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Semantik des Quraan / al-lafdhul-muschtarak اللفظ المشترك: Das Polysem


A) Begriffsbestimmung von al-lafdhul-muschtarak

al-lafdhul-muschtarak besteht aus zwei Wörtern:
al-lafdh اللفظ bedeutet wörtlich “das ausgesprochene Wort” und
al-muschtarak المشترك bedeutet wörtlich “das Gemeinsame”.
al-lafdhul-muschtarak اللفظ المشترك bezeichnet linguistisch wörtlich “das ausgesprochene Wort, das mehrere Bedeutungen teilt”.
Fachspezifisch ist al-lafdhul-muschtarak ein sprachlicher Ausdruck, der über mehr als eine Bedeutung verfügt.

Auf Deutsch bezeichnet al-lafdhul-muschtarak “das Polysem 1“.

Beispiele:
al-‘ain العين bedeutet sowohl “das Auge” als auch “die Wasserquelle”, “der Spion”, “das Gold” und “das Silber”.

al-qur´ القرء bedeutet sowohl “al-haid الحيض : die Menstruation” als auch “attuhr الطهر: die Nicht-Menstruation, d. h. die Zeit zwischen zwei Menstruationen”.

B) Notwendigkeit von Polysemen

Tatsache ist, dass die Bedeutungen unendlich sind (z. B. stellen Zahlen unendliche Bedeutungen dar, da sie selbst unendlich sind), während die in der Sprache verwendeten Wörter endlich sind. Denn Wörter werden aus Buchstaben zusammengesetzt, die endlich sind (z. B. existieren im Arabischen nur 28 Buchstaben und im Deutschen nur 26 Grundbuchstaben). Wenn nun die unendlichen Bedeutungen auf die endlichen Wörter verteilt werden sollen, müssen sich logischerweise viele Bedeutungen ein Wort teilen. Deshalb kann es in der Realität dazu kommen, dass mehrere Bedeutungen sich ein Wort teilen. Diese Konstellation findet sich auch im Quraan (z. B. das Verb “‘as’asa
عسعس” bedeutet sowohl “kommen” als auch “gehen”; al-qurء, …).

C) Verwendung von Polysemen

Folgende Regeln müssen bei der Verwendung der Polyseme berücksichtigt werden:

  • Nach der Mehrheit der Gelehrten von Usuulul-fiqh (Al-dschumhuur) und in Übereinstimmung mit Imaam Asch-schaafi’iy darf man ein Polysem verwenden und gleichzeitig seine unterschiedlichen Bedeutungen beabsichtigen und meinen. Sie beziehen sich bei ihrem Urteil auf den Quraan, in dem viele Polyseme vorkamen und auf diese Art verwendet wurden.
    Beispiele:

إِنَّ ٱللَّهَ وَمَلَٰٓئِكَتَهُۥ يُصَلُّونَ عَلَى ٱلنَّبِيِّۚ يَٰٓأَيُّهَا ٱلَّذِينَ ءَامَنُواْ صَلُّواْ عَلَيۡهِ وَسَلِّمُواْ تَسۡلِيمًا ٥٦

in-nal-laaha wamalaa-ikatahu yusal-luuna عalan-nabiy-yi yaa aiyuhal-ladhiina aamanu sal-lu عalaihi wasal-limu tasliima

Allaah gewährt dem Propheten Gnade und die Engel erbitten sie für ihn! Ihr, die den Iimaan verinnerlicht habt! Betet für ihn um Gnade 2 und grüßt (ihn mit) dem Friedensgruß! 3

assalaah الصلاة bedeutet im Arabischen im wörtlichen Sinne “ad-du’aa´ الدعاء: das Bittgebet” und das Verb “yusal-li” hat die ursprünglich wörtliche Bedeutung “man spricht Bittgebete”.
Im Quraan werden im Allgemeinen assalaah mit der Bedeutung “das rituelle Gebet” und das Verb yusal-li mit der Bedeutung “man verrichtet das rituelle Gebet” verwendet. Doch yusal-li im Zusammenhang mit Allaah (ta’aala) bedeutet “Gnade und Vergebung gewähren”, während es bezogen auf die Geschöpfe die Bedeutung “um Gnade und Vergebung bitten” hat. Man stellt fest, dass in der oben zitierten Aayah das gleiche Verb “yusal-li” in der Präsensform verbunden mit Allaah (ta’aala) und mit den Engeln und in der Imperativform bezogen auf den Gesandten Allaahs Muhammad (sallal-laahu ‘alaihi wa sallam) verwendet wurde. So gewährt Allaah (ta’aala) dem Gesandten Gnade, die Engel bitten für ihn von Allaah (ta’aala) um Gnade und die Muslime sprechen für ihn, wenn sein Name erwähnt wird, ein bestimmtes Bittgebet und bitten für ihn von Allaah (ta’aala) Gnade und Frieden. Man sagt dabei: “al-laahumma sal-li wa sal-lim ‘ala muhammadاللهم صل وسلم على محمد : Allaah! Gewähre Muhammad Deine Gnade und Deinen Frieden!” 4

