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Verschiedene Aspekte zu den Scharii’ah-Geboten


muqaddimatul-waadschib مقدمة الواجب

Nach der Mehrheit der Usuul-Gelehrten (al-mutakallimuun) ist alles ein Muss (waadschib), von dessen Erfüllung die Erfüllung einer Muss-Handlung (al-waadschib) abhängt, d. h. sowohl die Voraussetzungen (asbaab, Singular sabab 1) als auch die Bedingungen (schuruut, Singular schart 2) einer Muss-Handlung sind ein Muss. Die allgemeine Regel lautet vereinfacht ausgedrückt wie folgt:

ما لا يتم الواجب إلا به فهو واجب.

Alles, von dem die Erfüllung einer Muss-Handlung abhängt, ist ein Muss.

Diese Voraussetzungen (asbaab) bzw. Bedingungen (schuruut) werden muqaddimatul-waadschib مقدمة الواجب (Vorstufe einer Muss-Handlung) genannt. Dabei es ist unerheblich, ob diese Voraussetzungen oder Bedingungen der Scharii’ah, der Vernunft oder der Erfahrung bzw. Gewohnheit entstammen:

– Beispiel für eine Voraussetzung (sabab) aus der Scharii’ah:
Zum Abschluss eines Ehevertrags ist die Formel der Zustimmung (assiighah الصيغة) zur Ehe unabdingbar.

– Beispiel für eine Bedingung (schart) aus der Scharii’ah:
Notwendigkeit einer gültigen Gebetswaschung zum Verrichten des rituellen Gebets.

– Beispiel für eine Voraussetzung (sabab) aus der Vernunft:
Nachdenken, um sich das Dasein Allaahs durch Wissen zu vergewissern.

– Beispiel für eine Bedingung (schart) aus der Vernunft:
Beim Befehl zum Stehen, darf man nicht mehr sitzen.

– Beispiel für eine Voraussetzung (sabab) aus der Erfahrung/Gewohnheit:
Schneiden an der gewohnten Stelle, um etwas zu trennen.

– Beispiel für eine Bedingung (schart) aus der Erfahrung/Gewohnheit:
Waschen eines Teils des Kopfes bei der Gebetswaschung, um die Gewissheit zu erlangen, das gesamte Gesicht gewaschen zu haben.

A) Bedingungen, die muqaddimatul-waadschib verpflichtend machen

Damit muqaddimatul-waadschib (Vorstufe einer Muss-Handlung) genauso wie die Muss-Handlung auch ein Muss wird, müssen zwei Bedingungen erfüllt werden:

– Die Muss-Handlung muss uneingeschränkt erfolgen (z. B.: Der Meister sagt zu seinem Azubi: “Ruf mich an, wenn du deine Aufgaben erledigt hast!” Der Azubi wird durch diese Aufforderung nicht zur Erledigung der Aufgaben verpflichtet. Doch sollte er sie erledigt haben, dann muss er den Meister anrufen).

– Diese Voraussetzungen und Bedingungen (asbaab und schuruut) müssen im Bereich des Möglichen liegen (z. B.: das Erreichen der notwendigen Anzahl von Betenden beim Freitagsgebet an Orten, wo die Anzahl der Muslime weniger als die notwendige Anzahl ist, ist nicht möglich, und man ist nicht verpflichtet, diese Voraussetzung zu erfüllen).

B) Die Typen von muqaddimatul-waadschib

Es gibt zwei Typen von muqaddimatul-waadschib:

  • Das, von dem die Erfüllung der Muss-Handlung abhängt.
    Dabei ist es unerheblich, ob dies von der Scharii’ah (z. B.: die Notwendigkeit der Gebetswaschung für das rituelle Gebet) oder von der Vernunft (z. B.: das Reisen nach Makkah für denjenigen, der die Haddsch-Pilgerfahrt vollziehen will) bestimmt wird.
  • Das, von dem das Wissen über die Erfüllung der Muss-Handlung und nicht über die Muss-Handlung an sich abhängt.
    Beispiel:
    – Man bedeckt einen Teil des Knies, um sicher zu sein, dass man den Oberschenkel voll bedeckt hat.

muqaddimatul-haraam مقدمة الحرام

Genauso wie man muqaddimatul-waadschib beachtet, muss man muqaddimatul-haraam 3 مقدمة الحرام (Vorstufe der Darf-Nicht-Handlung) unterlassen, da die Unterlassung vom Haraam davon abhängt.

