Chalifaat gehe, vertraten in umayyadischer und abbasidischer Zeit auch die großen Gelehrten wie Imaam Abu-haniifah, Imaam Maalik und Imaam Asch-schaafi’iy.

Der Begriff “Schii’ah” im Sinne der “achi’atu ‘aliy: die Anhänger von ‘Aliy” ist historisch alt und geht bereits auf die frühe Umayyadenzeit zurück. Eine entsprechende Absetzung zum Begriff “Sunniten” bestand aber in der Frühzeit nicht. In der Frühzeit waren sämtliche großen Gelehrten – die in späterer Zeit als “Sunniten” bezeichnet wurden – Gegner des Umayyadenregimes, das sich oft geradezu sündhaft zeigte. So entstanden bezüglich der Schii’ah-Problematik sehr viele unterschied-liche Oppositionsgruppen, die sich in zwei wesentlichen Hinsichten unterschieden:

  • Diejenigen, welche die Regierung offen herausforderten, im Gegensatz zu denen, die diese stillschweigend, aber ohne innere Anerkennung erduldeten und
  • diejenigen, die sich mit den Sahaabah in Übereinstimmung befanden und einander akzeptierten, und solche, die einander als Nichtmuslime betrachteten.

Zu ersten Gruppe gehörten große Gelehrte wie Imaam Abu-haniifah und Imaam Maalik und zur zweiten Gruppe gehörten frühe extreme Gruppen wie die Kaisaniyyah, welche die Chilaafah der ersten Nachfolger des Gesandten außer ‘Aliy nicht anerkannten und bestimmte Sahaabah nicht akzeptierten, die ihnen geschichtlich nicht treu genug ‘Aliy gegenüber erschienen. Mit ihnen gelangte zum ersten Mal in die Geschichte des Islam der Gedanke der Verborgenheit des Imaams, abgesehen von sehr vielen seltsamen Entgleisungen geistiger Art.
Eine Festsetzung dessen, was man unter Ahlus-sunnah wal-dschamaa’ah (Leute der Sunnah und der Gemeinschaft) verstand, geschah erst in abbasidischer Epoche durch die Werke des Gelehrten Imaam Al-asch’ariy und ist geprägt durch den Wunsch, sich von den Übertreibern unter den Schiiten (ghulatusch-schii’ah) abzusetzen, unter denen die klaren, praktischen Vorstellungen der frühen Anhänger von ‘Aliy zu ganz andersartigen geistigen Gebilden wurden, die mit der Praxis des Propheten (sallal-lahu ‘alaihi wa sallam) und der Sahaabah nicht mehr zusammenpassten.
Durch die Fatimiden-Dynastie und ihr eigenständiges Reich, durch das die Einheit der Chilaafah zerbrach, gewann der Gegensatz zwischen der Schii’ah und den anderen Muslimen klare Abgrenzungen. Doch erst im Rahmen der osmanischen Auseinandersetzung mit dem iranischen Safawidenreich wurde die Teilung in Schiiten und Sunniten instrumentalisiert und von beiden Seiten aus Gründen der jeweiligen Staatsraison festgeschrieben.

Definitionen der Chilaafah versus Imaamah und “Kette der Imaame”

Einer der wichtigsten Unterschiede in der Auffassung der Imaamah bei Sunniten und Schiiten ist die Tatsache, dass es nach den Sunniten eine konkrete Imaamah nach dem Tode des Propheten (sallal-laahu ”laihi wa sallam) stets gegeben hat bzw. dass jederzeit eine praktische Imaamah möglich ist. Der Imaam bzw. Chaliifah ist gehalten, in seinen Funktionen dem Vorbild der ersten Nachfolger des Gesandten nachzufolgen. Auch wenn ein großer Teil der sunnitischen Gelehrten als Bedingung setzte, dass der Imaam aus dem Personenkreis der Quraisch stammen muss, war dies nicht durchgängig Konsens.
Nach den Schiiten spielt die persönliche Bindung des Einzelnen an das Haus des Propheten (sallal-lahu ‘alaihi wa sallam) die Hauptrolle. Da die Kette der wahren Imaame von der Abstammung vom Prophetenhaus geprägt ist, wurde die Imaamah bei der frühen Schii’ah zu einem realen Amt. Nach Abbruch der Reihe der Imaame (bei den meisten schiitischen Richtungen, einschließlich der 12er Schii’ah) wurde die Imaamah zu einer unerreichbaren, ins Transzendente erhöhten Sache – mit Ausnahme der Zaidiyyah -, der jeweils letzte anerkannte, wahre Imaam folgerichtig entrückt, und seine Wiederkehr auf eine Endzeit bzw. den Jüngsten Tag verschoben.