أَلَمۡ تَرَ أَنَّ ٱللَّهَ يَسۡجُدُۤ لَهُۥۤ مَن فِي ٱلسَّمَٰوَٰتِ وَمَن فِي ٱلۡأَرۡضِ وَٱلشَّمۡسُ وَٱلۡقَمَرُ وَٱلنُّجُومُ وَٱلۡجِبَالُ وَٱلشَّجَرُ وَٱلدَّوَآبُّ وَكَثِيرٞ مِّنَ ٱلنَّاسِۖ وَكَثِيرٌ حَقَّ عَلَيۡهِ ٱلۡعَذَابُۗ وَمَن يُهِنِ ٱللَّهُ فَمَا لَهُۥ مِن مُّكۡرِمٍۚ إِنَّ ٱللَّهَ يَفۡعَلُ مَا يَشَآءُ۩ ١٨

Hast du etwa nicht wahrgenommen, dass Allaah (Derjenige ist), vor Dem sich alle demütig ergeben, die in den Himmeln und auf Erden sind, sowie die Sonne, der Mond, die Sterne, die Felsenberge, die Bäume und die Tiere, und viele der Menschen, (die sich auch im Gebet für Ihn niederwerfen)?(!) Doch viele (andere) verdienen die Peinigung. Wen Allaah erniedrigt, für den findest du keinen Würdigenden. Allaah macht sicher, was Er will! 5

Das Wort sudschuud سجود bedeutet wörtlich “die Verbeugung”. Im metaphorischen Sinne bedeutet es “die demütige Ergebenheit”. Diese letzte Bedeutung gilt für alle Geschöpfe ohne Ausnahme, wobei diese Ergebenheit entweder freiwillig oder unfreiwillig erfolgt. Doch für den Menschen bedeutet sudschuud noch zusätzlich “die bekannte Niederwerfung im rituellen Gebet”.
Bei der Interpretation dieser Aayah muss das Verb “sadschadaسجد : sich niederwerfen” je nach Bezug dementsprechend erläutert und verstanden werden.

وَمَكَرُواْ وَمَكَرَ ٱللَّهُۖ وَٱللَّهُ خَيۡرُ ٱلۡمَٰكِرِينَ ٥٤

wamakaru wamakaral-laahu wal-laahu chairul-maakiriin

Sie (die Leugner) haben intrigiert und Allaah entgegnete ihren Intrigen und Allaah ist Der Beste der Intrigen entgegnet. 6

In dieser Aayah wird das Verb “makara” verwendet. In seinem Buch mufradaatu alfaadhil-quraan مفردات ألفاظ القرآن hat der Gelehrte Ar-raaghib Al-asfahaaniy die Bedeutung dieses Verb als “صرف الغير عما يقصده بحيلة, Abbringen einer Person von ihrem Ziel durch einen Trick bzw. Kniff” wiedergegeben. Er wies darauf hin, dass dieses Abbringen eingeteilt wird: in eine positive Bedeutung, wenn damit Positives bezweckt wird, und in eine negative Bedeutung, wenn damit Negatives beabsichtigt wird. 7
So ist die Bedeutung dieses Verbs im Zusammenhang mit den bewussten Leugnern (kaafiruun) eine Negative, während sie im Zusammenhang mit Allaah (ta’aala) selbstverständlich nur positiv sein kann. So schmieden die Leugner Ränke (negativ), um den Muslimen zu schaden und vom Wege Allaahs abzubringen; und indem Allaah (ta’aala) diese Ränke scheitern lässt, bringt Er sie damit ebenfalls von ihrem Ziel ab. Deshalb bedeutet makara im Zusammenhang mit den Leugnern “intrigieren bzw. Ränke oder List schmieden” und im Zusammenhang mit Allaah (ta’aala) “die Entgegnung ihrer Intrigen bzw. Ränke und Listen”.

