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Die ’Aqiidah-Schulen


Die ‘Aqiidah-Wissenschaft ist eine Wissenschaft, deren Systematik und Themen sich wie jede andere Wissenschaft mit der Zeit und nach Bedarf entwickelt hat.

In Konformität mit der zulässigen Mehrdeutigkeit der arabischen Sprache, des Quraan und der Sunnah haben sich im Islam grundsätzlich zwei ‘Aqiidah-Schulen etabliert:

ahlus-sunnah wal-dschamaa’ah أهل السنة والجماعة

Die Bezeichnung ahlus-sunnah wal-dschamaa’ah bedeutet wörtlich “die Anhänger der Sunnah und der Gemeinschaft” und wurde anfangs nur für die beiden wichtigsten ‘Aqiidah-Schulen von Al-aschaa’irah الأشاعرة und Al-maaturiidiyyah الماتريدية verwendet 1.

Später wurde der Begriff von ahlus-sunnah wal-dschamaa’ah auf die sunnitischen Fiqh-Schulen wie die Maaliki-, Hanafi-, Schaafi’i-, Hanbali-, Auzaa’i-Schule übertragen, und wird seitdem ebenfalls für diese Schulen verwendet 2.

  • Al-aschaa’irah الأشاعرة
    Diese Schule ist benannt nach Imaam ‘Aliy Bnu-ismaa’iil Al-asch’ariy, genannt Abul-hasan Al-asch’ariy (260/874 – 337/949). 3 Der berühmte Imaam Taadschud-diin As-subkiy schrieb in seinem Buch “tabaqaatusch-schaafi’iyyatil-kubra, Generationen der Schaafi’iten” über ihn Folgendes: “Abul-hasan Al-asch’ariy ist der Angesehene unter ahlus-sunnah nach Imaam Ahmad Bnu-hanbal. Seine ‘Aqiidah und die ‘Aqiidah von Imaam Ahmad sind gleich. Daran gibt es weder Zweifel noch Verdacht. Dies hat Al-asch’ariy in seinen Büchern auch immer wieder betont. So erwähnte er mehrmals: “Meine ‘Aqiidah ist die ‘Aqiidah des angesehenen Imaam Ahmad Bnu-hanbal!”
    Imaam Al-asch’ariy praktizierte einen Mittelweg zwischen der Ta’wiil- und der Nicht-Ta’wiil-Methodik (genannt Tafwiid 4-Methodik).
    In allen Angelegenheiten von Al-ghaib الغيب (vom Verborgenen), der Prophetenschaft und dem Jüngsten Tag hat sich Imaam Al-asch’ariy ausschließlich auf die islamischen Quellen bezogen. Seine Schule verfährt im Allgemeinen wie folgt:
    1.) Alle Attribute und Namen Allaahs, über die Er in den sicheren Quellen Mitteilung machte, werden als Gewissheiten unter Berücksichtigung der Unvergleichbarkeit Allaahs mit Seinen Geschöpfen anerkannt.
    2.) Ein Muslim, der schwere Sünden (kabaair) begeht, bleibt Muslim, solange er diese Haraam-Handlung nicht als halaal ansieht.
    3.) Das Sprechen Allaahs ist Sein Attribut und unerschaffen. Der von den Menschen gesprochene und geschriebene (Quraan bzw. Mus-haf) ist erschaffen.
    4.) Das Ende jedes Menschen kennt nur Allaah (ta’aala).
    5.) Der bewaffnete Kampf gegen unrechte Herrscher wird abgelehnt.
    6.) Scharii’ah-Normen können ohne wahy und ohne Allaahs Gesandte, also allein durch den gesunden
    7.) Menschenverstand, nicht erkannt werden. Daraus folgt, dass das Gute (al-husn) das ist, was die Scharii’ah für gut erklärt hat, und das Schlechte bzw. Böse (al-qubh) das ist, was die Scharii’ah als schlecht bzw. böse erklärt hat.
    Heute sind die Gelehrten der Schaafi’itischen und Maalikitischen Schule sowie ein Teil der Gelehrten der Hanbalitischen Schule Aschaa’irah. Und nahezu alle Fakultäten der Islam-Wissenschaften in der arabischen und islamischen Welt, wie Al-azhar, Az-zaituunah, usw. vertreten und lehren die Schule der Aschaa’irah.
  • Al-maaturiidiyyah الماتريدية
    Diese Schule ist benannt nach Imaam Muhammad Bnu-mahmuud Al-maaturiidiy (238/852 – 333/945). Sein Geburtsort Maaturiid liegt bei Samarkand/Samarqand in der heutigen Republik Usbekistan. Imaam Al-maaturiidiy zählt zur 4. Generation der Hanafitischen Fiqh-Schule.
    Al-maaturiidiyyah ähnelt sehr der Asch’aritischen ‘Aqiidah-Schule und versteht sich ebenfalls als Gegenpart zur Schule der Mu’taziliten.
    Die ‘Aqiidah-Bücher von ahlus-sunnah orientieren sich entweder an der Asch’aritischen oder Maaturiiditischen ‘Aqiidah-Schule (z. B. al-‘aqaaid an-nasafiyyah, al-‘aqaaid as-sanuusiyyah, etc.).
    Der Unterschied zwischen beiden Schulen liegt hauptsächlich in den verwendeten Definitionen und in der Einteilung der Themen. Al-maaturiidiyyah bezieht sich gleichermaßen auf die Quellen und die Vernunft.
    Al-maaturiidiyyah vertritt u. a. folgende Meinungen:
    1.) Menschliche Handlungen haben entweder positive oder negative Folgen, welche sie als gut oder böse einstufen. Aus diesem Grund ist der gesunde Menschenverstand nach Imaam Al-maaturiidiy in der Lage, zwischen einer guten und einer bösen Handlung als solcher zu unterscheiden, ausgenommen im Bereich der Scharii’ah-Normen und -Gebote.
    2.) Schari’ah-Normen können ohne die Gesandten Allaahs, also allein durch den gesunden Menschenverstand, nicht erkannt werden.
    Daraus folgt nach Imaam Al-maaturiidiy, dass “das Gute als solches gut ist, wobei der Scharii’ah-Text dieses offenlegt, und das Böse als solches böse ist, wobei der Scharii’ah-Text dieses offenlegt.”
    Die hanafitischen Gelehrten weltweit sind Anhänger von Al-maaturiidiyyah.