Darstellung der wichtigsten Richtungen der Schii’ah

  • Die Zaidiyyah
    Historisch gesehen bildet die Zaidiyyah die älteste der heute noch existierenden Gruppierungen der Schii’ah. Sie führt ihren Ursprung auf Zaid Bnu-‘aliy zurück, der in Kufah im Jahre 121/739 zum Aufstand gegen Banu-umaiyah zur Zeit des Hischaam aufrief. Dieser Aufstand wurde von vielen großen Gelehrten – etwa Imaam Abu-haniifah – offen oder geheim gutgeheißen, war aber erfolglos: 122/740 fiel Zaid im Straßenkampf in Kufah. In ihrer ‘Aqiidah ist die Zaidiyyah stark von der Mu’tazilah beeinflusst und hat sich den Charakter der Früh-Schii’ah sehr rein erhalten.
    Die Zaidiyyah betrachtet die Imaamah als eine nach wie vor durchführbare Sache, die keinen durchgängigen Stammbaum – im Gegensatz zur sonstigen späteren schiitischen Auffassung – erfordert. Ihrer Meinung nach hat prinzipiell jeder Angehörige des Banu-haaschim Anrecht auf die Imaamah, mit der zusätzlichen Bedingung, dass er mit der Waffe gegen einen ungerechten Herrscher vorgeht, sofern sich dieser ihm – dem rechtmäßigen Imaam – zu Unrecht entgegenstellt. Daher sind diejenigen Imaame, die in der 12er Schii’ah als Imaame im Geheimen anerkannt wurden, keine Imaame mehr, da sie den Unterdrückern nachgaben. Dementsprechend bestehen große Spannungen zwischen der 12er Schii’ah und der Zaidiyyah. Zudem erkennen sie den Imaamen keine Sündlosigkeit zu. Auch das Prinzip der Entrückung existiert für sie nicht. Die Zaidiyyah entwickelte ein eigenständiges Fiqh, das von wenigen Ausnahmen abgesehen weitgehend dem Vorgehen im sunnitischen Fiqh entspricht.
  • Die Ismaa’iiliyyah (7er Schii’ah)
    Nach dem Tode des 6. Imaams der Schii’ah Dscha’far Assaadiq (gest. 148/765) betrachtete die Mehrheit der Schii’ah nach verschiedenen Wirren um seine Nachfolgerschaft seinen Sohn Muusa als Fortsetzung der Reihe der Imaame. Andere Schiiten meinten, dass dies Ismaa’iil, dem ältesten Sohn Dscha’fars, zukomme, der von seinem Vater designiert wurde, aber noch vor seinem Vater Dscha’far verstarb. Diejenigen, die an Ismaa’iil festhielten, betrachteten folgerichtig den Imaam als entrückt und trennten sich von der Hauptlinie der Schii’ah, die über Muusa (Al-kaadhim) die reale Imaamah für fortgesetzt hielten. Aus diesen entwickelte sich später die 12er Schii’ah. Die Ismaa’iiliyyah – 7er Schii’ah genannt – entwickelte in ihrer Geschichte eine spezielle Geheimlehre, weswegen sie auch als “Baatiniyyah” in die Geschichte einging. Einer ihrer Zweige gründete die offen auftretende Faatimiden-Dynastie in Nordafrika und Ägypten; ein weiterer brachte die Geheimbewegung der Haschschaaschuun mit dem Bergsitz von Alamut hervor; weitere Zweige verblieben in Indien und Zentralasien.
  • Die 12er Schii’ah (Dscha’fariyyah)
    Diese Richtung ist heute zahlenmäßig Hauptgruppe der Schii’ah und führt die Reihe der Imaame über Dscha’far, Muusa Al-kaadhim bis zum 12. Imaam, dem Imaam Al-mahdiy, fort, der wiederum ihrer Meinung nach in die Entrückung verschwand. Nach den Sunniten hatte der 11. Imaam keinen männlichen Nachkommen.
    Die 12er Schii’ah wird wegen der bedeutenden Rolle Dscha’fars für den bemerkenswerten Fiqh dieser Richtung auch Dscha’fariyyah genannt. Der wichtigste Unterschied zum sunnitischen Fiqh besteht darin, dass auch die Überlieferungen der als sündlos betrachteten Imaame neben der Sunnah des Propheten (sallal-laahu ‘alaihi wa sallam) als bindend betrachtet werden. Diese Richtung wurde seit dem Sturz des Abbasidenreiches besonders wichtig, und hatte besondere Bedeutung dadurch, dass das iranische Safawidenreich im 10./16. Jahrhundert sie zur Staatsdoktrin erhob und alle anderen Richtungen der Schii’ah sowie insbesondere Sunniten bekämpfte. Das Osmanische Reich war der natürliche Gegenpart. Diese Ereignisse prägen als Erblast das Verhältnis der 12er Schiiten zu den Sunniten bis in die neuere Zeit.

Reihenfolge der schiitischen Imaame

1. ‘Aliy Bnu-abi-taalib (radial-laahu ‘anh) (40/661) Faatimah (radial-laahu ‘anha)
2. Al-hasan (radial-laahu ‘anh)
(50-68/670-678)
3. Al-husain (radial-laahu ‘anh)
(61/680)
4. ‘Aliy Zainul-‘aabidiin

(ca. 95/713)
Zaid Bnu-‘aliy(122/740) 5. Muhammad Al-baaqir

(95/733)
Zaidiyyah 6. Dscha’far Assaadiq

(148/765)
‘Abdul-laah Al-aftah
(149/766)
7. Ismaa’iil(138/755) 7. Muusa Al-kaadhim
(183/799)
Ismaa’iiliyyah 8. ‘Aliy Ar-rida
(203/818)
9. Muhammad Al-dschawaad
(220/835)
10. ‘Aliy Al-haadi
(254/868)
11. Al-hasan Al-‘askariy
(260/873)
12. Muhammad Al-mahdiy

 