  • Wenn Indizien im Text oder im Kontext dafür sprechen, dass mit dem Polysem nur eine seiner möglichen Bedeutungen beabsichtigt und gemeint ist, dann wird dieses Polysem nach dieser einen Bedeutung verstanden, ansonsten muss es sicherheitshalber mit allen seinen möglichen Bedeutungen belegt werden, da man über keinerlei Belege verfügt, die dazu veranlassen, eine aus diesen unterschiedlichen Bedeutungen zu präferieren.
    Beispiele:

ٱلَّذِينَ يَظُنُّونَ أَنَّهُم مُّلَٰقُواْ رَبِّهِمۡ وَأَنَّهُمۡ إِلَيۡهِ رَٰجِعُونَ ٤٦

al-ladhiina yadhun-nuuna an-nahum mulaaqu rab-bihim wa annahum ilaihi raadschiعuun

die sich sicher sind, dass sie ihrem Herrn begegnen und zu Ihm zurückkehren werden. 8

Bei dieser Aayah handelt es sich um das Verb “yadhun-nuun يظنون“. Dieses Verb ist ein Polysem und bedeutet sowohl yaschukkuun يشكّون (glauben bzw. etwas anzweifeln bzw. meinen bzw. denken) als auch yuqinuun يوقنون (sich sicher bzw. gewiss sein).
Da in dieser Aayah und in ihrem Kontext die Rede von den iimaan-bekennenden Muslimen ist, die an der Wiederauferweckung nach dem Tod und an den Jüngsten Tag und seine Geschehnisse keinerlei Zweifel haben (Indiz), darf unter diesem Verb in dieser Aayah nur die eine einzige Bedeutung “sich sicher bzw. gewiss sein” verstanden und wiedergegeben werden. 9

فِيهِ ءَايَٰتُۢ بَيِّنَٰتٞ مَّقَامُ إِبۡرَٰهِيمَۖ وَمَن دَخَلَهُۥ كَانَ ءَامِنٗاۗ وَلِلَّهِ عَلَى ٱلنَّاسِ حِجُّ ٱلۡبَيۡتِ مَنِ ٱسۡتَطَاعَ إِلَيۡهِ سَبِيلٗاۚ وَمَن كَفَرَ فَإِنَّ ٱللَّهَ غَنِيٌّ عَنِ ٱلۡعَٰلَمِينَ ٩٧

In ihm sind deutliche Zeichen 10, (davon) Maqaamu-ibraahiim. Wer es betritt, ist in Sicherheit. Den Menschen ist es Allaah gegenüber auferlegt, zum Haus zu pilgern – wer von ihnen dazu die Möglichkeit findet. Wer leugnet, so ist Allaah gewiss autark den Geschöpfen gegenüber. 11

Nach dieser Aayah ist die Haddsch-Pilgerfahrt für diejenigen, die dazu im Stande sind, verpflichtend: “walil-laahi
ع
alan-naasi hidsch-dschul-baiti manis-tataaعa ilaihi sabiilan
: Den Menschen ist es Allaah gegenüber auferlegt, zum Haus zu pilgern – wer von ihnen dazu die Möglichkeit findet.”
Das Vermögen zur Haddsch-Pilgerfahrt (istitaa’ah استطاعة) ist ein Polysem und umfasst sowohl “das Vermögen, selbst zu pilgern”, als auch “das Vermögen, die Pilgerfahrt bei unheilbarer verhindernder Krankheit durch einen Stellvertreter für sich absolvieren zu lassen”. So muss jede muslimische Person einen Stellvertreter bzw. eine Stellvertreterin mit der Durchführung der Haddsch-Pilgerfahrt beauftragen, wenn sie wegen unheilbarer verhindernder Krankheit diese nicht selbst voll-ziehen kann, aber finanziell dazu im Stande ist.