Al-mu’tazilah المعتزلة

Al-mu’tazilah ist nicht nach ihrem Begründer, sondern nach ihrer geistigen Haltung benannt. i’tizaal إعتزال bedeutet “Sich-Zurückziehen von etwas”. Man nennt Al-mu’tazilah auch “Al-mubtilah: die Annullierende”, weil sie Allaahs Attribute als solche zurückweisen, welche von ahlus-sunnah wal-dschamaa’ah bestätigt werden.

Die Anhänger dieser ‘Aqiidah-Schule bezeichnen sich selbst als “ahlul-‘adli wat-tauhiid أهل العدل والتوحيد : Anhänger der Gerechtigkeit und des Tauhiid”. Dabei beziehen sie sich auf Aayah (19:48), wo es heißt: “Ich ziehe mich von euch und dem zurück, an das ihr anstelle von Allaah Bittgebete richtet.”

Gründer dieser ‘Aqiidah-Schule waren Waasil Bnu-‘ataa’ واصل بن عطاء und ‘Amr Bnu-‘ubaid At-tamiimiy عمرو بن عبيد التميمي. Beide zählen zu den großen islamischen Denkern, die im Dienste des Islam standen und sich um seine Verteidigung gegen Andersgläubige auf geistiger Ebene verdient gemacht haben. Waasil war ein Schüler von Imaam Al-hasan Al-basriy (gest. 110/728), bis er sich aufgrund der Meinungsverschiedenheit bezüglich takfiir (Erklärung eines bekennenden Muslims zum kaafir) und des Schwersündigen (murtakibul-kabiirah) von seinem Unterricht zurückgezogen hat, also i’tizaal vollzog.