Die Zeit der Fitnah – von der Einheit zur Spaltung

  • Geschichtlicher Hintergrund der Spaltung
    Eine Aufarbeitung der politischen Konflikte zwischen den Sahaabah und den Kriegen, die daraus resultierten, ist für die Bewahrung eines ausgewogenen Islam-Verständnisses von äußerster Wichtigkeit. Hier sollten folgende Extreme vermieden werden: Weder soll aufgrund von bestimmten, politisch und soziologisch leicht erklärbaren Differenzen unter den Sahaabah die generelle Vertrauenswürdigkeit dieser ersten Überlieferergeneration in Zweifel gezogen werden, noch soll aus Mangel an Erklärungsmöglichkeiten das Thema verharmlost oder verdrängt werden (“Fehler kann jeder machen”, “Sprich nicht darüber, das steht dir nicht zu!”). Diejenigen Gruppen der islamischen Geschichte jedoch, welche sich zu leichtfertig in die Analyse der Ereignisse gewagt haben, vor allem mit der anmaßenden Haltung, die “Schuldfrage” jeder beteiligten Person klären zu können, konnten und können oft kein gesundes und lebbares Islam-Verständnis mehr aufbauen, weil ihr ganzes Denken um die Vergangenheit kreist. Andererseits ist auch ein Ableugnen und Vertuschen keine Alternative. Bei der Fitnah unter den Sahaabah handelt es sich um eine Verkettung längerfristiger Entwicklungen und nicht nur kurze individuelle Ausrutscher, welche man geflissentlich übergehen könnte. Bevor die unterschiedlichen Zugänge und Deutungen der Muslime analysiert werden, sollen im Folgenden erst einmal die wichtigsten Ereignisse in Erinnerung gerufen werden:
    a.) Unter Abu-bakr (radial-laahu ‘anh) war keine Spaltung unter den Sahaabah im eigentlichen Sinne festzustellen. Die Diskussionen um die Chilaafah beim Tode des Gesandten sind vielmehr ein Ausdruck der Schuura. Da es offensichtlich kein Vorverständnis gab, wer die Chilaafah zu übernehmen hätte, wurden verschiedenste Vorschläge geäußert, bis sich die überwiegende Mehrheit letztendlich zu Abu-bakr bekannte. Gegenstimmen, die ‘Aliy favorisierten, stören dieses Bild keineswegs. Es ist durchaus denkbar, dass ‘Aliy sich für den passenderen Chilaafah-Kandidaten gehalten hat und dabei von einigen Sahaabah unterstützt wurde. Historische Tatsache ist jedoch, dass ‘Aliy dies keinesfalls als ‘Aqiidah-Frage betrachtete (quasi: “Ich bin der von Allaah auserwählte Imaam, wer meine Führungsrolle nicht anerkennt, dem fehlt ein Teil des Islam”), sonst hätte er sich von der neu entstandenen Gemeinschaft distanzieren und lossagen müssen. Im Gegenteil: Er unterstützte aktiv die drei ihm vorangegangenen Nachfolger des Gesandten.
    b.) Unter ‘Umar (radial-laahu ‘anh) stand die Ummah vor einer neuen Herausforderung: Durch die Ausdehnung des Herrschaftsgebiets von den Grenzen Afghanistans bis Nordafrika und die gewaltigen Mengen an Kriegsbeute stiegen bei den Muslimen der 2. Generation, die Tendenzen zur Verweltlichung. In diesem Zusammenhang wurde verständlich, warum ‘Umar nach dem Mordanschlag auf ihn noch erleichtert äußern konnte, er sei beruhigt, dass ihn wenigstens kein Muslim getötet habe. Offensichtlich wusste er, genauso wie die anderen herausragenden Sahaabah, dass eine Zeit der Fitnah, des Kampfes und der Spaltung, im Anzug sei.
    c.) Diese Fitnah beginnt genau in der mittleren Chilaafah-Zeit des Chaliifah von ‘Uthmaan (radial-laahu ‘anh). Die knapper werdenden Posten in Militär und Verwaltung waren begehrt. Gerade unter denjenigen Muslimen, welche nicht den Erziehungsprozess des Gesandten Allaahs (sallal-laahu ‘alaihi wa sallam) durchlaufen haben, entstanden Neid, Misstrauen und Unzufriedenheit. Ethnische Loyalitäten, wie Stammesbindungen, erlangten wieder das Übergewicht über die islamische Solidarität. Die Unzufriedenheit wurde in den neu eroberten Provinzen (vor allem Ägypten, Irak, Syrien) immer offener geäußert. Darin mischten sich erste Vorwürfe, die direkt auf die Person ‘Uthmaans abzielten: Er habe bewusst Verwandte protegiert (“Vetternwirtschaft”), um sie in höhere Posten zu hieven und er vertusche deren im Amt begangenen Fehler.