Notes:

  1. Das Wort Polysem besteht aus dem griechischen poly (viel) und semantos (bezeichnend). Das Polysem ist ein Spezialfall eines Homonyms. Zum Beispiel „Bank“ ist ein Homonym (Bank als Sitzmöbel und als Geldinstitut). Die Bank als Geldinstitut ist z. B. bei Hausbank und Spielbank ein Polysem. Polyseme entstehen durch unterschiedliche Verwendung bestimmter Wörter in ver-schiedenen Kontexten und Fach­sprachen.
  2. Also sagt: al-laahumma sal-li wa sal-lim ’ala muhammad: Allaah! Gewähre Muhammad Deine Gnade und Deinen Frieden.
  3. Quraan (33:56)
  4. In den meisten Übersetzungen der Bedeutungen des Quraan berücksichtigen die Übersetzer diesen Aspekt nicht und verwenden das Verb „yusal-li“ unabhängig vom Bezug in der gleichen Bedeutung:

    Bubenheim: „Gewiß, Allah und Seine Engel sprechen den Segen über den Propheten. O die ihr glaubt, sprecht den Segen über ihn und grüßt ihn mit gehörigem Gruß.“

    Max Henning (Ditib-Ausgabe): „Siehe, Allah und seine Engel segnen den Propheten. O ihr, die ihr glaubt, segnet ihn und begrüßt ihn mit dem Friedensgruß.“

    Max Henning (Hofmann-Ausgabe): „Siehe, Allah und seine Engel segnen den Propheten. O ihr, die ihr glaubt! Sprecht den Segenswunsch für ihn und begrüßt ihn mit dem Friedensgruß.“

    Ahmad v. Denffer:Allah und seine Engel segnen ja den Propheten, ihr, die glauben, segnet ihn und gebt ihm den Friedensgruß als Begrüßung.“

    Rudi Paret (iranische Ausgabe):Gott und seine Engel sprechen den Segen über den Pro­pheten. Ihr Gläubigen! Sprecht (auch ihr) den Segen über ihn und grüßt (ihn), wie es sich gehört!“

  5. Quraan (22:18)
  6. Quraan (3:54)
  7. In fast allen Übersetzungen der Bedeutungen des Quraan wird dieser wichtige Aspekt nicht berücksichtigt. Das Verb „makara“ wird unabhängig vom Bezug immer wieder in der gleichen Bedeutung verwendet:

    Bubenheim: „Und sie schmiedeten Ränke, und (auch) Allah schmiedete Ränke; und Allah ist der beste Ränkeschmied.“

    Max Henning (Ditib-Ausgabe): „Und sie schmiedeten Listen, und Allah schmiedete Listen; und Allah ist der beste Listenschmied.“

    Max Henning (Hofmann-Ausgabe): „Und sie schmiedeten Pläne, und Allah schmiedete Pläne; und Allah ist der beste Planer.“

    Ahmad v. Denffer: „Und sie haben etwas im Schilde geführt, und Allah hat etwas im Schilde geführt, und Allah ist der am besten etwas im Schilde führt.“

    Rudi Paret (iranische Ausgabe): „Und sie schmiedeten Ränke. Aber (auch) Allah schmiedete Ränke. Er kann es am besten.“

    Rassoul: „Und sie schmiedeten eine List, und Allah schmiedete eine List; und Allah ist der beste Listenschmied.“

    (Bemerkung: All diese Übersetzungen zeugen von einer besonderen Grobheit beim Sprechen von Allaah (ta’aala) und verletzen gleichzeitig die Sprachregeln der arabischen Sprache sowie die Grundsätze von Al-’aqiidah).

  8. Quraan (2:46)
  9. In den meisten Übersetzungen der Bedeutungen des Quraan berücksichtigen die Übersetzer diesen Aspekt jedoch nicht und verwenden das Verb „yadhun-nuun يظنون“ in der Bedeutung von meinen, ahnen bzw. glauben:

    Bubenheim:die daran glauben, daß sie ihrem Herrn begegnen werden, und daß sie zu Ihm zurückkehren.“

    Max Henning (Ditib- und Hofmann-Ausgabe):Die da glauben, daß sie Ihrem Herrn begegnen werden, und daß sie zu Ihm heimkehren.“

    Ahmad v. Denffer:Die meinen, daß sie ihrem Herrn begegnen, und daß sie zu Ihm zurück­kehren.“

    Rassoul:welche es ahnen, daß sie ihrem Herrn begegnen und daß sie zu Ihm heimkehren werden.“

  10. Ursprünglich: „aayaat“. Aayaat sind Plural von Aayah.
  11. Quraan (3:97)