Im Laufe der Zeit haben sich innerhalb der Mu’taziliten verschiedene Richtungen entwickelt, doch Einigkeit bestand unter ihnen bei folgenden Punkten und Inhalten:
1.) Bei der Interpretation der Quraan- und Sunnah-Texte stehen die Vernunftsüberlegungen grundsätzlich im Vordergrund.
2.) Die Attribute Allaahs werden in Wesens- und Handlungsattribute unterteilt, wobei all diese etwas Einheitliches vom Wesen Allaahs Ungetrenntes darstellen. Abu-hudhail Al-‘al-laaf (gest. 235/850) sagte über das Wissensattribut Allaahs 5: “Er ist wissend mit einem Wissen, das Er ist; und Er ist mächtig mit einer Macht, die Er ist; und Er ist lebendig mit einem Leben, das Er ist.”
3.) Imaan besteht aus iqraar, tasdiiq und ‘amal. Der Iimaan-Bekennende kommt ins Paradies. Ein Muslim, der faasiq (Sündige) ist, wird weder als mu’min noch als kaafir bezeichnet, sondern hat eine Position zwischen beiden Positionen (manzilah bainal-manzilatain).
4.) Handlungen des Menschen sind nicht von Allaah (ta’aala) erschaffen.
5.) Die Lehrmeinungen der Mu’taziliten stützen sich auf fünf Prinzipien:
at-tauhiid التوحيد: Sie interpretieren jede Aayah, die nach ihrem Wortlaut eine Verähnlichung Allaahs mit den Geschöpfen beinhaltet. Aus dem gleichen Grund trennen sie nicht zwischen dem Wesen von Allaah (ta’aala) und Seinen Attributen, sondern betrachten beides als etwas Einheitliches.
al-‘adl العدل (die Gerechtigkeit): Da Allaah (ta’aala) das Böse nicht mag, ist Er nicht der Schöpfer der Handlungen des Menschen, sondern der Mensch handelt eigenständig mit der Macht, die Allaah (ta’aala) ihm verliehen hat. Nach dieser Meinung ist der Mensch bezüglich seiner Handlungen absolut frei.
al-wa’du wal-wa’iid الوعد والوعيد  (das Versprechen und die Androhung): Dem Gehorsamen wurde Belohnung versprochen und dem Ungehorsamen wurde Bestrafung angedroht. Da Allaah (ta’aala) gerecht ist, vergibt Er dem Schwersündigen nur nach einer echten Taubah.
al-manzilah bainal-manzilatain منزلة بين المنزلتين (die Position zwischen zwei Positionen): Der muslimische Schwersündige ist weder mu’min noch kaafir, sondern hat eine Position zwischen beiden Positionen.
al-amru bil-ma’rufi wan-nahyu ‘anil-munkar الأمر بالمعروف والنهي عن المنكر (Aufforderung zum Gebilligten und Abraten vom Missbilligten): Dieses Prinzip war Anlass dafür, mit Waffengewalt gegen kaafir oder faasiq vorzugehen.
6.) Sie teilen die Definition bezüglich der Scharii’ah-Normen mit den anderen Schulen. Meinungsunterschiede gibt es jedoch bezüglich des Weges zur Gewinnung der Scharii’ah-Normen. Die Mu’taziliten sind der Ansicht, dass die Menschen die Scharii’ah-Normen alleine mit dem gesunden Menschenverstand feststellen können, d. h. dafür braucht man im Prinzip nicht unbedingt einen Gesandten von Allaah (ta’aala).
7.) Der Quraan ist erschaffen, da er aus Buchstaben und Lauten besteht.

Notes:

  1. Die meisten Gelehrten des Islam waren und sind entweder Aschaa’irah oder Anhänger von Al-maaturiidiyyah.
  2. Heutzutage versuchen die so genannten Salafiten diese Bezeichnung exklusiv für sich und ihre Gruppen zu beanspruchen.
  3. Biographien über Abul-hasan Al-asch’ariy wurden verfasst von: Ibnu-’asaakir, Al-chatiib Al-baghdaadiy, Ibnu-challikaan, Adh-dhahabiy, Ibnu-kathiir, Ibnu-farhuun und Ibnu-’imaad.
  4. Tafwiid war die Vorgehensweise der ersten Generationen der Muslime, welche die Bedeutung von bestimmten Aayaat, welche die Attribute Allaahs betreffen, nicht interpretiert haben.
  5. Siehe al-milalu wan-nihal, Asch-schahrastaaniy.