Sollte die Unterlassung einer Haraam-Handlung von der Unterlassung einer Halaal-Handlung abhängen, dann muss auch die Halaal-Handlung unterlassen werden.

Beispiel:
Wenn man in einem abgegrenzten Ort eine Milchschwester hat, die man nicht kennt und auch nicht mehr feststellen kann, dann darf man keine der Frauen aus diesem Ort heiraten. Damit verzichtet man auf die Halaal-Ehe mit erlaubten Frauen, um nicht in diese Haraam-Ehe zu geraten und mit der eigenen Milchschwester verehelicht zu werden.

Das über die Muss-Handlung hinaus Vollzogene

Hinsichtlich der Bestimmung der Durchführungsart von waadschib-Handlungen sind zwei Typen zu unterscheiden,

    • entweder solche Muss-Handlungen, deren Durchführung eindeutig bestimmt ist (wie z. B. das Waschen der Hände bei der Gebetswaschung),
    • oder solche, deren Durchführung nicht eindeutig bestimmt ist (wie z. B. die Benetzung des Kopfes bei der Gebetswaschung. Hier erfüllt man die Pflicht durch die Benetzung des gesamten Kopfes oder durch die Benetzung eines Teils des Kopfes, da in beiden Fällen die Pflicht der Benetzung erfüllt wird). So gilt bei diesen Muss-Handlungen ihre Durchführung als vollzogen, wenn das minimale Maß ihrer Durchführung vollzogen wurde (z. B. bei der Kopfbenetzung, wenn nur ein Haar benetzt wird). Alles, was das minimale Maß der Durchführung übersteigt, gilt dann als Sunnah-Handlung, da man es unterlassen darf.

Das Gegenteil eines Scharii’ah-Gebots

In der Frage danach, ob mit dem Gebot auch sein Gegenteil verboten wird (wie wenn man sagt: “Stehen Sie auf!”, ob dies gleichzeitig “Setzen Sie sich nicht!” bedeutet), vertreten die Usuul-Gelehrten verschiedene Meinungen:

    • Eine Gruppe setzt das Gebot und das Verbot seines Gegenteils gleich.
    • Eine Gruppe sieht das Gegenteil des Gebots als Teil dieses Gebots an. Ihrer Meinung nach weist ein Gebot auf sein Gegenteil hin durch iltizaam إلتزام, d. h. durch Bedeutungen, die das Gebot unbedingt und untrennbar begleiten (wie wenn man den Auftrag erteilt, ein Dach zu bauen, dann bedeutet dies automatisch den Bau von Dachbalken und Trägern für dieses Dach). So bedeutet das Gebieten einer Handlung das Verbot ihrer Unterlassung, und zur Unterlassung gehört das Verbot des Gegenteils vom Gebot.
    • Eine Gruppe sieht zwischen dem Gebot und dem Verbot seines Gegenteils keinerlei Beziehung, da der Gebietende nicht immer gleichzeitig mit seinem Gebot das Gegenteil davon vor Augen hat und beabsichtigt. So ist es unmöglich, dass man das Gegenteil seines Gebots verbieten will, wenn man überhaupt nicht daran denkt.

Status eines abrogierten Scharii’ah-Gebots

In der Frage danach, ob eine Muss-Handlung, wenn sie durch den Scharii’ah-Geber abrogiert wird (d. h. mit nas-ch belegt) und damit ihren Muss-Charakter verliert, immer noch als manduub, mubaah oder makruuh vollzogen werden darf, vertritt die Mehrheit der Gelehrten die Meinung, dass der Vollzug dieser Handlung im Bereich des Erlaubten (dschawaaz جواز), d. h. im Bereich der manduub-, mubaah– oder makruuh-Kategorie, bleibt, und nichts lässt eine dieser drei Kategorien favorisieren.

