.
.

.

Begriffsbestimmung, Entstehung und Entwicklungvon Usuulul-fiqh


Begriffsbestimmung von usuulul-fiqh أصول الفقه

usuulul-fiqh ist die Bezeichnung einer spezifischen Wissenschaft, wobei dieser Name eine Wortkombination aus den beiden Begriffen usuul und fiqh darstellt.
Beide Begriffe usuul und fiqh verfügen sowohl über linguistische Bedeutungen als auch über fachspezifische Definitionen, welche in Kombination den Begriff usuulul-fiqh prägen. Deshalb werden diese beiden Begriffe zunächst erläutert.

Linguistische Bedeutung von usuulul-fiqh

Linguistische Bedeutung von usuul أصول

usuul ist Plural von asl أصل, wobei asl linguistisch zwei Bedeutungen hat:

al-asl ist das, worüber etwas anderes aufgebaut wird, d. h. das Fundament bzw. die Basis (die Fiqh-Wissenschaft baut sich auf usuulul-fiqh).
al-asl ist der Ursprung einer Sache.

Linguistische Bedeutung von al-fiqh الفقه

al-fiqh ist al-fahm الفَهْمُ und bedeutet “das Begreifen bzw. Verstehen”, unabhängig davon wie tief oder oberflächlich, wie schnell oder langsam man etwas versteht.

قَالُواْ يَٰشُعَيۡبُ مَا نَفۡقَهُ كَثِيرٗا مِّمَّا تَقُولُ

qaalu yaa schuعaibu ma nafqahu kathiiran mim-ma taquulu

Sie sagten: “Schu’aib! Wir begreifen nicht viel von dem, was du sagst.” 1

Derjenige, der sich mit Fiqh beschäftigt, heißt faqiih فَقِيه. Das deverbale Nomen Agentis faqiih lässt sich aus dem Verb faquha 2 فَقُهَ formen. Dagegen ist das deverbale Nomen Agentis aus den Verben faqiha فَقِهَ (verstehen) und faqaha فَقَهَ (schnell und als Erster verstehen) faaqih فَاقِه.
Aus den linguistischen Bedeutungen beider Teilbegriffe wird ersichtlich, dass usuulul-fiqh sprachlich folgende Bedeutung hat: “die Fundamente, auf die das angestrebte Verständnis der Quellen aufgebaut wird”.

Fachspezifische Definition von usuulul-fiqh

Fachspezifische Definition von al-asl

al-asl hat fachspezifisch vier verschiedene Definitionen:

– al-asl in der Bedeutung von ad-daliil الدليل
ad-daliil bedeutet linguistisch “etwas, das zum Erstrebten führt; der Beleg bzw. der Beweis.
Man sagt z. B.: “al-asl von dieser Angelegenheit ist der Quraan bzw. die Sunnah”, d. h. “al-adillah الأدلة: die Belege” dieser Angelegenheit sind aus dem Quraan bzw. aus der Sunnah.
Diese Definition ist die gängige Bedeutung in usuulul-fiqh.

– al-asl in der Bedeutung von ar-rudschhaan الرُجْحان
ar-rudschhaan bedeutet linguistisch “das Überwiegende und das Wahrscheinlichere”.
Man sagt z. B.: “al-asl beim Verständnis der Wörter ist ihre Bedeutung im ursprünglich wörtlichen Sinne (haqiiqah)”, d. h. das Erste, was bei den Wörtern spontan in den Sinn kommt, ist ihre Bedeutung im ursprünglich wörtlichen und nicht im metaphorischen Sinne, obwohl die Bedeutung im metaphorischen Sinne (madschaaz) nicht von vornherein ausgeschlossen wird.

– al-asl in der Bedeutung von al-qaa’idatul-mustamirrah القاعدة المستمرة
al-qaa’idatul-mustamirrah bedeutet linguistisch “die Regel bzw. die beständige Norm”.
Man sagt z. B.: “Die Erklärung des Fleisches eines verendeten Tieres für erlaubt (mubaah) für die in Not geratene muslimische Person erfolgt abweichend von al-asl, d. h. abweichend von der Scharii’ah-Regel, die festlegt, dass der Verzehr dieses Fleisches im Normalfall verboten (haraam) ist.

– al-asl in der Bedeutung von assuuratul-maqisu ‘alaiha الصورة المقيس عليها
assuuratul-maqisu ‘alaiha ist “das, mit dem verglichen wird” bzw. das, was bei al-qiyaas als Ausgangsthese und als Vergleichsgrundlage dient”.
Man sagt z. B.: “al-asl ist, dass alles, was berauschend macht, verboten (haraam) ist”.