Wie ist diese Handlungsweise des ‘Uthmaan zu bewerten? Der Vorwurf, bei ‘Uthmaan handele es sich um eine schwache Persönlichkeit, der sich nicht den Karrierewünschen seiner Verwandten, der Banu-umaiyah, entziehen konnte, ist kaum überzeugend. Eher das Gegenteil war der Fall. In einer Zeit, in der sich die absolute Mehrheit der Banu-umaiyah dem Islam verschlossen und feindselig gezeigt hatte, war ‘Uthmaan als einer der ersten in Makkah zum Islam gekommen. Dafür hatte er große Nachteile in Kauf nehmen müssen. Auch erlangte er als erfolgreicher Kaufmann keinerlei weltliche Vorteile durch den Anschluss an den Islam, sondern zeigte stets große Opferbereitschaft. Dass er gleichzeitig vom Charakter her auch versöhnlich und milde war, zeigt die Tatsache, dass der Prophet (sallal-laahu ‘alaihi wa sallam) ihn bei den Ereignissen von Hudaibiyyah als Verhandlungspartner nach Makkah hineinschickte.
Die Familie der Banu-umaiyah wurde und wird von vielen misstrauisch bewertet, da sie sich mit ihren prominenten Persönlichkeiten (vor allem Abu-sufyaan, dessen Frau Hind, Mu’aawiyah – der Cousin ‘Uthmans) erst kurz vor bzw. bei der Eroberung Makkas dem Islam angeschlossen hatten. Ein Merkmal des gemäßigten Islam der Ahlus-sunnah wal-dschamaa’ah ist es jedoch, den Iimaan eines Menschen nicht in Frage zu stellen, wenn der Islam äußerlich korrekt praktiziert wird. So wurden auch die Banu-umaiyah sehr zügig in die islamische Gemeinschaft integriert, ohne dass jemals in Abrede gestellt wurde, dass sie von der Afdaliyyah (Vorzüglichkeit, Tugendhaftigkeit) her natürlich nicht auf einer Stufe mit den opferbereiten Muslimen der ersten Stunde standen. Der Prophet (sallal-laahu ‘alaihi wa sallam) jedenfalls erkannte die Führungsqualitäten dieser Familie und unterstützte sie. Wie anders kann die Tatsache gedeutet werden, dass Mu’aawiyah (radial-laahu ‘anh) Wahy-Schreiber wurde. Würde der Prophet die größte Amaanah (anvertrautes Gut), nämlich die Niederschrift des Wortes Allaahs, einem Heuchler und Opportunisten anvertrauen? In der Chilaafah-Zeit von ‘Umar beobachtet man den rasanten Aufstieg dieser Familie in die höchsten Ämter: Ganz deutlich im Gebiet von Asch-schaam (dem heutigen Syrien, Palästina, Jordanien, Libanon), wo Mu’aawiyah das Gouverneursamt übernimmt und dies zum Guten der muslimischen Ummah nutzt. Seine vorausschauende Politik zeigt sich an dem ambitionierten Großprojekt der Errichtung einer eigenen muslimischen Flotte an den Küsten des östlichen Mittelmeeres, um langfristig dem byzantinischen Gegner im Norden strategisch die Stirn bieten zu können. Die gesamte Zeit der Herrschaft Mu’aawiyahs ist damit auch von innenpolitischer Stabilität, Wohlstand und Entwicklung gekennzeichnet. Seine Truppen waren ihm loyal ergeben; von Vorwürfen und Kritik an den Machthabern während dieser Jahre ist in seinem Herrschaftsgebiet auch am wenigsten zu hören.
‘Uthmaan nahm diese Fähigkeiten seiner Familie sehr wohl wahr. Sollte er etwa den Banu-umaiyah die Aufstiegschancen verwehren, mit dem Argument, vor dreißig Jahren hätten sie den Islam zu zögerlich angenommen? Welche Fitnah wäre damit erst entstanden? ‘Uthmaan sah keine andere Möglichkeit als in Milde und Verzeihung zu agieren, in einer Zeit, wo die inneren Konflikte um die Verteilung der ökonomischen Ressourcen und der prestigeträchtigen Ämter immer mehr die Solidarität der Gemeinschaft strapazierten. Er wusste aus Aussagen des Propheten, dass eine Zeit der Fitnah nahen würde und stellte sich darauf ein. In einer solchen Situation, so war ihm geraten worden, solle er der “al-‘abdul-maqtuul” (der zu Unrecht getötete) sein.
Genau diese Milde wurde ihm zum Vorwurf gemacht und seine verzeihende und kompromissbereite Haltung wurden ihm als Schwäche ausgelegt. Was wäre jedoch passiert, wenn er in seiner Zeit mit Strenge und Unbeugsamkeit regiert hätte? Hätten die Menschen dafür Verständnis gezeigt? Nicht vergessen werden darf, dass sich die islamische Ummah grundlegend gewandelt hatte. Waren in der Frühzeit die Menschen durch reine Überzeugung in einem individuellen Akt der Umkehr bewusst zum Islam gekommen und hatten diese innere Dimension durch Opfer- und Leidensbereitschaft äußerlich unter Beweis gestellt, so war diese Elite der Sahaabah in den Jahren um 29/650 in einem völlig natürlichen gesellschaftlichen Prozess dabei, in die Minderheitsrolle gedrängt zu werden. Ein Großteil der Sahaabah stand bereits in hohem Alter und eine neue Generation drängte an die Schalthebel der Macht. Eine Generation, die in den Islam hineingeboren war, für die der Islam aus Privilegien bestand, und die leicht in den Fehler der früheren Völker verfiel, dass man Islam als eine Art “gesellschaftliches Kapital” betrachtete. “Ich bin Muslim, ich bin Araber und damit aus der Verwandtschaft des Gesandten, ich bin von Geburt an etwas Besseres, wir sind das auserwählte Volk, berechtigt, die Welt zu beherrschen, wenn wir Fehler machen ist das halb so schlimm.” Von diesen gefährlichen Tendenzen sind Muslime keineswegs geschützt, zeigt doch der Quraan, dass die Kinder Israaiils als die Nachkommenschaft von Propheten, genau die gleiche Entstellung ihres Diin-Verständnisses vorexerziert hatten.
Vor diesen Entwicklungen betrachtet, erkennt man, dass ein Einzelner – auch ein mit großen Machtbefugnissen ausgestatteter Chaliifah – wenig unternehmen kann, wenn die Ideale und Werte der gesamten Gesellschaft sich in eine andere Richtung bewegen. Das Gegenbeispiel des gestrengen ‘Umar, was in diesem Zusammenhang immer so gern bemüht wird, unterstreicht eigentlich dieses Erklärungsmuster:
‘Umar konnte in seiner Zeit noch auf eine innerlich intakte Ummah blicken; eine Ummah, die bereit war, ihm im Guten zu gehorchen; eine Ummah, die noch maßgeblich von den frühen Muslimen geprägt war und durch gemeinsame Erfahrungen und Leiden geschult war. Für ‘Uthmaan war eine andere Prüfung vorgesehen: er wollte und musste diese Ummah zusammenhalten, nachdem schon vielerorts die eigentliche Solidarität der Ummah von der Gier nach weltlichen Gütern und der alten Stammessolidarität überlagert worden war. In den letzten Regierungsjahren brach die Fitnah offen aus und gipfelte in dem Marsch der Unzufriedenen nach Al-madiinah. Erstaunlich ist, dass der Chaliifah, als er schließlich massiv bedroht wurde und man ihn zur Absetzung mancher Gouverneure zwingen wollte, sich weigerte. Schutzlos harrte er in seinem Haus aus und sah wohl, in welche Gefahr er sich begeben hatte. Hier aber zeigte er seine starke Persönlichkeit und lehnte es ab, den Staat zu einem Spielball marodierender Banden zu machen, die dem Chaliifah politische Forderungen diktieren konnten. Nachgiebiges mildes Regieren und Zugeständnisse kamen für ‘Uhmaan nur in Frage, als die staatliche Autorität gesichert war. Jetzt beim Zusammenbruch der Sicherheitsstrukturen konnte es keine Nachgiebigkeit geben. Und genau diese Haltung bewies er durch seine Bereitschaft, Schahiid zu werden – der vom Propheten angekündigte “al-‘abdul-maqtuul“.