Beispiel:
Der Gesandte (sallal-laahu ‘alaihi wa sallam) hat den Aderlass während des rituellen Fastens verboten, dann hat er selbst ihn während des rituellen Fastens praktiziert. Damit ist dieses Scharii’ah-Gebot abrogiert und aus der Haraam-Kategorie entfernt worden. Als Ergebnis bleibt, dass der Aderlass erlaubt wird. Diese Erlaubnis kann den manduub-, mubaah– und makruuh-Charakter haben.
Imaam Asch-schaafi’iy hat es als mubaah eingestuft, während andere wie Imaam An-nawawiy es als makruuh bewerteten.

Was unterlassen werden kann, kann kein Waadschib-Gebot sein.

Ein Waadschib-Gebot darf per Definition nicht unterlassen werden. So ist es unmöglich, dass ein Gebot unterlassen werden darf und gleichzeitig ein Waadschib-Gebot sein sollte. Man holt die versäumten waadschib-Gebote nach aufgrund des Vorliegens ihrer Voraussetzung (ihres sabab) und nicht aufgrund der Verpflichtung zu ihrer Durchführung in der für diese Gebote bestimmten Zeit.

Beispiel:
Nach Ansicht der meisten Fiqh-Gelehrten ist das rituelle Fasten im Ramadaan aufgrund der Aayah (2:185; فَمَنْ شَهِدَ مِنْكُمُ الشَّهْرَ فَلْيَصُمْهُ: Wer von euch diesen Monat erlebt, so soll er darin fasten!) ein Waadschib-Gebot für alle, die den Fastenmonat erleben, d. h. auch für Menstruierende, Kranke und Reisende. Diesen Personen wird jedoch erlaubt, diese Pflicht aufgrund ihrer Entschuldigung auszusetzen. Und sie werden zum Nach-holen der nicht gefasteten Tage aufgefordert, weil das rituelle Fasten im Ramadaan für sie ein Waadschib-Gebot darstellte.
Die Usuul-Gelehrten erwidern darauf, dass das rituelle Fasten im Ramadaan nur zu einem Waadschib-Gebot wird, wenn keinerlei Hindernisse vorhanden sind. Die Menstruation ist z. B. ein Hindernis und verhindert, dass dieses Fasten zu einem Waadschib-Gebot wird. Die Verpflichtung zum Nachholen der nicht gefasteten Tage basiert nicht auf der Verpflichtung zur Erfüllung dieses Gebotes zu seiner bestimmten Zeit unter allen Umständen, sondern auf dem Zustandekommen der Voraussetzung (des sabab) zum Fasten, nämlich das Erleben des Monats Ramadaan, was sich auch ereignet hat. Das Gleiche gilt für den Schlafenden, wenn er aufgrund des Schlafs (keine Pflichten) ein Pflichtgebet versäumt. Er holt es nur wegen des Anbruchs der Zeit des Pflichtgebets nach.

Das Verbieten eines Waadschib-Gebots durch Abrogation

Wenn eine Waadschib-Handlung durch Abrogation (nas-ch) zu einer Haraam-Handlung umgeändert wird, dann darf man diese frühere Waadschib-Handlung nicht mehr vollziehen.

Beispiel: Änderung der qiblah-Richtung von Al-quds nach Makkah.

 

Notes:

  1. as-sabab ist das, dessen Anwesenheit das von ihm abhängige Scharii’ah-Gebot nach sich zieht, während seine Abwesenheit dieses Scharii’ah-Gebot annulliert.
  2. asch-schart ist das, dessen Abwesenheit das von ihm abhängige Scharii’ah-Gebot annulliert, während seine Anwesenheit an sich jedoch keinerlei Aus­wirkung auf die Anwesenheit oder auf die Annullierung dieses Scharii’ah-Gebots hat, und ist im Gegensatz zum rukn ركن kein Teil der zu erfolgenden Handlung.
  3. muqaddimatul-haraam ist alles, was zu einer Haraam-Handlung führt.