Fachspezifische Definition von al-fiqh

الفَقِهُ هُوَ العِلْمُ بِالأحْكَامِ الشَّرْعِيَةِ العَمَلِيَةِ، المُكْتَسَبُ مِنْ أدِلَّتِهَا التَّفْصِيلِيَةِ.

al-fiq-hu huwal-‘ilmu bil-ahkaamisch-schar’iy-yatil-‘amaliy-yati, al-muktasabu min adil-latihat-tafsiiliy-yah.

al-fiqh ist das Wissen über die praxisbezogenen scharii’ah-gemäßen Gebote, das aus ihren spezifischen Belegen abgeleitet wird. 3

Aus der Definition ist ersichtlich, dass die Fiqh-Wissenschaft sich mit zwei Teilgebieten beschäftigt:

– Sie beschäftigt sich ausschließlich mit den islamischen Normen und Geboten praxisbezogenen Inhaltes (Muss-, Soll-, Kann-, Soll-Nicht- und Darf-Nicht-Handlungen). Damit gehören die Iimaan-, Tauhiid– und ‘Aqiidah-Inhalte nicht zum Forschungsgegenstand dieser Wissenschaft;

– und mit den Aayaat, Hadiithen und anderen Einzelbelegen, aus denen und mit deren Hilfe die jeweiligen Normen und Gebote praxisbezogenen Inhaltes abgeleitet und belegt werden.

Beispiel:

Aus den Aayaat (2:278-279)

يَٰٓأَيُّهَا ٱلَّذِينَ ءَامَنُواْ ٱتَّقُواْ ٱللَّهَ وَذَرُواْ مَا بَقِيَ مِنَ ٱلرِّبَوٰٓاْ إِن كُنتُم مُّؤۡمِنِينَ ٢٧٨ فَإِن لَّمۡ تَفۡعَلُواْ فَأۡذَنُواْ بِحَرۡبٖ مِّنَ ٱللَّهِ وَرَسُولِهِۦۖ وَإِن تُبۡتُمۡ فَلَكُمۡ رُءُوسُ أَمۡوَٰلِكُمۡ لَا تَظۡلِمُونَ وَلَا تُظۡلَمُونَ ٢٧٩

Ihr, die den Iimaan bekundet habt! Erweist euch ehrfürchtig Allaah gegenüber und verzichtet auf das Ausstehende an verbotenen Zinsen 4, solltet ihr Iimaan-Bekennende sein. (279) Solltet ihr dies nicht tun, dann wisst Bescheid über einen Krieg von Allaah und Seinem Gesandten! Wenn ihr bereut, so gehören euch nur eure Ausgangskapitale; ihr begeht kein Unrecht und euch wird kein Unrecht angetan.

leiten die Fiqh-Gelehrten ab, dass jeder Aufschlag (unabhängig von der Höhe), den man bei der Rückzahlung von Darlehen oder Krediten vereinbart, riba ist, und damit eine verbotene Handlung (haraam) darstellt, die schwer bestraft wird.

Aus der Definition ist ebenfalls ersichtlich, dass die gängige Übersetzung des Begriffs Fiqh im deutschen Kulturkreis mit “islamisches Recht bzw. Gesetz” eindeutig falsch ist.
Bei der Fiqh-Wissenschaft geht es in erster Linie um das Ergebnis einer wissenschaftlichen Analyse der Quraan- und Sunnah-Texte praxisbezogenen Inhaltes. Diese Ergebnisse stellen die Scharii’ah-Gebote dar, wobei die Mehrheit dieser Gebote sich mit arkaanul-islaam – insbesondere mit dem rituellen Gebet, dem rituellen Fasten, der Zakaah und den Pilgerfahrten – und deren Modalitäten und mit anderen individuellen Geboten wie Ernährungs- und Bekleidungsgeboten und Personenstandsangelegenheiten beschäftigt, also mit nicht bzw. nicht unbedingt rechtlich bzw. gesetzlich zu verordnenden Normen.

Fachspezifische Definition von usuulul-fiqh:

Da die Fiqh-Wissenschaft sich auf usuulul-fiqh aufbaut, haben manche Gelehrte die Wissenschaft von usuulul-fiqh fachspezifisch definiert als

– “die Belege (aayaat, hadiithe, idschmaa’, qiyaas usw.), auf denen der Fiqh aufgebaut wird, sowie solche, mit deren Hilfe die Belege im Allgemeinen erkannt werden” 5; bzw. als

– “das Begreifen der Regeln, mit deren Hilfe man die Fiqh-Gebote ableitet” 6; bzw. als

– “das Wissen über die Regeln, mit deren Hilfe man die Scharii’ah-Gebote praxisbezogenen Inhaltes aus deren spezifischen Belegen ableitet.” 7

Die gängige umfassendeste Definition der Wissenschaft von usuulul-fiqh stammt vom Imaam Al-baidaawiy البيضاوي (gest. 685/1286) und lautet:

معرفة دلائل الفقه إجمالاُ، وكيفية الإستفادة منها، وحال المستفيد.

ma’rifatu dalaailil-fiqhi idschmaalann, wa kaifiyyatil-istifaadati min-ha, wa haalil-mustafiid.

usuulul-fiqh ist die Wissensaneignung über die Belegquellen von Fiqh, über das Wie ihrer Anwendung und über den Status ihrer Anwender.