  • Erster politischer Ichtilaaf (Meinungsunterschied)
    Die erste gravierende politische Meinungsverschiedenheit entspann sich sofort mit der Ermordung ‘Uthmaans.
    a.) Sollte erst das ‘Uthmaan zugefügte Unrecht “gerächt” werden – so die Haltung von ‘Aaischah, Az-zubair, Talhah und vielen anderen der Sahaabah? Bei dem in den Quellen genannten Ausdruck “Rache” geht es selbstverständlich nicht um emotionsgesteuertes Handeln. Vielmehr wurde hier eine Beseitigung der Ursachen des Übels angestrebt. Die Mörder sollten ausfindig gemacht und bestraft werden, ansonsten könnte es keinen geordneten Übergang zu einem neuen Chaliifah geben. Wie kann man, nach dieser Deutung, ein solches Unrecht, das der gesamten Gemeinschaft und der staatlichen Autorität angetan worden ist, tolerieren und einfach zur Tagesordnung übergehen?
    b.) Auf der anderen Seite stand der realpolitische Zugang des neu gewählten Chaliifah ‘Aliy. Er wusste, dass die Verfolgung der Mörder fast unmöglich war, ohne neues Unrecht und weitere Spaltungen zu provozieren. Schließlich waren die Mörder keineswegs Einzeltäter, sondern in größere Stammesbeziehungen eingebunden. Diejenigen, die tatsächlich nach Al-madiinah gezogen waren, um ihren Unmut an der politischen Entwicklung zu äußern und dann in die Wirren der Ermordung ‘Uthmaans hineingezogen worden sind (wie sehr jeder von den Beteiligten bewusst eine Ermordung des Chaliifah einbezogen hatte, entzieht sich ohnehin jeglicher objektiven Beurteilung), waren eigentlich nur die Spitze des Eisbergs. Hinter ihnen stand das Protestpotential von großen Stammesverbänden, die normalerweise politisch im Kollektiv entschieden. ‘Aliy war nun in einer bürgerkriegsartigen Situation von einer kleinen Gruppe von Muslimen in Al-madiinah gewählt worden. Große Gruppen von Muslimen bekamen das in den nördlichen Provinzen wahrscheinlich erst verspätet mit und haben sich kaum von ‘Aliy vertreten gefühlt, da sie meinten, nicht am Entscheidungsfindungsprozess beteiligt gewesen zu sein. 2 Die Mörder ‘Uthmaans festzunehmen, bedeutete für ‘Aliy nicht mehr und nicht weniger, als Krieg gegen eine Reihe der wirtschaftlich und militärisch stärksten Provinzen zu führen. Aus realpolitischen Erwägungen und seinem Verständnis für den Zusammenhang der Ummah heraus, entschied er sich dafür, vorerst auf die Verfolgung der Mörder zu verzichten. Priorität hatten der Ausbau seiner Position und die Stärkung staatlicher Strukturen, um die Ummah zu einigen.
  • Wahrheit oder Gerechtigkeit: Der Grundkonflikt jedes politischen Handelns
    Bei diesem ersten eigentlichen politischen Ichtilaaf (Meinungsverschiedenheit) der Ummah handelt es sich auf abstrakter Ebene um eine Wertekollision – einen Abwägungskonflikt zwischen zwei Grundwerten, wie es ständig der Fall im politischen Handeln ist: “Gerechtigkeit (Wahrheit) oder Einheit”. Für die Gruppe um ‘Aaischah, Talhah, Az-zubair stand der Wert der Durchsetzung des Rechts an oberster Stelle, dem sich alles andere unterzuordnen hätte. Ob es durch die Verfolgung der Mörder ‘Uthmaans zu weiteren Verwicklungen und Spaltungen kommen würde, stand für sie nicht im Vordergrund. Dafür gibt es genug plausible Argumente in der Scharii’ah, weshalb diese Vorgehensweise auch als vernünftiger Idschtihaad von den sunnitischen Gelehrten anerkannt wurde. ‘Aliy jedoch sah die Priorität in der Einheit der Ummah – und dafür müsste es auch möglich sein, in bestimmten Bereichen Kompromisse bei anderen Zielen vorzunehmen. Selbstverständlich wurde diese Haltung von vielen nicht verstanden; in der emotional aufgeladenen Situation wollte man ihm sogar eine stillschweigende Billigung der Ermordung ‘Uthmaans unterschieben. Die Gelehrten der Ahlus-sunnah wal-dschamaa’ah haben beide Vorgehensweisen als akzeptable Idschtihaad-Fälle bezeichnet; ausgehend von der Aussage des Gesandten, dass derjenige, der als kompetente und befugte Person eine Entscheidung/Richtspruch zu fällen hat, mindestens eine Belohnung bekomme (für die gute Absicht bzw. die aufrichtige Bemühung, die Wahrheit zu finden). Derjenige, der jedoch tatsächlich auch die richtige Antwort gefunden hat, bekommt dafür zwei Belohnungen. Die Gelehrten des islamischen Mainstream weigerten sich stets, einer der beiden Gruppen prinzipiell eine schlechte Absicht und damit Heuchelei zuzuschreiben, weil sie die Plausibilität beider Werteprioritäten begriffen. Andererseits scheuen sich aber auch viele Gelehrte nicht davor, die Entscheidung ‘Aliys zu bevorzugen. Schließlich hatte ‘Aaischah (radial-laahu ‘anha) nach zahlreichen Berichten später auch ihre Vorgehensweise bereut. Auf der politischen Ebene folgten nun zwei große Ereignisse, welche die erste politische Spaltung der Ummah sichtbar machen:
    a.) Die Kamelschlacht: Da ‘Aaischah, Talhah und Az-zubair ausgezogen waren, das Recht in die eigene Hand zu nehmen, um im Südirak die Mörder ‘Uthmaans zu bestrafen, musste sich ‘Aliy von Kufah aus, ihnen mit einer Armee entgegenstellen. Nicht mit der Absicht sie zu bekämpfen, sondern um die staatliche Autorität sicherstellen. Um einen Machtkampf, wie manchmal oberflächlich dargestellt, ging es damals keineswegs. Die Schlacht, welche nach den ersten Gesprächen zur Klärung der Sachlage entbrannte, kann durchaus noch als eine ungeplante Auseinandersetzung dargestellt werden, welche maßgeblich von Provokateuren gesteuert war.
    b.) Bei der zweiten und weitaus schlimmeren Auseinandersetzung, der Schlacht von Siffiin, kann jedoch dieses Erklärungsmuster nicht mehr aufrechterhalten werden. Die aus Syrien heranrückenden Truppen des Mu’aawiyahs sahen sich als Verteidiger der Sache ‘Uthmaans, während ‘Aliy aus dem Irak kommend den Anspruch des Staates auf Gehorsam und Gefolgschaftseid (Bai’ah) geltend macht. Bei beiden Schlachten aber sehen sich die Kontrahenten gegenseitig eindeutig als Muslime. Nach den Siegen wurden die Güter des Gegners nicht als Beute verteilt, und Gefangene geraten nicht in Sklaverei.
  • Erste Spaltung in ‘Aqiidah-Fragen
    Bis zu diesem Zeitpunkt ist die Spaltung der Ummah eine rein politische: ausgehend von verschiedenen Idschtihaad-Meinungen, die zur Lösung der Krise eingebracht werden. Mit der Abspaltung der Charidschiten (Chawaaridsch) aus dem Lager ‘Aliys kommt zum ersten Mal ein ‘Aqiidah-Moment ins Spiel. Von dieser ersten extremistischen Abspaltung wurden alle Muslime als Nicht-Muslime (Kuffaar und Muschrikuun) bezeichnet, weil sie sich – so die eigene Deutung – nicht an den Quraan und damit Allaahs Urteil gehalten sondern dem Urteil von Menschen (durch Akzeptanz des Schiedsgerichts von Siffiin) gebeugt hätten. Wie viele Gruppen von Muslimen standen sich nun in dieser Fitnah gegenüber? Häufig wird von drei gesprochen, man kann jedoch das Modell auch auf fünf erweitern:
    1.) Anhänger des Chaliifah ‘Aliys, mit der Betonung des Grundwerts “Einheit”
    2.) Anhänger Mu’aawiyahs, mit der Betonung des Grundwerts “Recht/Gerechtigkeit”
    3.) Die Charidschiten, welche davon ausgingen, dass zwei Gruppen die sich bekämpfen (und damit eine Sünde begehen) wohl beide nicht Muslime sein könnten; durch die Begehung von Sünden seien alle aus dem Islam gefallen.
    4.) Vereinzelt fanden sich hier bereits murdschi’itische Tendenzen, welche das genaue Gegenteil von 3) verkörpern. Ihre Argumentation lautet: “Wenn zwei Gruppen sich bekämpfen, dann wissen wir nicht, ob es Muslime oder Nicht-Muslime sind, wir überlassen das Urteil Allaah (ta’aala).”
    5.) Diejenigen Sahaabah, welche sich nicht an den Kämpfen beteiligen wollten, jedoch beide kämpfenden Gruppen als Muslime anerkannten.