Erläuterung der Definition:

  • “Wissensaneignung” als Übersetzung für den Begriff “ma’rifah معرفة
    Das Verb ‘arafa عَرَفَ, von dem der Begriff ma’rifah abgeleitet wird, wirkt auf ein einziges Objekt (man sagt z. B.:عرفت زيداً ‘araftu zaidann ich kannte Zaid), während das Verb ‘alima علم, von dem der Begriff al-‘ilm العلم abgeleitet wird, auf zwei Objekte wirkt (man sagt z. B.:علمت زيداً عدلاً ‘alimtu zaidann ‘adlann: ich kannte Zaid als einen Vertrauenswürdigen). Die Logiker nennen die Wahrnehmung von einzelnen Objekten “tasauwur تصور” und von einer Relation zwischen zwei einzelnen Objekten “tasdiiq تصديق“. So sind die Wahrnehmungen ausschließlich entweder ma’rifah oder ‘ilm bzw. entweder tasauwur oder tasdiiq.
  • Man erkennt zwei Unterschiede zwischen al-‘ilm und al-ma’rifah:
    al-‘ilm bezieht sich auf Relationen zwischen zwei Einzelheiten, während al-ma’rifah sich nur auf eine Einzelheit bezieht.
    al-‘ilm setzt im Gegensatz zu al-ma’rifah nicht zwangsläufig Unwissen voraus. Deshalb wird Allaah (ta’aala) nicht als ‘aarif عارف sondern als ‘aalim عالم bezeichnet.
  •  “die Belegquellen von Fiqh” als Übersetzung von “dalaailul-fiqh idschmaalann
    dalaail دلائل ist Plural von daliil دليل. Linguistisch bedeutet daliil “etwas, das zu etwas anderem hinführt”. Fachspezifisch ist daliil “etwas, mit dem man durch Nachdenken zu einer Schlussfolgerung bzw. zu einem Urteil gelangt”.
    dalaailul-fiqh idschmaalann schließt alle Belegquellen von Fiqh ein, seien sie unumstritten oder nicht, ohne dass man sich mit den detaillierten Scharii’ah-Geboten beschäftigt. dalaailul-fiqh umfassen ausschließlich und uneingeschränkt alle Belegquellen von Fiqh wie den Quraan, die Sunnah, al-idschmaa’, al-qiyaas, die Regeln der arabischen Semantik, etc.
    “die Wissensaneignung über die Belegquellen von Fiqh” bedeutet, dass man weiß, dass z. B. der Quraan, die Sunnah, der idschmaa’, der qiyaas usw. als Belegquellen für den Fiqh dienen, und dass z. B. “der Imperativ bzw. die Befehlsform (al-amr) im Arabischen ohne Indizien eine Muss-Handlung (waadschibواجب ) nach sich zieht”
  • “(die Wissensaneignung) über das Wie ihrer Anwendung”
    Dies bedeutet, dass der Usuul-Gelehrte sich das Wissen über die Möglichkeiten der Präferierung von Belegquellen, wenn diese sich gegenseitig widersprechen, aneignet, wie z. B. das Wissen darüber, dass die Mutawaatir-Tradierungen vor den Aahaad-Überlieferungen zu berücksichtigen sind.
  • “(die Wissensaneignung) über den Status ihrer Anwender”
    Der Anwender ist entweder ein mudschtahid-Gelehrter, der qualifiziert und in der Lage ist, die Scharii’ah-Gebote aus den Belegquellen selbständig abzuleiten, oder ein Muslim, der die Scharii’ah-Gebote aus den Belegquellen nicht selbständig ableiten kann und deshalb einem bzw. einer mudschtahid-Gelehrten nachahmt, d. h. er ist muqallid.

Aus der fachspezifischen Definition von usuulul-fiqh wird ersichtlich, dass die Themen von usuulul-fiqh in vier Kategorien einzuteilen sind:

– Die Belegquellen, über die Konsens herrscht, wie der Quraan und die Sunnah.

– Die Belegquellen, über die kein Konsens herrscht, wie al-istihsaan, al-istiqraa’, ‘amalu ahlil-madiinah, etc.

– Das Wie in Bezug auf die Anwendung der Belegquellen.

– Die Eigenschaften des Fatwa-Erteilenden (mudschtahid) und die des Fatwa-Erfragenden (muqallid).

 

Notes:

  1. Quraan (11:91)
  2. Fiqh als Eigenschaft verinner­lichen.
  3. Siehe z. B. Imaam Az-zarkaschiy, Muhammad Bnu-‘abdil-laah Bnu-bahaadir: „al-bahrul-muhiit“; Daarul-kutub; und At-taftaazaaniy, Sa’dud-diin: „scharhut-talwiihi ‘alat-taudihi li-matnit-tanqiih
  4. Ursprünglich: „riba“.
  5. Siehe al-lum-ma’ von Imaam Asch-schiiraaziy (gest. 476/1083).
  6. Siehe at-tahriir von Ibnul-humaam (790/1388 – 861/1457).
  7. Siehe ’ilmu usuulil-fiqh von dem Gelehrten ’Abdulwahaab Challaaf.