Maßgeblich durchgesetzt hat sich genau dieser realistische Mittelweg der Ahlus-sunnah wal-dschamaa’ah, welcher in den ersten beiden und vor allem der letzten Gruppe (1, 2, 5) bereits rudimentär angelegt war. Der Begriff “Ahlus-sunnah wal-dschamaa’ah” oder kurz Sunniten kann schlicht nicht verstanden werden, wenn dieser geschichtliche Hintergrund ausgeblendet wird. Übersetzt deutet er auf die “Leute der Sunnah und der Gemeinschaft” hin, und damit ist genau diese erste Gemeinschaft der (sich bekämpfenden) Sahaabah gemeint. Diese Bezeichnung wurde von denjenigen Muslimen des Mainstreams verwendet, welche sich weiterhin bemühten, der Sunnah und dem Vorbild des Propheten treu zu bleiben, und welche die GESAMTE Gemeinschaft der Sahaabah als prinzipiell vorbildliche Sahaabah bezeichneten, die frei von jeglicher Form der Heuchelei (aus Machtgier) waren, sondern lediglich durch verschiedene Idschtihaad-Meinungen miteinander in Konflikt geraten waren. Die Sahaahah haben damit für die Entwicklung des sunnitischen Islams eine wichtige Leistung erbracht. Sie haben bewiesen, dass unterschiedliche Auffassungen durchaus legitim sein können: solange sie nicht den Kern des Islam berühren, sondern um die Auslegung und die Umsetzung dieses Islam in politisch-gemeinschaftliches Handeln (und genau das ist die Funktion der Chilaafah) kreisen.
Hätten die Sahaabah diesen Konflikt nicht gehabt, würde wahrscheinlich jede Generation aufs Neue den gleichen Fehler begehen: die naive Vorstellung, dass bei zwei Gruppen unterschiedlicher Meinung nur eine im Recht sein könne und deren Kontrahenten automatisch vom Islam abgefallen sein müssten!

Eine weitere Konsequenz aus den Kämpfen der Sahaabah ist der klare Beleg für die Mutawaatir-Überlieferung des Quraan und der essentiellen Bestandteile der Scharii’ah. Nirgendwo in den Kämpfen der Kamelschlacht oder im Siffiin-Krieg wurden jemals Vorwürfe geäußert, der andere habe einen “falschen Quraan”, eine “falsche ‘Aqiidah”, würde die ‘Ibaadaat-Handlungen nicht korrekt verrichten oder hätte sonst irgendetwas vom Islam des Propheten entstellt. Dabei wäre dies genau der richtige Zeitpunkt gewesen. Stehen sich Menschen in Konflikten gegenüber, werden sie notgedrungen jeden, auch noch so kleinen, Fehler des Gegners aufdecken. Hätte die eine Gruppe z.B. eine unerlaubte Lesart des Quraan praktiziert oder maßgeblich den Grundcharakter des rituellen Gebets verändert, so hätte die andere Gruppe dieses Argument nicht ungenutzt gelassen.
Genau dies aber ist nicht geschehen: Die Diskussion kreiste lediglich um die politische Umsetzung der islamischen Werte – nicht um die Korrektheit der islamischen Inhalte. Da hinter beiden kämpfenden Gruppen jeweils riesige Anhängerschaften standen, kann ein eindeutiger Konsens, was die in Tawaatur überlieferten Quellen des Islams angeht, abgelesen werden: Der Islam wurde in dieser Generation gegen Ende der Zeit der vier rechtgeleiteten Nachfolger des Gesandten in seiner Essenz auf die gleiche Weise verstanden.
Unterschiedliche Auslegungen im Fiqh, oder verschiedene erlaubte Rezitationsarten des Quraan waren für die Sahaabah kein Thema, über das sie sich kriegerisch auseinandergesetzt hätten. Sie wussten, was den Kern der Botschaft ausmachte.

  • Ausgewogener Umgang: Der Zugang der Ahlus-sunnah
    Die Ahlus-sunnah wal-dschamaa’ah gehen davon aus, dass die Sahaabah Menschen waren, die durchaus Fehler gemacht haben. Jedoch kommt es dem Einzelnen nicht zu, in respektloser Weise über die angeblichen Fehler dieser Personen zu richten. Gleichwohl ist es kein Widerspruch, wenn auf allgemeine Weise festgestellt wird, ‘Aliy als der rechtmäßige Chaliifah hätte den passenderen Idschtihaad verfolgt und seine Kontrahenten hätten besser seiner Linie folgen sollen. Jedoch werden keine Sahaabah wegen ihres Fehlers im Idschtihaad als Heuchler bezeichnet.
    Dieses wahre Verständnis für den geistigen Hintergrund der Ahlus-sunnah wal-dschamaa’ah wird jedoch heutzutage oft nicht richtig bewusst gemacht. Mit Sunniten sind eben nicht in erster Linie Leute gemeint, die in Fiqh-Angelegenheiten eine bestimmte, z. B. von der schiitischen abweichende, Meinung verträten, sondern diejenigen der Muslime des Mainstreams, die auch die Anhänger des Mu’aawiyah als aufrichtig ansehen. Mu’aawiyah und andere Sahaabah zu beschimpfen, ihnen Heuchelei vorwerfen, indem sie Machtpolitik und Karriere über den Islam gestellt hätten, ist kein sunnitischer Islam! Wer sich darauf einlässt, die Sahaabah in “gut” und “schlecht” einteilen zu wollen, verfällt meist selbst in Fitnah, was an den zahlreichen Sektenbildungen abzulesen ist, die sich in der Folge entwickelten. Wer glaubt, er habe das wahre Wissen über die innere Einstellung der Menschen, der wird bald selbst mit seinen eigenen Anhängern in Konflikt geraten. Daher stellt ein auffälliges Kennzeichen von Sektenbildung die ständige Atomisierung dar: Auch in der kleinsten Gruppe gibt es immer noch genügend Diskussionsstoff, um diese Gruppe erneut zu teilen.
    Auf der anderen Seite ist ein Kennzeichen des sunnitischen Islams, das absolute Wissen nur Allaah (ta’aala) zuzuschreiben. Nur weniges kann der Mensch genau wissen, wenn es uns in Mutawaatir-Texten als daliil-qat’iyud-dalaalah (eindeutig zu verstehender Beleg) überliefert ist. Und diese Texte machen nur einen kleinen Teil des Islams aus. Das Meiste, das die Gelehrten beantwortet und entschieden haben, beruhte auf Idschtihaad.
    Diese Vielfalt an unterschiedlichen Idschtihaad-Meinungen in eine Reihe von Fiqh-Schulen kanalisiert zu haben, die sich gegenseitig respektieren, ist der große Verdienst des Islams nach Ahlus-sunnah wal-dschamaa’ah.
  • Ursachen der Fitnah: Verweltlichung vs. Bigotterie
    Wie ist im Rückblick der Keim für die Fitnah gelegt worden? Sind es die Kämpfe zwischen den Sahaabah? Nein, denn diese waren nach der Ermordung ‘Uthmaans lediglich das Resultat aus den unterschiedlichen Zugängen einer Ummah in der Krise. Die Ursache für die Ermordung ‘Uthmaans wird gewöhnlich in der aggressiven, aufbegehrenden Haltung der Unruhestifter gesehen, welche mit der Ressourcenverteilung in den neuen Provinzen unzufrieden waren.
    Neben dieser Tendenz der Verweltlichung gibt es jedoch auch Anzeichen für eine völlig konträre Haltung, die ebenfalls die Krise heraufbeschwor. So wird schon gegen Ende der Zeit von ‘Umar von verschiedenen Tendenzen neuer, übereifriger Muslime berichtet, welche den Gouverneuren ein Abweichen vom einfachen Islam der Frühzeit und eine Neigung zum Luxus vorwarfen. Besonders im Milieu der sogenannten Qurraa’, der Quraan-Leser, wird diese Tendenz verortet. Waren die Qurraa’ in der Siirah-Zeit noch Personen, die den Quraan vom Propheten gelernt und damit auch die passende Deutung und Erziehung mitbekommen hatten, so bildeten sich in den folgenden Jahren immer deutlicher Strömungen heraus, welche übereifrig in der Verrichtung von ‘Ibaadah-Handlungen die dazu passende Weisheit vernachlässigten.
    Spätestens in der Zeit von ‘Uthmaan ist diese Polarisierung nicht mehr zu übersehen: Je mehr die einen sich von den Annehmlichkeiten der neuen Lebensweise in den wirtschaftlich entwickelten Provinzen Syrien, Ägypten, Irak von der Sunnah wegbewegten, desto mehr provozierte das die Haltung der Unzufriedenheit und zur Schau gestellten Weltabkehr (zuhd) der anderen.
    Was jedoch trieb die erste Gruppe zur Übernahme des neuen Lebensstils? Schon unter ‘Umar beobachtet man das für den kulturellen Wandel so symptomatische Ereignis, wo der Chaliifah eine Reihe von Sahaabah aus den neuen Provinzen wegen ihrer Kleidung kritisierte: Offensichtlich hatten diese sich teils den Kleidungsgewohnheiten ihrer Umgebung angenähert, was dem Chaliifah als zu luxuriös und der einfachen Lebensweise der Sunnah widersprechend unangenehm auffiel. War dies jedoch ein Zeichen der Iimaan-Schwäche und der Neigung zu einem luxuriösen Lebenswandel? Die Angesprochenen hatten sich damals verteidigt mit der Argumentation, man bräuchte diese Kleidung um von den Menschen in der neuen Umgebung überhaupt ernst genommen zu werden.
    Genau dies ist der Punkt, der häufig übersehen wird: Die Verhältnisse in den neuen Provinzen waren nicht mehr vergleichbar mit denen aus der Frühzeit, wie sie vielleicht noch am ehesten im Hidschaaz einige Jahrzehnte weitertradiert wurden. In den eroberten Gebieten stand eine wohlhabende, sich als zivilisiert verstehende spätantike christliche Mehrheitsbevölkerung einer Minderheit von damals noch überwiegend arabischen Eroberern gegenüber, die man verächtlich als Barbaren betrachtete. Nach einiger Zeit bildete sich auch bei den dortigen Muslimen immer mehr die Auffassung heraus, dass sie langfristig nur dann überleben könnten, wenn sie den Islam in der dortigen Kultur verankern und ihn als zivilisatorisch ebenbürtig den Menschen vorleben. Daher die frühen Bemühungen, neben die prächtigen Kirchen, Synagogen und Tempel eine vergleichbare muslimische Architektur zu setzen. Man sah sich nicht mehr in der Lage, bei dem ursprünglichen Vorbild der Prophetenmoschee von Al-madiinah zu bleiben, wo eine einfache von Palmzweigen überdachte Lehmmauer als Gebetshaus ausreichte.
    Auch in anderen Bereichen zeigt sich die Bemühung der Muslime es den Ahlul-kitaab gleichzutun: prächtige und verzierte Quraan-Bände, besondere Kleidung der religiösen Würdenträger und immer mehr eine Nachahmung des weltlichen Lebensstils. Wo genau die Grenze zwischen erlaubten/empfohlenen Neuerungen, um den Islam unter veränderten Umständen lebbar zu machen, und einer Abkehr von der Sunnah verläuft, ist kaum eindeutig zu bestimmen: es bildeten sich hier unterschiedliche Zugänge heraus, die immer mehr auch Konfliktstoff in sich bargen. An beiden Rändern der Gesellschaft entstehen in diesen Jahren Extreme, die sich immer mehr gegenseitig Schuldzuweisungen machen. Genau aus diesem Milieu der Qurraa’, die sich durch Übereifer und Luxusverachtung unter ‘Uthmaan einen Namen machen, gingen auch die ersten Charidschiten hervor, welche die Waffen gegen ‘Aliy und alle, die nicht ihren Weg der Kompromisslosigkeit einschlagen wollten, erhoben.

 

Notes:

  1. Nach einigen Quellen tat er dies nur aus Furcht vor weiterem Blutver­gießen.
  2. Hier könnte eingewendet werden: Auch Abu-bakr (radial-laahu ’anh) war nur von einem Teil der Muslime – nämlich den Anwesenden in Al-madiinah – in einer kurzfristig zu Stande gekommenen Runde gewählt worden, ohne dass man versucht hatte, auch die Meinung der Muslime in Makkah und den anderen Gebieten eingeholt worden. Selbst ’Aliy (radial-laahu ’anh) und andere Sahaabah waren beim Wahlvorgang nicht anwesend. Die Ummah befand sich jedoch in einer ganz anderen Situation. Die Muslime fühlten sich durch die Elite der Sahaabah in Al-madiinah repräsentiert. Als sie später von der bereits erfolgten Wahl mitbekamen, akzeptierten sie dies ohne Widerrede. Noch war (im Jahre 632) das Übergewicht Al-madiinahs unangefochten, während bei der Ermordung ’Uthmaans 656 sich die politischen Gewichtungen längst verschoben hatten. Die Muslime bei der Wahl Abu-bakrs hatten Verständnis dafür, dass die Sahaabah in Al-madiinah so schnell einen Chaliifah gewählt hatten, weil die Zeit drängte und man kein Machtvakuum nach dem Tode des Propheten entstehen lassen wollte. Das gleiche Verständnis für die Prioritäten des Zusammenhaltes fand sich 24 Jahre später nur noch sehr schwach. Zu sehr hatten sich Gruppendenken und die Angst, übervorteilt zu werden, verbreitet.